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Feuer in den Augen
Marcel blickte von seinem Steak Tartar auf. Er saß in einem entzückenden kleinen Restaurant. Der Raum wurde sanft von versteckten Strahlern erleuchtet. An den Wänden hingen Reproduktionen vom Salvatore Dalí, Pablo Picasso und Meret Oppenheim. Zwischen den eng stehenden Tischen eilten Kellner in Fracks mit erstaunlicher Geschicklichkeit umher und kamen dabei fast jedem Wunsch nach. Edle Tischdecken und bequem gepolsterte Stühle rundeten das Bild ab. Und natürlich sein Gegenüber.
Sie war eine 25-jährige Schönheit. Sanft fallende, rote Haare, ein blasser Teint und lange Beine, die einen Mann um den Verstand bringen konnten. Diese wurden in diesem Moment nur sehr unzulänglich von einem kurzen schwarzen Kleid verhüllt. Marcel kam nicht umhin, sie immer wieder anzustarren.
Du bist doch ein Idiot, sagte die gut meinende Stimme in seinem Kopf. Wenn sie merkt, wie rallig du bist, kommst du bei ihr nicht weiter.
Doch Marcel konnte auf diesen Rat nicht hören. Sie trafen sich heute zum dritten Mal und sie verzauberte ihn immer mehr. In seinen 28 Lebensjahren hatte er nie eine schönere Frau gesehen. Ihre Haare, die im Licht der Kerze wie ein Sonnenaufgang leuchteten, ihr Körper, der eine heiße Nacht versprach und das Feuer in ihren Augen, das so verführerisch brannte.
Moment! Was war das? Das Feuer in ihren Augen? Scheiße!
Marcel sprang auf, griff sein volles Glas Evian und kippte es seinem Rendezvous mitten ins Gesicht. Zischend verlöschten die Flammen und weißer Dampf stieg von ihren Augen auf.
Sie blinzelte. Ihre Augen sahen aus wie zuvor.
Überall im Restaurant drehten sich Gäste und Kellner nach ihnen um.
„Was war das denn“, keuchte Marcel.
„Ich glaube, ich muss Dir etwas erklären“, sagte Anascha. Sie wirkte, als wäre sie gerade erst wieder zu sich gekommen.
„Verdammt, was war das?“
„Setzt dich erstmal, die Leute gucken“, zischte sie.
Marcel ließ sich kraftlos zurück auf seinen Stuhl sinken. Anascha wischte sich mit einem Taschentuch das Wasser aus dem Gesicht.
„Ich habe dir doch schon von meiner Mutter erzählt?“
„Natürlich, Theresa.“
„Genau. Meinen Vater habe ich aber noch nicht erwähnt, oder?“
„Nein.“
„Ich denke, ich werde ihn dir am besten vorstellen. Lass uns zahlen.“
Anascha gab dem Ober ein Zeichen.
Nachdem Marcel hundert Euro in die schwarze Rechnungsmappe gelegt hatte, verließen sie das Restaurant.
Kühle Nachtluft umfing sie. Überall waren Nachtschwärmer (wie sie es auch waren) unterwegs, um diesem oder jenem Laster zu frönen. Selbst bei Nacht brummte die Stadt nur so vor Leben. In der Ferne hupte ein Auto.
„Hab ich dir schon erzählt, dass meine Mutter ein gefallener Engel war?“
„Ein gefallener Engel“, fragte Marcel. Der Abend wurde immer merkwürdiger und nahm eine Wendung, die Marcel überhaupt nicht gefiel. Eigentlich hatte er heute endlich durch Anaschas geheimste Geheimnisse pflügen wollen.
„Ja", sagte Anascha.
„Und was ist das? Ein gefallener Engel?“
„Ein Engel, der gefallen ist.“
„Ach, tatsächlich!“ Ungeduld schlich sich in Marcels Stimme.
„Engel können aus mehreren Gründen fallen“, sagte Anascha. Sie ignorierte seine Ungeduld.
„Wenn sie böse werden oder etwas Böses tun, zum Beispiel.“
„Und deine Mutter Theresa hat etwas Böses getan?“
Anascha schüttelte den Kopf.
„Nein, etwas Dummes.“ Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund.
„Komm“, sagte sie, nahm seine Hand und führte ihn vom Restaurant fort.
Marcel ließ es mit sich geschehen. Er war viel zu verwirrt. Wenn er ein Lamm gewesen wäre, hätte man ihn sehr einfach zur Schlachtbank führen können. Ein bisschen fühlte er sich sogar wie ein solches Lamm.
Sie erreichten sein elegantes französisches Coupé. Das Markenlogo, ein Löwe, schien sich gelangweilt im Kühlergrill zu rekeln.
„Gib mir die Schlüssel“, sagte Anascha. „Ich fahre.“
Marcel gehorchte und sie stiegen ein. Schnurrend erwachte der starke V6-Motor zum Leben. Viel Zeit blieb Marcel nicht, sich an diesem geliebten Geräusch zu erfreuen. Mit jaulendem Motor jagte das Coupé vom Parkplatz. Schnell griff Marcel nach seinem Sicherheitsgurt.
Anascha bog auf eine Hauptverkehrsader ein und beschleunigte weiter. Mit 160 Sachen schlängelte sie sich durch den fließenden Verkehr. Marcel konnte auf dem Beifahrersitz ein Quieken nicht unterdrücken.
„Da vorne steht ein Blitzerkasten! Pass auf“, schrie er.
„Ich weiß, dass ist einer der Zugänge.“
„Einer der Zugänge? Zu was, zum Teufel!“
„Genau“, sagte Anascha. „Dass du selbst darauf kommst, hätte ich nie erwartet.“
„Worauf?“ Marcel verstand die Welt nicht mehr.
Das Coupé raste über die Kontaktschleifen des Blitzers im Fahrbahnbelag
Wusch!
und plötzlich stand Marcel in einem hell erleuchtenden Krankenhauskorridor.
„Wir sind da“, sagte Anascha. Sie stand neben ihm, sein Coupé war verschwunden.
Marcel sah sich um und stellte fest, dass ihn sein erster Eindruck getäuscht hatte. Dies war gar kein Krankenhauskorridor.
Der Gang führte scheinbar endlos in die Ferne. Marcel konnte das Ende auch mit zusammengekniffenen Augen nicht erkennen. In regelmäßigen Abständen zweigten weißlackierte Türen ab. Es mussten tausende sein. Hinter jeder dieser Türen war das Schreien, Stöhnen oder Wimmern von leidenden Menschen zu hören.
„Komm“, sagte Anascha und führte ihn den langen geraden Korridor entlang.
„Der Weg ist ziemlich lang. Das musst du entschuldigen. Vaters Architekt ist nicht besonders gut. Er kann einfach nur gerade Gänge entwerfen.“
„Kein Problem“, sagte Marcel wie in Trance.
Wo zum Teufel sind wir?
Marcel blickte zu Boden. Engbeschriebene Kacheln bedeckten den Boden.
Im Vorbeigehen gelang es ihm, das Eine oder Andere zu lesen.
„Nächstes Jahr werde ich mit den Unterschlagungen aufhören, wirklich“, las er.
„Morgen, ja wirklich morgen, werde ich meine sterbende Mutter im Krankenhaus besuchen. Ich weiß, ich wollte dies schon die ganze Woche tun, aber morgen klappt es bestimmt“, versprach ein anderer Text.
„Das ist wirklich das letzte Mal, dass ich Geld aus Vatis Portemonnaie klaue, ehrlich“, stand auf einer weiteren Kachel.
„Was ist das hier“, fragte Marcel und deutete auf den Boden.
„Ach das“, sagte Anascha. „Das sind gute Vorsätze. Nicht weiter wichtig, glaub mir.“
Eine Weile wanderten sie durch den langen weißen Gang. Marcel wurde es schnell müde, die guten Vorsätze zu lesen. Auf die eine oder andere Art wiederholten sie sich ständig.
Endlich kam ein Ende des Korridors in Sicht. Ein großes Portal, im Stil einer gotischen Kathedrale füllte die gesamte Rückwand des Gangs aus. Ein Tor aus dunklem Holz verhinderte ein Weiterkommen.
„Ich sagte ja schon, dass Vaters Architekt nicht besonders gut ist“, sagte Anascha, als sie seinen zweifelnden Blick bemerkte.
Anascha klopfte auf das schwere alte Holz. Einen Moment passierte nichts, dann wurde eine Luke im Tor aufgerissen.
Ein gehörntes Wesen mit stierenden blauen Augen schaute hindurch. Rauch stieg aus seiner Nase. Seine Haut sah aus wie sich Marcel die Haut in der Kniefalte eines Elefanten vorstellte.
„Was wollt ihr“, blaffte es. Sein Blick fiel auf Anascha.
„Ani“, schrie das Ding hinter der Tür und schlug die Luke zu.
Marcel stand einfach nur blass da.
„Was war das de-en-enn?“ Fast hatte Marcel es geschafft nicht zu stottern, aber wirklich nur fast.
„Das war Beelzi.“ Hinter dem Tor wurden Riegel zurückgeschoben und Schlösser betätigt. Marcel hörte eine Kette rasseln und etwas zu Boden donnern. Als er sich gerade fragte, ob das denn niemals enden würde, schwang die Tür knarrend auf.
„Immer herein Ihr beiden. Willkommen im Vorzimmer der Hölle.“
„Im Vorzimmer der Hölle“, fragte Marcel verwirrt.
„Ja, aber du weißt ja, Vaters Architekt ist nicht besonders gut. Wir alle haben gesagt, ein Vorzimmer gehört vorne hin, aber nein.“ Anascha schüttelte den Kopf.
Beelzi führte sie in die dunkle Halle. Überall hingen Tropfsteine von der Decke. Sie waren so offensichtlich aus Pappmaché, dass Marcel sich ernsthaft fragte, in welcher Schmierenkomödie er hier gelandet war.
Denk daran, der Architekt ist nicht besonders gut, ermahnte er sich.
Aus dunklen Ecken erklangen knurrende Laute und leuchtende Augen folgten ihnen, als sie auf die Mitte des Raumes zugingen.
Dort stand ein riesiger Thron. Er war von ihnen abgewandt. An der Rückseite der Lehne waren goldene Verzierungen eingelassen, die Szenen aus dem Fegefeuer zeigten.
Marcel und Anascha wurden an einen Punkt hinter dem Thron geführt, der mit einem Kreidekreis auf den Boden markiert war.
Leise hörte Marcel eine Stimme sagen: „Jetzt stehen sie im Teufelskreis, und Action!“
Dunkle Musik schwebte durch den Raum und um den Thron herum schossen Flammen aus dem Boden. Langsam begann sich der Thron zu drehen. Durch das geschlossene Tor drang das panische Kreischen der verlorenen Seelen
Flackernde Lichter beleuchteten den, sich drehenden, Thron.
Plötzlich knackte irgendetwas und der Thron blieb ruckend stehen. Er hatte erst eine halbe Umdrehung geschafft.
„Was ist denn jetzt schon wieder los“, donnerte eine tiefe Stimme.
„Ich fürchte, Zerberus hat schlapp gemacht. Du weißt, er ist nicht mehr der Jüngste und der Thron ist sehr schwer“, kam eine Stimme aus dem Off.
„Jaja“, donnerte die tiefe Stimme.
Beklommen beobachtet Marcel, wie sich ein Schatten von der Sitzfläche des Thorns erhob.
Dann trat Anaschas Vater ins trübe Licht.
Eine riesige Gestalt stand vor ihnen. Bis auf einen Lendenschurz war sie nackt. Gigantische Muskeln zeichneten sich unter rauer, roter Haut ab. Hörner ragten aus beiden Seiten des Kopfes und ein langer Schwanz peitschte durch die Luft. Die Gestalt hatte riesige Tränensäcke unter den Augen hängen. Das vorstehende Kinn war zumindest eines Schumachers würdig und auf die Augenbrauen wäre sogar Mr. Spock neidisch gewesen.
Der Teufel musterte das Paar einen Moment lang.
„Ach, das hat doch keinen Zweck“, brummte er schließlich und holte eine Brille unter seinem Lendenschurz hervor. Mühsam quetschte er das viel zu kleine Gestell auf seine Nase.
Marcel fragte sich, wo man unter einem Lendenschurz eine Brille aufbewahren konnte. Dann ließ er die Frage doch lieber im Raum stehen.
Besser nicht ins Detail gehen, dachte er bei sich.
„Anascha“, sagte der Teufel erfreut. „Mein liebes Kind, komm zu Papa.“
„Ich kann nicht“, sagte Anascha und deutete auf die Flammen.
„Ach so ja“, sagte der Teufel und brüllte: „Macht doch mal einer die beschissene Lightshow aus.“
Sofort verschwanden die Flamen.
Der Teufel eilte zu Anascha und nahm sie in den Arm.
„Und wer ist das“, fragte er, während er Marcel über Anaschas Schulter hinweg musterte.
„Das ist Marcel. Ich werde ihn heiraten. Er hat es geschafft, dass ich Feuer in den Augen hatte.“
„Also nein. Wirklich?“ Der Teufel musterte Marcel eindringlicher. Marcel wurde ein Stückchen kleiner.
„Dann muss er ja ein echter Teufelskerl sein“, sagte der Teufel und lachte. Sein Lachen erfüllte die Halle und die Seelen der Verlorenen kreischten.
„Meinen Segen hast du“, fuhr der Teufel fort.
„Vater“, sagte Anascha nachsichtig. „Du kannst nicht segnen.“
„Ach so ja. Dann hast du eben meine Erlaubnis. Wollt ihr zum Essen bleiben? Eichmann-Pudding mit Honecker-Salat.“
„Nein Vater, wirklich nicht. Ich wollte Marcel nur mit eigenen Augen zeigen, was es mit dem Feuer in meinen Augen auf sich hat.“
„Schön, dass du da an deinen alten Vater denkst“, sagte der Teufel gerührt. „Wie geht es deiner Mutter, dem süßen Engelchen?“
„Ich denke immer an dich, Vater. Und Mutter geht es gut. Sie lebt jetzt in einem Wohnstift.“
„Ist das denn die Möglichkeit“, rief der Teufel aus.
„Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen, ich glaube Marcel hat ein wenig Angst vor dir.“
Marcel war mittlerweile noch ein Stück kleiner geworden.
„Ein wenig, ja“, gab er flüsternd zu.
„Ach, dass macht nichts“, sagte der Teufel und schlug ihm fest auf die Schulter. Seine Hand hinterließ einen Brandfleck auf Marcels Jackett.
„Das ist normal, hat jeder“, flüsterte er Marcel vertraulich ins Ohr. Marcel konnte seinen heißen Atem spüren. Die Härchen in seinem Ohr kräuselten sich in der heißen Luft.
Anascha drückte ihren Vater noch einmal.
„Pass auf dich auf“, sagte sie.
„Du auch mein Kind", sagte der Teufel. „Soll ich euch schnipsen oder wollt ihr laufen?“
„Schnips uns“, sagte Anascha bestimmt.
Schnips
Marcel und Anascha standen neben dem Starenkasten. Marcels Coupé klebte als metallener Klumpen an einer Hauswand gegenüber.
Marcel musterte sein vormals elegantes Auto. Er stand immer noch neben sich und es war ihm fast egal.
„Hatten wir einen Unfall“, fragte er. „Ich habe geträumt, wir wären in der Hölle gewesen.“
„Waren wir auch“, sagte Anascha lächelnd. „Tut mir leid, wegen deinem Wagen. Aber irgendetwas muss auf der Strecke bleiben, um in die Hölle zu kommen. Sei froh, dass es nicht deine Seele war.“
Marcel schaute sie benommen an.
„Du willst mich heiraten“, fragte er ohne sich genau daran zu erinnern, woher er das wusste.
„Wenn du nichts dagegen hast. Mein Vater wird auch nicht zur Hochzeit kommen. Versprochen. Allerdings....“ Anascha stockte.
„Allerdings“, fragte Marcel. Sie sah ihn zerknirscht an.
„Allerdings wird er wohl darauf bestehen, den Polterabend auszurichten. Er liebt Polterabende und hat sich extra einen Polterabendsaal bauen lassen.“
„Von seinem Architekten“, fragte Marcel.
Anascha schluckte.
„Von seinem Architekten“, beantwortete er die Frage selbst.
Sein Verstand war jetzt wieder klarer und der Nebel verschwand.
„Was kannst du sonst noch, außer deine Augen brennen zu lassen?"
„Nix.“
„Ehrlich?“
„Ganz ehrlich!“
„Och“, sagte er schließlich. „Solange unsere Kinder nicht deinem Vater ähnlich sehen.“
„Das heißt, du sagst ja?“
„Das heißt es wohl“, sagte Marcel und zog Anascha in seine Arme.