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Filmhelden
Der Klang von Technobässen wälzte sich über die Grashalme hinweg und der Vollmond blickte unaufhörlich auf ihn hinab.
„Du bist genauso einsam wie ich, aber im Gegensatz zu mir könntest du etwas daran ändern“, schien er zu sagen. „Ich weiß, dachte Max, während er in das milchige Licht blinzelte, „ aber ich bin nun mal ein Feigling.“
Victoria stand einige Meter von ihm entfernt. Lachend unterhielt sie sich mit ihrer besten Freundin Hannah und einem kleinen, pummeligen Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen, deren Namen ihm entfallen war.
Wenn sie lachte tat sie das immer nur hinter vorgehaltener Hand. Sie war der festen Überzeugung, dass ihr Mund dem eines Breitmaulfrosches glich. Es war eines von den Dingen, die Mädchen auffielen, wenn sie sich kritisch im Spiegel betrachteten, um sich schließlich völlig frustriert von ihrem Spiegelbild abzuwenden und darüber nachzudenken, wo sie das Geld für so viele Schönheitsoperationen auftreiben sollten.
Er wäre gerne aufgesprungen und hätte ihr die Hand vom Gesicht weggenommen, damit sie endlich einsah, dass der Gedanke mit dem Breitmaulfrosch völliger Blödsinn war, aber er blieb stumm sitzen.
Er wollte sie noch ein bisschen ansehen, nur noch heute Abend, weil sie doch morgen weg sein würde.
Bei dem Gedanken krampfte sich sein Herz zusammen. Er hatte nur noch diese eine Nacht, um es ihr zu sagen, aber er konnte es nicht. Seit einem halben Jahr wollte er es ihr gestehen und immer, wenn er vor ihr stand, spürte er, dass die Worte rauswollten, aber im letzten Moment waren seine Lippen plötzlich wie zugenäht.
„Was sitzt du denn hier so einsam rum, Trauerkloß?“ Lars ließ sich mit einer Bierflasche in der Hand neben ihn auf die Bank fallen. „Das ist keine Beerdigung, sondern eine Party!“ Er schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Versuchst du sie zu hypnotisieren?“ Lars war dem Blick seines besten Freundes gefolgt.
„Nein, es ist nur...“
„Du stehst auf sie?“ Lars Augen weiteten sich und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
„Oh nein, sag, dass das nicht wahr ist! Du weißt doch, dass sie morgen nach Amerika fliegt. Aber sieh’s doch mal positiv: Du hast immerhin noch heute Nacht und...“
„Nein!“ Er sprang energisch auf. „Nur weil ich sie einmal kurz angesehen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich auf sie stehe. Du solltest weniger trinken, dann kommst du nicht auf so hirnlose Gedanken!“
Wütend stapfte er über den Rasen, auf eine kleine Gruppe Leute zu. Kathrin lästerte gerade über Patrick Ewert, den wohl größten Außenseiter der Schule. Einige grölten vor Lachen, Andere grinsten stumm in sich hinein.
Er versuchte sich ihr Gesicht einzuprägen, mit jeder Einzelheit.
Das Muttermal unter dem linken Auge, braune Haare, die in der Sonne manchmal golden leuchteten und kleine Grübchen in den blassen Wangen, wenn sie in einem unbeobachteten Moment einmal nicht die Hand beim Lachen vor den Mund hob.
Er wusste, dieses Bild würde verblassen, wie ein altes Foto, dass verborgen Jahrzehnte lang ganz hinten in einer Schublade lag. Vielleicht suchte eines Tages jemand danach, aber er würde es nicht mehr wiederfinden und irgendwann würde es der Vergangenheit angehören.
Er wollte nicht, dass sie der Vergangenheit angehörte, dazu war sie ihm doch viel zu wichtig.
„Wenn sie wüsste“..., dachte er mit einem kurzen Blick in ihre Richtung. „Wenn sie wüsste, wie oft ich in den letzten Monaten an sie gedacht habe.“ Ein winziges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Es würde sein Geheimnis bleiben, wahrscheinlich für immer. Aber wollte er ihr nicht einfach gestehen, was sie ihm bedeutete? Das sie mehr für ihn war als eine gute Freundin? Es war egal, wie sie über ihn dachte. Er wollte ihr nur sagen, wie schön sie war. Sie hatte es verdient, dass jemand genau das zu ihr sagte.
Entschlossen wand er sich von Kathrin und den Anderen ab und machte sich auf den Weg, sein Ziel fest vor Augen.
Dieses Mal würde er es tun und wenn er die Worte aus seinen vor Angst zusammengepressten Lippen herauszwängen musste. Es war seine letzte Chance.
Als er neben ihr zum Stehen kam, wand sie den Kopf. Sie lächelte und in ihren Augen spiegelte sich das Mondlicht.
„Na, gefällt dir die Party?“, fragte sie aber die Worte drangen nur gedämpft zu ihm durch. In Gedanken war er längst an dem Punkt, vor dem er seit Monaten regelrechte Panik hatte.
Er nickte benommen. „Kommst du kurz mal mit? Ich muss mit dir reden“, fragte er. „Ja klar“, antwortete sie und das Lächeln schwang in ihrer Stimme mit.
Sie folgte ihm durch die kühle Nachtluft und aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Hannah und das kleine pummelige Mädchen mit den Sommersprossen die Köpfe zusammensteckten, in seine Richtung blickten und leise kicherten. Es war ihm egal. Alles war egal, es zählte nur dieser Moment. Sie umrundeten das Haus. Vor der Eingangstür blieb er stehen. Hier war es ruhig, die Technobässe verloren sich irgendwo im Wind und zwischen den tanzenden Grashalmen.
Er starte zu Boden. Ihr Blick ruhte auf ihm, er konnte es spüren.
Er kannte sie jetzt schon seit fünf Jahren. Eigentlich hätte er keine Angst haben müssen und doch schien sie sich über ihn zu legen. Dunkel und schwer drückte sie ihn immer weiter auf die Erde, bis er sich winzig klein vorkam.
„Max?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie suchte seinen Blick, er sah auf und erkannte Besorgnis in ihrem Gesicht. Sie sorgte sich um ihn. Er hatte den Drang, sie fest an sich zu drücken, so sehr rührte es ihn.
Er öffnete den Mund. Um ihn herum war es still, als würde nicht nur sie, sondern auch der Rest der Welt auf seine Worte warten.
„Ich“..., begann er und schwieg dann wieder.
„Vergiss es!“, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die immer lauter zu werden schien. „Sag es ihr nicht, es gibt Dinge, die man besser für sich behält. Wahrscheinlich wirst du ihr danach nicht mal mehr SMS schreiben können, weil du dich so schämen wirst. Sie wird dir sagen, dass sie nie so für dich gefühlt hat, wie du für sie. Deine Beziehung zu ihr wird zerbrechen wie eine Porzellanvase.“
„Ich wollte nur fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ich morgen früh kurz vorbeikomme, bevor du zum Flughafen fährst.“ Er ratterte die Worte nur so herunter. Seine Hautfarbe hatte eine roten Unterton. Er nahm einen tiefen Atemzug. Es ging nicht. Er konnte es nicht.
„Klar, ich würde mich freuen, aber war es jetzt so schwer, mich das zu fragen?“ Sie lächelte ihn auf eine so liebevolle Weise an, dass er ihr Lächeln erwidern musste.
„Nein, ich... ich war nur gerade mit den Gedanken woanders“, versuchte er die Situation zu retten.
„Ach so, dann können wir ja wieder zurück zu den Anderen gehen“.
Sie drehte sich um und verschwand hinter der Hausecke.
„Wenn das ein Film wäre, würde ich ihr nachlaufen, sie an der Schulter packen, umdrehen und küssen“, schoss es ihm durch den Kopf, aber es war kein Film, sondern die Realität.
Mit gesenktem Kopf trottete er hinter ihr her.
Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, begannen sich ihre Gedanken wieder nur um diesen einen Menschen zu drehen.
Heute Abend war er anders gewesen. Als er sie allein sprechen wollte und sich dann auch noch so seltsam verhalten hatte, war Hoffnung in ihr gekeimt.
„Sag es schon! Ich würde dich doch niemals abweisen, jetzt sag schon, worauf ich seit Monaten warte!“, hatte sie sehnsüchtig gedacht und war doch enttäuscht worden.
Er würde morgen wiederkommen. Dann war ihre letzte Chance, es ihm zu sagen.
Ihr Blick fiel auf die vollgepackten Reisekoffer. Sie würde ein neues Leben anfangen müssen. Ihre Freunde in Deutschland würden sie nach und nach vergessen. Sie konnte es nicht verhindern, genauso wenig, wie sie verhindern konnte, dass die Welt sich unaufhörlich weiterdrehte. Sie würde neue Freunde finden aber Max gab es eben nur ein einziges Mal auf der Welt.
Sie drehte sich im Bett um. Tränen schwammen ihr in den Augen.
Die Haustür stand offen und er klopfte zögernd, bevor er den Kopf hineinsteckte. Schnelle Schritte näherten sich ihm und kurz drauf bog sie um die Ecke. „Hey Max!“ Mit weit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihn zu. Er drückte sie an sich und hätte sie am liebsten für immer festgehalten. Trotzdem lösten sie sich nach einer Weile wieder voneinander.
„Freut mich, dass du noch vorbeigekommen bist.“
Er lächelte sie stumm an.
„Guten Morgen, Max!“ ihre Eltern schleppten zwei Koffer an ihnen vorbei nach draußen.
„Morgen“, murmelte er geistesabwesend.
Er musste jetzt mit seinem gut gehüteten Geheimnis herausrücken, wenn er verhindern wollte, dass die Worte ewig auf seiner Brust lasteten und ihm das Atmen schwer machten. Aber da war diese unüberwindbare Mauer aus Angst.
Wie er so dastand und sie ansah... Sie hätte ihn einfach küssen können, es wäre so einfach und doch so schwer. Nur noch ein paar Minuten, dann würde sie in das vollgestopfte Auto steigen, dass sie von ihm wegbrachte.
Ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich insgeheim fragte, ob er es hören konnte.
„Vergiss nicht, mir Fotos zu schicken, du weißt, ich wollte immer schon in die USA“, sagte er, weil er die Stille nicht mehr ertrug.
„Wie könnte ich das vergessen? Ich schreib dir sofort, wenn ich angekommen bin“, antwortete sie.
Er hörte genau, dass sie versuchte, unbeschwert zu klingen, aber es lag eine tiefe Traurigkeit in dem, was sie sagte.
Nur einige Zentimeter trennten sie voneinander, eine so geringe Entfernung und doch erschien sie plötzlich unendlich weit.
„Jetzt!“, dachte sie , „Jetzt musst du endlich etwas tun, irgendetwas, nur nicht weiter so sinnlos herumstehen. Du hast es dir vorgenommen. Heute ist deine letzte Chance. Was kann denn schon schief gehen? Trau dich endlich! Du hast doch nichts zu verlieren.“
Aber sie hatte doch etwas zu verlieren. Wenn es nicht so lief, wie sie es sich wünschte, wenn er sie nach ihrem Geständnis nur erschrocken ansehen würde, weil er nicht dasselbe fühlte, wie sie, würde ihre Beziehung darunter leiden und sie wollte nicht, dass ihre Zeit in Deutschland ein so unschönes Ende nahm.
„Vic, wir müssen fahren, sonst verpassen wir unseren Flug!“, reif ihre Mutter, die schon ins Auto stieg.
Sie ging auf den Bordstein und blieb mit Max hinter dem Auto stehen.
„Tja, jetzt ist es wohl soweit.“
Sie musste schlucken, denn ihr saß ein riesiger Klos im Hals.
„Ich werde dich vermissen, Max. Du bist mein bester Freund und wie gesagt: Ich schreib dir sofort, wenn ich angekommen bin.“
Sie konnte nicht mehr weiterreden. Ihre Stimme setzte aus und sie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen steigen.
„Ja, viel Glück in Amerika, du packst das schon, Vic.“
Er versuchte ihr aufmunternd zuzulächeln, aber seine Mundwinkel ließen sich nicht nach oben ziehen.
Ein letztes Mal schlang sie die Arme um ihn.
„Jetzt könntest du ihn noch küssen, genau jetzt, es wird kein besserer Moment mehr kommen“, hämmerte es in ihrem Kopf.
„Du hast dir vorgenommen, ihr es zu sagen, bevor sie wegfährt, also, was ist jetzt? Tu es endlich! Denk daran: Es wir dir ewig leid tun, wenn du dich schon wieder nicht traust“, dachte er.
Die ersten Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Sie wusste, es war soweit, sie musste ins Auto steigen, aber hier stand jemand, dem sie etwas zeigen musste.
Sie musste ihm zeigen, was sie in den vergangenen Monaten für ihn gefühlt hatte.
Aber statt einen Schritt auf ihn zuzumachen, stolperte sie zurück.
Sie sah die Welt vor sich verschwommen durch einen Tränenschleier.
Sie stand unter Zeitdruck. Ihr blieben nur wenige Sekunden, um ihm zu zeigen, dass er noch viel mehr für sie war, als ihr bester Freund.
War das zu wenig Zeit? Es war ein Risiko, ein großes Risiko.
Sie machte zwei weitere Schritte zurück, dann drehte sie sich um und öffnete die Autotür.
„Jetzt könntest du ihr nachlaufen, sie an der Schulter packen und umdrehen. Dann könntest du sie küssen und vielleicht würden ihre Tränen dann trocken, wie in einem Film.
Leider war er kein Held aus einem Film.
Er stand nur unbeweglich da und als sie die Autotür zuschlug, zuckte er zusammen, als hätte ganz in der Nähe plötzlich jemand mit einem Gewehr geschossen.
Das Auto wirbelte den Staub der trockenen Straße hinter sich auf und in diesem Moment wäre er gerne der furchtlose Held aus einem Film gewesen.