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Feuerräder
- überarbeitet 05/06 -
Die Welt hatte sich für mich stets weiter bewegt und darin lag ihre Grausamkeit. Herbst und Winter legten sich nicht nur wie ein erstickendes Tuch über die fruchtbare Erde, sondern nahmen mir in einem Jahr auch alles, was ich am Leben gern gewonnen hatte. Das Schicksal hatte mir meine Frau genommen und meinem Sohn die Mutter. Wir hofften, dass die Zeit unsere Trauer vergessen macht, doch mit dem Ende des Jahres kam auch die Kälte und der graue Dunst, der sich über die Felder legte. Unsere Seelen wurden schwer.
Besonders hart traf es meinen Sohn, dem die kalten Ostwinde auch die Freude am Spiel nahm. Kurz nach dem Abschied von seiner Mutter hatte er sich in Traumwelten geflüchtet. Es war vielleicht nicht der beste Weg, aber immerhin gelang es ihm den Kummer für eine gewisse Zeit aus seinem Leben auszusperren. Als ich sah, wie er mit geschlossenen Augen auf dem Boden saß, die Sommersonne ihn in ein helles Licht tauchte und sich sein Mund durch das Spiel der Fantasie lachend bog, wünschte auch ich mir wieder ein Kind zu sein. Jetzt blies der Sturm die poetischen Gegenwelten fort und mein Kind war mit einem Mal gezwungen in die Welt der Erwachsenen einzutauchen. Für mich war dies das größte Übel, denn ein Kind, dessen Kindheit gewaltsam genommen wird, kann das Glück im Leben niemals finden. Wir Menschen brauchen diese unbeschwerte Zeit, in der wir spielen und tollen und all die Probleme der großen Welt so unscheinbar für uns sind, wie feiner Staub, der von warmen Winden fortgetragen wird.
Es gibt immer Bräuche und Feste, deren Bestimmung es ist das Gemüt zu erhellen und Freude an die Stelle von Angst treten zu lassen. So auch in unserem Dorf. Jedes Jahr.
Die Menschen sammeln Stroh, kleine Äste und trockene Blätter und bauen daraus ein großes Rad. Die jungen Burschen bringen diese Räder dann auf die Kuppel eines steilen Hanges mitten im Wald, um sie dort für das Fest der Feuerräder aufzustellen. Die Räder werden entzündet und von den Junggesellen den Hang heruntergetrieben. Wild rasen sie den Hang hinab, leuchten hell in dunkelster Nacht und alle Geister, die auf den Winter warten, um den Menschen das Gemüt zu erschweren, sehen dieses Leuchten noch weit über die Grenzen des Dorfes und des umschließenden Waldes hinaus. Sie verfangen sich in der Schönheit der aufstrebenden Funken, werden gefangengenommen und verglühen mit ihnen in der kühlen Nachtluft. Die Menschen brauchen keine Angst mehr vor dem grauen Winter zu haben, dessen farblose Kälte manchen den Lebenswillen aus dem Körper saugt. Die Geister der ruhelosen Toten, die im eisigen Wind weilen, und deren dunkle Macht nach den Seelen der Lebenden trachten, werden gebannt.
Mein Sohn stellte mir damals kurz vor einem von diesen Festen unaufhörlich Fragen. Seine kinderhelle Stimme bohrte sich jedes Mal in meinen Verstand und überforderte mein begrenztes Wissen bei Weitem. Er fragte mich, warum seine Mutter uns verlassen hatte und er fragte mich, warum ich nichts dagegen getan hatte. Aber sosehr ich auch nach einer Antwort in mir suchte, fand ich doch keine, die seinen eigentlichen Durst nach Ruhe, nach innerem Frieden, beseitigen konnte. Wäre seine Mutter gestorben, hätte ich ihm den Lauf des Lebens verständlich machen können, aber wie sollte ich ihm erklären, dass ihre Liebe zu mir erkaltet war, und dass der Grund dafür in einer noch eisigeren Wahrheit lag, die ich selbst nicht begreifen mochte und konnte. Ich weiß auch nicht, warum ich mich eigentlich dazu überreden ließ, mit ihm den Feuerrädern zuzuschauen. Wir wussten beide, dass wir dort auf seine Mutter treffen würden und ich wusste, dass ich sie dort in den Armen eines anderen Mannes sehen würde, eines Mannes, der sich nun statt meiner um sie kümmerte. Manuel wollte wie alle jungen Burschen den Lauf der brennenden Räder begleiten, aber ich erlaubte es ihm nicht. Wie konnte ich dieser Bitte nachkommen, wenn ihn der Weg dorthin doch so nah an seine Mutter bringen würde? Sie würde einfach durch ihn hindurchsehen, so als wäre er gar nicht da. Ich und er würden ihr nur Kummer bereiten. Ich wusste, dass sie lange gebraucht hatte, sich von uns zu lösen und auch wenn ihre Liebe nun erkaltet war, so war es meine nicht, und so wollte ich nicht, dass sie den langen Weg des Vergessens noch einmal gehen musste. Ich blieb mit Manuel am Waldesrand stehen und beobachtete das Fest durch die Bäume hindurch, hatte mich sein kindliches Betteln doch schließlich erweicht.
Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden am Horizont, doch bevor das letzte Licht erlosch und nur noch die Fackeln der Menschen die Welt erleuchteten, schien es, als würde die Zeit für einen Moment innehalten. Das Licht war nunmehr nichts weiter als funkelnder Staub, der sich auf die Blätter legte und einige von ihnen weiter mit zu Boden nahm. Dort glitzerte das Sonnenlicht in anmutender Schönheit, bevor seine Helligkeit und Wärme schließlich in der nahen Nacht und in der wieder fortschreitenden Zeit verschwand. Die Sonne, das Feuerrad des Himmels, war nicht mehr zu sehen und machte Platz für die der Menschen.
Die Zeit spielte für mich, und ich glaube auch für meinen Sohn nach der Trennung von seiner Mutter immer öfter keine Rolle mehr. Wir hatten unseren Weg gewählt und die Zeit war nicht mehr länger wichtig gewesen. Sie schien auszusetzen und der Unendlichkeit Platz zu machen.
Die erste Flamme griff nach trockenem Gras und Manuels Augen funkelten im Gegenlicht des Feuers. Es zischte und feiner Rauch stieg spiralförmig den Sternen über uns entgegen. Dann fraß sich das Feuer weiter durch Äste und Blätter, bis die brennenden Zungen an allen Stellen des Rades leckten. Würziger Qualm erfüllte die Luft und auch dort, wo Manuel und ich standen, konnte man den aromatischen Duft riechen. All seine Nuancen und Facetten kribbelten in unseren Nasen und ich konnte sehen, wie mein Sohn alles gierig in sich hineinsaugte. Er war traurig, dass er nicht wirklich ein Teil des Brauches werden konnte. Ich konnte mir vorstellen, dass er sich fühlte, als müsste er sich verstecken, was ja auch der Wahrheit entsprach. Aber das Gefühl in ihm wurde wahrscheinlich getragen von einem düsteren Gedanken, der aus der Situation heraus entstand. Sein kindlicher Verstand gaukelte ihm eine Schuld vor. Eine Schuld, welche die Ursache dafür war, dass er nicht einfach herüberrennen konnte und mit den anderen Kindern das laufende Feuer den Berg hinab begleiten konnte. Und mit jeder Flamme, die sich aus den Rädern speiste, glaubte ich zu sehen, wie diese unbewusste Schuld in ihm heranwuchs. Wie das Feuer nährte sie sich aus seinem Inneren, so lange, bis alles in Glut und Asche daniederlag. Manual begann sich als Grund für die Trennung zu sehen und egal, wie sehr ich dagegen anging, egal, wie sehr ich versuchte diese bösen Gedanken aus ihm zu vertreiben, es schien nichts zu helfen. Nur die Zeit und die Reife, die diese brachte, vermochte wohl die Selbstzerfleischung des Kindes aufzuhalten. Nur war es auch diese Zeit, die mich immer tiefer in ein bodenloses Loch stürzte. Bald würde der Augenblick kommen, da Manuel verstand, was geschehen war und dann würde auch der Moment nahen, der Vater und Sohn entzweireißen würde. Ich beschäftigte mich jeden Tag und jede Nacht mit dem Verlust meiner Familie. Ich überlegte, was ich falsch gemacht hatte und wie es zu all dem hatte kommen können und jede Überlegung ging mit Schmerzen einher, die das Fleisch nicht spüren konnte. Wenn Manual sich von mir trennte, war ich allein und würde nicht wissen, was mich noch länger an diese Welt band.
Das erste Rad rollte von dem Geschrei der Menschen begleitet den Berg hinunter. Brennendes Stroh löste sich, stob funkenschleudernd hinauf und wurde vom Wind fortgetragen, bis es erlosch und als Asche zu Boden fiel. Immer mehr Männer und Frauen gesellten sich unter die anwesenden Dorfbewohner. Manche von ihnen kamen von weit her, um dem Feuer nahe zu sein und seine Wärme zu spüren und oben auf dem Berg, zwischen bekannten und fremden Gesichter entdeckte ich meine Frau. Sie stand dort und ich konnte erkennen, dass ihr Gesicht die Trauer endlich verloren hatten. Die Arme eines mir fremden Mannes lagen um ihre Hüften und versorgten sie mit der Wärme, die auch ich so sehr vermisste und die ich ihr vor scheinbar unendlich langer Zeit auch einmal gegeben hatte. Ich wünschte Manuel hätte mir diese Wärme geben können, doch er konnte sie mir so wenig geben, wie ich ihm. Die Kälte war in uns zu Haus und nur ein Feuer, welches man tief in uns entfachte, konnte sie wohl noch vertreiben.
Manuel gestikulierte in Richtung seiner Mutter und in seinem Gesicht las ich Freude und Unglück zugleich. Freude, dass er sie sah. Unglück, dass er nicht zu ihr konnte. Vielleicht war dies der Moment, in dem er verstand, in dem alle Ungewissheit ein Ende finden würde. Wir sahen sie. Sie uns nicht.
Ein zweites und drittes Rad holperte über den grasbewachsenen Boden, dessen Grün auf den Feuerstraßen einem Braun gewichen war. Die Räder fraßen sich durch das noch fruchtbare Land, welches bald unter dem Laub des Herbstes und schließlich unter dem Schnee des Winters begraben sein würde. Sollte ich nun Manuel beiseite nehmen und ihm den Grund der Trennung verraten? Diese Frage klang hohl in meinem Kopf. Sie hallte in einer Leere zwischen den Wänden meines Schädels wieder, ohne eine schnelle und einfache Antwort zu erhalten und sie würde sie auch nie bekommen, denn Manuel riss sich von mir los. Er lachte, glockenhell, und seine Augen, die ich nur noch einmal kurz sehen konnte, funkelten vor kindlicher Freude. Das Spiel des Feuers zog ihn an. Magisch hatte es seine unsichtbar brennenden Arme nach ihm ausgestreckt. Sein Bann, einmal geschlagen, war nicht zu brechen. Ich rief ihm hinterher, sprang aus meiner Deckung, aber ich war zu langsam. Ich stand mitten auf dem freien, stark abfallendem Feld, ohne gesehen und gehört zu werden und musste mit ansehen, wie Manuel den Kummer wieder zurückbrachte. Aber nicht in seiner Mutter wurde die Trauer neu geschürt, denn Manuel gab sich ihr nicht zu erkennen, sondern in mir glich das Herzeleid einem einzigen Feuersturm, der mich kalt verbrannte. Meine tränengeschwängerten Augen beobachteten, wie mein Sohn den Feuerrädern immer näher kam und wie die Flammen, die nur wir sehen konnten, nach ihm griffen, ihn verzehrten und in die Luft erhoben. Es waren nur Sekunden, die sein Geist noch in dieser Welt existierte. Sekunden in denen er nun vielleicht verstand, was der Grund war, warum seine Mutter ihren Sohn vergessen wollte. Wir waren gestorben. Wir waren nur noch Geister, die durch die Wälder streiften und auf den winterlichen Winden ritten, als sei es das normale Leben. Manuel war noch jung gewesen, so dass der Wandel von Leben zu Tod für ihn ein natürlicher Vorgang war, den er für sich nicht fassen konnte, weil es aus seiner Perspektive nichts Fassbares gab.
Ich brach. Im Licht der schleudernden Feuerräder zerbrach alles, was von mir geblieben war. Die Menschen, deren Gesichter mir fremd waren und die von weither gekommen sein mussten, verloren sich ebenso wie mein Sohn im Feuerspiel des Brauches. Sie gingen ungesehen von den Augen der Dorfbewohner den Rädern entgegen und ließen sich von den Flammen auf die gleiche Weise wie das trockene Gras fressen. Sie verschwanden aus dieser Welt. Manuel hatte mich gehalten. Durch ihn hatte ich mich vom wärmenden Feuer abgewendet, doch nun war ich allein und die Kälte war so schmerzhaft, dass mein ruheloser Verstand nichts so sehr wollte, wie die Wärme, die in den Menschen und in den Rädern schlummerte. Doch die Hitze in den rollenden Feuern war verheißungsvoller. Sie war endgültig und befriedigend.
Ein letztes Mal warf ich meiner Frau einen sehnsüchtigen Blick zu, dann rannte ich mit den anderen Geistern, die jetzt scheinbar zahllos aus den tiefen Wäldern hervorkamen, den erlösenden glutroten Ringen entgegen. Das Feuer leckte nur kurz an meiner Haut. Ich spürte wie Hemd und Haar entfachten und ich genoss die Wärme, die schöner war, als ich es mir vorgestellt hatte. Dann brannten sich die Flammen zu meinem Inneren vor. Wie tausend Finger bewegten sich die lodernden Zungen in mir und ich spürte, wie ich mein Gewicht, das mich an den Boden band, verlor. Mein Herz wurde leicht und die Wärme war überall in mir. Ich stieg hinauf, zum blinden Sonnenschein, der die Nacht bald wieder vertreiben würde. Ich hinterließ keine Asche, keine Glut, sondern nur den verwesten Körper, den ich bereits vor Jahren abgelegt hatte. Ich schwebte, ich flog und folgte der Bahn, die Manuel mir hinterlassen hatte. Sein Flug war begleitet von dem Feuer, dass ihn mitgenommen hatte. Glitzernd und funkelnd, wie lebendiges Licht führte mich dieser Weg zu meinem letztmöglichen Frieden, der schöner war und immer noch ist, als ich ihn mir jemals vorgestellt hatte.