Fern von hier
Eigentlich wollte ich darüber keine Worte verlieren. Eigentlich. Ich dachte lange Zeit, ich könnte es nicht einmal mir selbst sagen. Ich habe festgestellt, dass ich manchmal einen Knoten im Hals habe, der verhindert, dass bestimmte Wörter meinen Mund verlassen. Es ist tatsächlich so: ich bringe bestimmte Dinge ganz einfach nicht heraus, kann sie nicht aussprechen, so als würden sie sich mit Gewalt irgendwo in meinem Rachen festklammern, und nichts in der Welt könnte sie dazu bringen, loszulassen. So war das schon immer, und man sagt, dass Sprachlosigkeit ein Anzeichen für gewisse geistige Störungen sein soll.
Und was soll ich sagen, was kann ich sagen, oder besser – was kann ich tun. Ich weiß es nicht. Nach all den Jahren weiß ich es immer noch nicht, und da ist niemand, den ich fragen kann.
Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich nicht, ob es eine kluge Idee ist, dies hier zu erzählen, weil es bestimmte Leute auf bestimmte Gedanken bringen wird, oder weil bestimmte Leute bestimmte Verbindungen herstellen können die dann zur Erkenntnis führen. Will ich das? Soll jemand etwas in mir erkennen, das mir selbst unbekannt ist?
Vielleicht könnte ich damit leben, vielleicht. Aber ich habe Angst, und ich weiß es nicht. Ich weiß nichts.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das alles begonnen hat. Ich weiß aber einen Stichtag, der mein Leben verändert hat, wie kein anderer. Als mein Vater starb, war ich gerade sechs Jahre alt. Ich kam gerade aus der Schule zurück – etwas ganz Neues für mich, damals – und eine meiner Tanten teilte mir auf eine ungeschickte, unglückliche Weise mit, dass er tot sei.
Verstanden habe ich es nicht. Auch nicht, als ich meine Mutter gefragt habe. Verstanden habe ich es erst, als ich den Sarg sah, und wie sie ihn in die Erde – in das Grab hinuntergelassen haben. In diesem Augenblick erst habe ich es verstanden – und ich habe alles verstanden, begriffen, dass ich ihn nie mehr sehen würde, begriffen, was es heißt, tot zu sein. Vielleicht – denke ich jetzt – war dieser Schock doch prägender, als ich all die letzten Jahre über vermutet habe. Kann man damit leben? Als Sechsjähriger?
Danach wurde alles irgendwie schief, verzogen, unrichtig. Meine Mutter sagte mir einmal, dass ich erst nach seinem Tod so viel Gewicht zunahm, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich kann mich daran nicht erinnern. Sicher weiß ich nur, dass dies die Wurzel meines heutigen Übels ist.
Ich spreche von der Unfähigkeit. Kontaktdefekt. Zurückweisung. Schneckenhaus. Pathologischer Zustand. Starre. Es ist immer noch so schwer zu beschreiben.
Heute arbeite ich in einem innovativen Softwareunternehmen als technischer und kaufmännischer Assistent. Buchhaltung, EDV-Helpdesk für die Assistentin der Geschäftsführung, Kalibrierung von Kameras, Telefonie, Organisation, blablabla. Ich mache das nicht so schlecht. Und was ich besonders gut mache, ist das Theater. Ich spiele jeden Tag Theater. Der junge Mann, der zur Arbeit geht, ist nicht der selbe, der nachts in meinem Bett liegt, ist nicht der selbe, der dies hier schreibt. Ich fühle mich so gespalten.
Ich spüre, wie meine Finger kribbeln und zittern, während ich dies hier schreibe. Ich fühle wieder diese Lava in meinem Bauch und die Schmerzen im Kopf, und in der Seele. Ich bin müde, es ist fast Mitternacht, aber ich muss, ich will endlich etwas sagen, ich muss sonst platzen. Ich dresche immer fester auf die Tasten meines Keyboards. Nimm dich zusammen, sage ich mir, aber ich weiß, dass der Hass und die Wut so in mir sitzen, dass sie hinaus muss, immer wieder.
Und alles was ich habe, um etwas dagegen zu tun, ist das leere weiße Blatt Papier – oder das leere Dokument der Textverarbeitung.
Ich möchte endlich, dass etwas passiert, mich verlangt es nach einer Änderung, aber ich weiß, dass ich es nicht kann, dass ich alleine nicht in der Lage bin, etwas zu tun, oder etwas zu ändern, und niemand ist da, der mir hilft.
Ich glaube sogar schon, dass die Figuren meiner Geschichten real werden könnten, mich besuchen könnten, mich mitnehmen könnten, egal wohin. Es ist überall anders besser, scheint mir oft.
Und immer diese Lava im Bauch, die mich schlecht macht.
Und dann möchte ich weinen, wie jetzt auch, weil ich weiß, wie schlimm es ist, wie bedenklich es mir geht, weil ich schon zu alt bin, um mich selbst in dieser Art und Weise zu bemitleiden, weil man von mir erwarten können sollte, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehme, dass ich mich selbst gestalte und verwirkliche. Und ich weiß, dass mir dazu etwas fehlt. Ich bin halb – unvollständig.
Wo ist jemand, der mich ganz macht? Heil macht?
Und ich warte, und stehe am Fenster, blicke hinaus in die Nacht, die ich liebe, und weiß, da draußen sind Menschen, die wissen, was sie tun, die wissen, für und mit wem sie etwas tun, und ich weiß: hier drinnen bin nur ich.
Nur ich.
Niemand sonst.
Weder früher, noch jemals.
Dieses Wissen ist absolut. Es erdrückt mich. Ich weiß nicht, wie lange ich noch kann, bevor ich
ich weine, und denke: ich will doch nur nach Hause.
Zu Hause ist, wo dein Herz ist.
Fern von hier, unerreichbar und –