Filmriss
Sonntag Morgen, 11:00 Uhr – Jacks Geschichte
Das erste, dass Jack spürt, als er aufwacht, ist ein stechender Schmerz unter seinem rechten Auge. Seine Kehle ist trocken, und er hat Kopfschmerzen. Er stellt sich jene Frage, welche er sich schon so oft gestellt hat und dessen Antwort niemals eine angenehme ist: Was habe ich gestern Abend gemacht? Er versucht sich zu erinnern. Es sind einzelne Bilder, die in seinen Gedanken erscheinen. Er und seine Wohnpartner, Robert und Tim, haben eine wilde Party gefeiert. Er erinnert sich an ein Trinkspiel, dass sie gemacht haben. Und er erinnert sich, das er wütend gewesen ist. Sehr wütend. Hat er sich geprügelt? Er weiss es nicht. Im wird plötzlich schlecht, und er rennt ins Badezimmer um sich zu übergeben. Als er in den Spiegel im Bad blickt, sieht er einen tiefen Schnitt unter seinem rechten Auge. Was zum Teufel ist gestern passiert? Jack hat keinen Schimmer, aber er hat ein ungutes Gefühl.
Mieser kann ein Tag wohl kaum beginnen, denkt er, aber da täuscht er sich. Als er einen Blick aufs Wohnzimmer wirft, wird im klar, dass nichts mehr so ist wie es mal war. Überall liegen leere Bierflaschen, Bilder liegen am Boden, das Fenster ist zerbrochen. Doch das alles stört Jack nicht, er bemerkt es nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit ist auf Tim, seinen Zimmergenossen, gerichtet. Blut ist überall, und Tims Kopf ist so furchtbar entstellt, dass sich Jack gleich wieder übergeben muss, diesmal schafft er es nicht mehr ins Badezimmer. Oh mein Gott, er ist tot, denkt Jack. Tim ist tot. Ich muss die Polizei rufen! Doch bevor er zum Telefon greifen kann, durchfährt in ein weiterer Gedanke, der so schrecklich ist, dass er am ganzen Körper zu zittern beginnt: Was ist, wenn DU ihn umgebracht hast? Die Wunde unter deinem Auge, die Wut, an die du dich erinnern kannst, was ist, wenn du die Kontrolle verloren und den guten alten Tim gekillt hast?
Es wäre nicht das erste mal, das Jack wütend auf Tim gewesen ist. Sie stritten sich häufig, und manchmal wünschte sich Jack, der Bastard würde einfach von der Bildfläche verschwinden. Er hatte mit Robert darüber geredet, und sie haben beschlossen, Tim beizubringen, dass er ausziehen solle. Nun, das ist nun nicht mehr nötig. Jack überlegt, was er nun tun soll. Er muss die Leiche verstecken. Aber viel wichtiger ist, dass er rausfinden muss, wie viel Robert weiss. Hat er ihn gesehen, wie er Tim ermordet hat, wenn er es überhaupt gewesen ist? Hat er schon die Polizei gerufen? Oder ist er vielleicht sogar der Mörder? Er beschliesst, in Roberts Zimmer nachzusehen, ob er noch schläft. Zur Sicherheit nimmt er eine Waffe mit. Man weiss ja nie. Oh bitte Gott, lass ihn noch am Schlafen sein, denkt er. Es ist der letzte Gedanke, den er in seinem Leben hat, denn kurz darauf durchbohrt eine Kugel seinen Schädel.
Sonntag Morgen, 10:00 Uhr – Roberts Geschichte
Auch Robert verspürt starke Schmerzen, als er aufwacht. Aber er weiss, woher die Schmerzen kommen. Er hatte gestern einen dummen Streit mit Jack. Sie haben ein Trinkspiel gemacht, und Jack meinte, dass sie ihn betrügen würden. Dieser Idiot, kaum ist er besoffen, meint er, jeder wolle ihn verarschen. Er hatte im gesagt, er solle seine verfickte Fresse halten, und da ist er ausgerastet, hat auf ihn eingeschlagen. Er erinnert sich, dass er Jack mit einer Scherbe einer zerbrochenen Bierflasche verletzt hat, und sie sich danach wieder beruhigt haben. Aber was danach geschah, an das kann sich auch Robert nicht erinnern. Ich muss mit dieser verdammten Trinkerei aufhören, denkt er. Das ganze bringt mich noch ins Grab.
Als er Tims Leiche im Wohnzimmer sieht, ringt er nach Atem. Dies kann nur ein Alptraum sein, denkt er. Doch er kann den verwesenden Gestank riechen, und ihm wird klar, das dies real ist. Was in Gottes Namen haben sie gestern angestellt? Dann kam ihm ein erschreckender Gedanke: Was ist, wenn Jack ihn umgebracht hat? Robert weiss, das Jack Tim hasst, er hat sie schon so oft streiten gesehen. Aber ihn umbringen? Er glaubt nicht, das Jack dazu fähig wäre, aber er ist sich nicht sicher. Er wird nervös. Ich muss wissen, wo Jack jetzt ist, schiesst es ihm durch den Kopf. Er schaut in Jacks Zimmer und zu seiner grossen Erleichterung sieht er, das er noch schläft. Robert überlegt, was er nun tun soll. Er hat Angst davor, die Polizei zu rufen. Sie würden ihm unangenehme Fragen stellen, auf die er keine Antwort hätte. Und kann er beweisen, dass er es nicht der Mörder ist? Mein Gott, er weiss ja nicht mal, OB er ihn nicht umgebracht hat.
Robert beschliesst , folgendes zu tun: Er wartet, bis Jack aufwacht und beobachtet durch das Schlüsselloch seiner Zimmertür, wie er reagiert, wenn er Tims Leichnam sieht. Sollte er zum Hörer greifen und die Polizei rufen, weiss er, dass er es nicht war und würde mit ihm besprechen, was sie nun tun sollten. Sie würden die Sache gemeinsam regeln. Wenn er aber sieht, dass Jack die Leiche verstecken will, wird er mit seinem Handy die Polizei anrufen. Dann ist Jack der Mörder und er ist aus dem Schneider. Zur Sicherheit nimmt Robert seine Waffe in sein Zimmer. Wer weiss, vielleicht will Jack ja ihn auch umbringen, er wäre immerhin der einzige Zeuge. Dann würde er ihm zuvorkommen. So wartet er hinter seiner Zimmertür, späht durch das Schlüsselloch und betet, das Jack nichts unüberlegtes tut. Mit seiner rechten Hand umklammert er seine Waffe, welche er vorsichtshalber schon mal entsichert hat. Man weiss ja nie.
Samstag Abend 02:30 Uhr – Tims Geschichte
Tim weint. Er sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und denkt über sein Leben nach. Es ist ruhig. Jack und Robert gingen vor einer halben Stunde ins Bett, total betrunken. Auch er hat viel getrunken, und immer wenn er besoffen ist, steigen diese schwarzen Gedanken in ihm auf. Tim hat keinen Job und lebt mit Leuten zusammen, die er beide hasst. Niemand weiss, das er depressiv ist, denn er gibt sich immer fröhlich. Er sei eine Frohnatur, sagen sie über ihn. Doch niemand versteht ihn wirklich, niemand sieht, wie er leidet. Für Tim ist heute ein grosser Tag. Es ist der Tag, an dem er es tun wird. Heute war sein Abschiedsfest, nur wusste das niemand. Ein Abschiedsfest mit Leuten, die er nicht leiden kann, das ist typisch für sein Leben. Er kann einfach nicht mehr. Als er sich die Waffe an seine Schläfe hält, schliesst er die Augen und hofft, dass das Leben nach dem Tod besser ist. Niemand hört den Knall, und niemand sieht, wie ihm seine Waffe aus den Händen gleitet und unter dem Sofa liegen bleibt.