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Ficken im Klischee
Ich weiß nicht, warum ich es damals nie verstehen konnte.
Rückblickend komme ich mir dumm vor.
Claudia, mit der ich stets diesen ersten Blick in Verbindung bringe, der meinen eigenen in der Mensa traf.
Ich riss gerade die Keule meines halben Hähnchens ab, und saß allein am Tisch. Sie hingegen tummelte sich mit ihren Freundinnen auf engstem Raum.
Alles liebe Mädchen. Viel zu lieb für mich.
Als mir der Hühnerflügel aus der Hand rutschte, und auf meinem Hemd landete, lachte sie. Nicht über mich, sondern mit mir. Heute könnte ich gar nicht mehr sagen, woran ich das fest machte. Claudia hat nie etwas spöttisches an sich gehabt. Daran lag es wohl.
Sie kam rüber zu mir, zog sich einen freien Stuhl heran, und tupfte mit einer Serviette über mein Hemd. Gott, was war mir das unangenehm.
Dann redeten wir. Wir redeten solange, bis die Mensa geschlossen wurde, und man uns vor die Tür beförderte.
"Ich bin noch nie irgendwo rausgeflogen", sagte sie.
Ich ging davon aus, sie würde scherzen, aber selbst etwas so lächerliches wie ein "aus der Mensa fliegen" erschütterte sie auf eine Art und Weise, die ich schwer bis unmöglich nachvollziehen konnte.
"Vielleicht gehen wir morgen einfach zum Burger King."
Ihre Augen weiteten sich.
"Meinst du?"
Ich sah an ihr herab. Die schlanke Figur, die dazu passenden, engen Kleider.
"Oh, du achtest auf deine Linie?"
Sie lächelte.
"Nein. Darum mache ich mir später Sorgen. Aber du willst wirklich ... du willst mich morgen wirklich wieder sehen?"
In diesem Augenblick verliebte ich mich wahrscheinlich in sie. In der Erinnerung fällt die korrekte Zuordnung solcher Dinge wie Emotionen immer recht schwer, weil man oft nicht mit ihnen umgehen kann. Jedenfalls ist mir die Szene noch bis heute so gut in Erinnerung, dass sie wohl zumindest ein Schlüsselerlebnis gewesen sein muss, und das genügt mir. Man sollte aufkommende Liebe nicht auf die Sekunde genau bestimmen.
Ihre Lesung am nächsten Tag dauerte länger als meine. Ich wartete auf dem Campus, und schaute ständig auf die Uhr. Ich kam mir vor wie ein kleiner Schuljunge, der seinem ersten Date entgegenfiebert. Laura hatte ich abgesagt. Das gab sowieso nichts mit uns beiden.
Als Claudia dann endlich aus dem Saal kam, hakte sie sich gleich bei mir ein, und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Ich schämte mich dafür, wieder mal bloß an Sex zu denken. Ich hoffte, dass sie es nicht merkte. Frauen sind da ziemlich gut drin. Sie riechen den Hormonausstoß, schätzen jede Mimik, jede Gestik ganz genau ab.
"Eigentlich habe ich gar keinen Hunger", sagte sie.
Ich räusperte mich.
"Nein. Ist auch so heiß heute, da zieht sich der Magen zusammen."
"Wohnst du auf dem Campus?"
"Ja, ich habe ein kleines Zimmer."
"Zeigst du es mir?"
Das liebe Mädchen, das ich von unzähligen Engagements her kannte, die sie mit Hilfe der Universität publik machte, war zwar keine Domina, aber auch keinesfalls zurückhaltend.
Seltsamerweise habe ich unseren ersten Sex kaum noch in Erinnerung. Ich weiß noch, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben ziemlich verklemmt war, und vor Erregung kurz außer Atem kam.
Claudia mochte es von hinten, und da wollte ich keinen Einwand erheben. Sie kam ziemlich laut. Sehr laut.
Viel schöner war es allerdings, als wir anschließend nebeneinander im Bett lagen. Sie rauchte nicht, und ich verzichtete aus Respekt. Es tat gut, der Routine zu entsagen. Wir kuschelten, lachten, redeten.
"Du weißt, dass ich ein Langzeitstudent bin, oder?"
Sie grinste.
"Eigentlich weiß ich gar nichts über dich. Ich hab´ dich bloß immer in der Mensa gesehen."
Sie ließ ihren Tonfall gespielt dramatisch werden. - "Ich habe dich beobachtet, großer Junge."
Ich drehte mich kurz zur Seite, und suchte meine Zigaretten auf dem unaufgeräumten Nachttisch.
Scheiß´ was auf den Respekt, dachte ich. Schmacht kennt eben keine Grenzen.
Als die Zigarette brannte, fragte ich: "Was machst du da mit mir?"
Claudia legte ihre Stirn in Falten.
"Was meinst du?"
"... weiß ich auch nicht. Du bist in der ganzen Uni bekannt. Führst Projekte durch und so weiter. Wie in einem kitschigen Film. Warum beobachtest du mich? Ich bin nur ein fauler Sack, der studieren geht, weil er sonst nichts machen will. Ich bin ein Chaot."
Sie legte ihren Arm um mich, und flüsterte mir ins Ohr.
"Das habe ich vermutet. Aber es hat seinen Grund."
Sie verriet mir ihren Grund.
...
"Willst du was trinken?", fragte ich irgendwann.
Mir fiel in dem Augenblick einfach nichts besseres ein. Vor allem aber hatte ich wirklich Durst auf den Vodka, der im Kühlschrank stand.
Claudia nickte.
"Gern."
***
Nach diesem Tag sah ich sie nie wieder.
Sie hatte mir ihre Nummer gegeben, aber ich wollte nicht anrufen.
Der Zustand, in dem sie sich befand, und der aus ihrem Problem heraus resultiert war; diesen Zustand hatte ich mir stets zum Ziel gesetzt.
Erst durch ihre Worte musste ich erkennen, dass es eigentlich egal war, was man tat, und wie man es tat.
Schlussendlich gab man doch bloß ein Klischee ab.
Claudia das des perfekten, fürsorglichen Mädchens, dem der Tierschutz und viele andere Dinge am Herzen liegen.
Ich hingegen das Klischee eines intelligenten Nichtsnutzes, der es zwar nicht zugeben will, dass er in der Zukunft einmal die Welt zu retten gedenkt, der aber wenigsten gut im saufen und im vögeln ist.
Heute bin ich zufällig auf ihre Todesanzeige gestoßen. 38 Jahre ist sie alt geworden. Die gesamte Familie vermisst sie. Der Text, aus dem die Anzeige besteht, lässt vermuten, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.
Ich meine, wo sonst liest man schon solche Dinge wie "... frei denkend und mit guter Seele dem Himmel ein Geschenk machend", wenn es sich nicht um Suizid gehandelt hat?
Leidige Heuchlerei.
Wie dumm ich gewesen bin.
Die Worte, die sie mir damals ins Ohr geflüstert hat.
Kann man ändern, was man abgibt? Ich hoffe es.
Ich brauche einen Wirren, der mich zu meinem Chaos zurück bringt.
Du brauchst eine Wirre, die dich darin belässt.