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Finanzkapitalistische Pissoirs
Als ich mit meinem Freund Bimmy, den ich in den ersten Tagen meiner wenig ruhmreichen Universitätskarriere kennen gelernt hatte, mal wieder von Kneipe zu Kneipe ziehend an einer Bank vorbei kam, packte mich eine unbestimmte Wut. Aber das ist eigentlich nur eine Redensart. Mein Zorn, meine Wutanfälle sind in sekundenschnelle herausdestillierte Argumentationsnetze. Ich erkenne sofort, weshalb ich auf etwas eine Wut entwickelt habe.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Genie, dessen Hirn das erwähnte Netz in Schallgeschwindigkeit knüpft. Die einzelnen Maschen werden zu Knotenpunkten, nachdem sie von mir gründlich durchdacht und mit dem Schatz meiner Erinnerungen und Erfahrungen vermählt wurden. Nur – und dies halte ich mir nicht ohne Stolz zu Gute – ist mir dieses Netz zielgerichtet eben dann gewahr, wenn ein guter Grund sich direkt vor meiner Nase platziert. In diesem Fall: ein aufgeblasener Banker, der mir gehörig auf den Zeiger ging.
Ich konnte Banker noch nie leiden. Auch vor der Finanzkrise wirkte dieses Völkchen auf mich schwebend, der wahren Welt enthoben, eitel und blasiert. Mein Abitur machte ich auf einer Wirtschaftsschule. Dort fanden Bankangestellte in regelmäßigen Abständen ihren Weg in unser Klassenzimmer. Mal ging es um Berufsaussichten, mal um eine offene Fragestunde. Besonders schlimm gestaltete sich ein Ausflug unsererseits in einen jener Protztempel, deren glitzernde Fassaden heutzutage im Bröckeln begriffen sind. Damals jedoch wurden wir durch die Bank geführt, wie eine Horde Kinder durch die Süßwarenfabrik. Man dachte, uns würden die Augen über gehen und unsere Begeisterung sprudelte nur so aus uns heraus. Präventiv daher die Warnung, doch bitte nicht in jenen Flur zu gehen oder allzu nah an gewisse Apparaturen zu treten.
Auch an einem Börsenspiel nahmen wir Teil. Doch es kommt noch schlimmer: Ein Banker besuchte uns wöchentlich, fast zwei Monate lang! Er war ein Paradebanker, seine ausgeprägten Stirnfalten auf dem sonst noch jugendlichen Gesicht zauberten den Ausdruck einer arroganten Überlegenheit, die mir die Schuhe auszog. So jung, noch keine 30, und doch bereits die Seele an den Teufel persönlich verhökert. Nie vergesse ich seine erste Frage am ersten Tag: „Wie entsteht eigentlich der Aktienkurs?“
Mein argumentatives Netz war noch im Spinnen begriffen, weshalb ich mich naiv zu Wort meldete. Psychologische Komponenten führte ich als Hauptgrund dafür ins Feld, dass einige Leute die Aktie X aus den sich wiederholenden Gründen A und B (Arbeitnehmerfreundlichkeit und Bankrott) abstießen, bei Gewinnprognosen und Mitarbeiterentlassungen horteten. Seine Antwort: ein süffisantes Lächeln, das Aufrufen einer anderen Wortmeldung und eine komplizierte Formel, die mein genanntes Schema in Zahlen und Systeme packte. So ein Arschloch.
Derlei Aufgaben habe ich heute, bei meinem Studium der Kunstgeschichte, nicht mehr zu lösen. Doch sorgte die Finanzkrise um den bettelnden Ackermann, Geld herbei zaubernde Regierungen und aufgebrachte Bevölkerungen nicht unbedingt dafür, dass sich die Maschen meines Standpunkts zu weiten begannen. Und so ging ich am besagten Tag mit meinem Freund Bimmy von Kneipe zu Kneipe, als wir auf eben dieses Thema zu sprechen kamen. Ein Euro fehlte ihm zum Genuss eines weiteren Bieres. Er bat mich, das Geld vorzulegen. Und so fingen wir an zu diskutieren, ob der Silberling in meiner Hand, mit dem man zwei Überraschungseier kaufen, einen Parkschein für zwei Stunden in der Weststadt ziehen oder eben den Bruchteil eines großen Fassbiers bezahlen kann, etwas gemein hat mit jenen Summen, die durch die Medien geistern. Sind 50 Milliarden Euro Konjunkturanreiz gleich 100 Milliarden Überraschungseier? Wer sollte die schon essen... Oder etwa doch 20 Milliarden Biere? Irgendwie nicht.
Zielstrebig steuerten wir die nächste Kneipe an, um der ganzen Mathematiksphilosophie ein gäriges Ende zu bereiten. Doch weit gefehlt. An einem der Luxuspaläste vorbei schlendernd, entdeckten wir den absurdesten Anblick, den ein Bankfoyer bieten kann: gemütliche, öffentliche Sitzgelegenheiten. Da standen sie, zwischen Bankterminals, Kontoauszugsdruckern und Flugblätterregalen aufgebahrt, unscheinbar. Sogar ein kleiner Tisch stand zwischen den beiden Sesseln, die urgemütlich aussahen.
Meine Wut ist, wie gesagt, eben keine unbestimmte. Und somit bin ich mitunter zu einem, wie ich meine, raffinierten, durchdachten Handeln des Protestes fähig, auch wenn das Netz bereits geistig meine Sinne umspannte. Im Klartext: Planänderung. 5,0-Dosenbier war schnell an der nächsten Tanke besorgt und unsere Bankkarten waren kunststöffliche Clubsignets in das besesselte Bankfoyer. Gerade quäkte eine Kirche zwei Straßen weiter, dass es neun Uhr schlug. Draußen herrschte eine frühsommerliche Witterung, welche die Straßen füllte und die Zivilisationstempel leerte. Keine Angestellten weit und breit, dafür massig Passanten, die uns bequem wie belustigt beim Bierverzehr begutachten konnten.
Auch die Überwachungskameras, so war uns bewusst, würden zum Leben erwachen. Aber meine zielgenaue Wut gab mir einmal mehr die Gewissheit, innerhalb meiner diskursiven Überzeugung richtig zu handeln. Wir tranken nicht bloß Bier aus billigen Dosen. Wir protestierten gegen all die Ackermänner dieser Welt, gegen Milliardenzuschüsse bei gleichzeitiger Geldknappheit im Bildungsbudget. Bimmy war schnell in meinem Netz verheddert. Wir tranken und winkten lustig in die Kameras, aus den feilgebotenen Flyern kleine Flieger bastelnd.
Für überraschenden Biernachschub sorgten Studenten, die lachend in die Vorhalle eintraten, die nun unsere war, und uns ausfragten, wie wir denn auf diese Idee gekommen seien. Bart- und Haarmode ließen mich auf marxistische Brüder schließen. Sie waren begeistert und spendierten ein halbes Dutzend Wicküler Biere, die sie in einem Kasten mit sich schleppten. Sie luden uns auf eine Party ein, zu der sie unterwegs waren, und wünschten uns noch viel Vergnügen.
Nach einer knappen Stunde, der Aktion allmählich müde und Publikum aufgrund der einsetzenden Dunkelheit nicht mehr verfügbar, trat ein Schnösel aus dem eigentlichen Bereich der Bank zu uns. Eine Tür hatten wir in der weißen Absperrung zum Kundenbereich gar nicht wahrgenommen, unser Schreck war dementsprechend.
„Was zum Teufel fällt euch eigentlich ein?“, gellte uns der Krawattenheini entgegen. Komisch, dachte ich noch bei mir, wieso trägt er eigentlich eine Krawatte, selbst jetzt, da kein Kundenverkehr mehr vorherrschte und der Karrierist wohl bloß ein paar Unterlagen fertig fabrizierte.
„Wer hier einen besseren Draht zum Teufel hat“, kam mir Bimmy zuvor, „das muss sich ernst noch herausstellen. Sie sind doch ans Großkapital verkauft, sie!“
Bimmy und sein hochroter Schädel waren gut dabei, dachte ich. Alkohol stieg ihm stets schneller in den Kopf, als mir.
Und dann traf mich der Schlag. Der Banker setzte auf die Worte Bimmys hin seinen süffisantestes Lächeln auf. Und wie er so seine Grübchen und Fältchen spielen ließ, erkannte ich ihn wieder: Börsenspiel, 13. Klasse.
„Sie kenne ich doch!“, stieß ich hervor.
„Schluss mit dem Theater“, er sagte dies noch immer lächelnd, „Schluss, oder ich hole die Polizei!“.
„Wir sitzen hier bloß, wollen gleich eine Transaktion tätigen, oder wie ihr das nennt. Aktionskurse bestimmen und so. Sie machen mir nix vor. Die ganze Scheiße an Wallstreet und Dax“, hier verhedderte ich mich leider, „die hat nix mit Formel Kosinus durch x² zu tun. Die Leute haben Schiss, dass in diesen Terminals nix Bares mehr drinnen ist.“ Ich zeigte auf einen Geldautomaten. Bimmy hatte die Augen zu gekniffen. Die Wicküler rotierten in seiner Blutbahn. Auch ich geriet ins Stammeln.
„Aha“, der Banker trat auf mich zu. Ich musste irgendwann aufgestanden sein, während ich monologisiert hatte. Er setzte an: „So lässt sich das erklären. Ihr hattet wohl Schiss, dass euch das Bier ausgeht. Also schnell mal Geld abheben, dass es auch tüchtig weiter geht. Aber auf dem Weg zum Automaten habt ihr Schiss gekriegt. Könnte ja nix mehr drinnen sein, in dem Automaten!“
Er klopfte auf das Gerät und lachte laut, aber gekünstelt. Mein Netz riss.
Ich stand auf und trat auf den Automaten zu. Die Bankkarte einschiebend löste ich den Bund meiner Hose. Das Bier trieb gewaltig, wir wären ja ohnehin gleich gegangen, und dieser Banker ist einfach nur ein riesiges Arschloch, dachte ich, mein Netz flickend. Als hätte er noch nie gestottert, wenn er gesoffen hat. Aber vermutlich hat er keinen Spaß im Leben. Wer Freitagabends noch arbeitet, zumal noch in einer Bank, nicht in einem Krankenhaus oder so was, wo das noch Sinn ergibt, wer dann noch arbeitet, kann ja nur ein Spießer sein. Ich drückte auf EUR 10. Unter dem Surren der Apparatur packte ich mein Geschlechtsorgan, trat einen Schritt vorbei am Automaten und urinierte gegen die Scheibe.
„So nicht“, geriet der in Rage. In echte Rage, jetzt war es vorbei mit Lächeln und Formeln aufkritzeln, dachte ich befriedigt. Doch da versiegte mein Pissstrahl bereits. Ewigkeiten war keiner am Fenster vorbei geschlendert, und wenn doch, so wurden wir ob der nun besonders düsteren Dunkelheit nicht beachtet. Jetzt jedoch hatte sich, wie ich glauben mochte, die gesamte Party vor unserer Bank versammelt, die gesamte Partyriege der Party, auf die wir noch gehen wollte. Vorne weg jubelten die Marxisten ob meines Anschlags auf die Statussymbole des Großkapitals. Dahinter wurde einem Dutzend Augenpaaren gewahr, in welchem Sinnzusammenhang Schnösel und Schniedel standen. Auch Bimmy, dessen Puppillen nun zwar ungläubig zur Scheibe starrten, der jedoch kaum noch in der Lage war, einen Fuß vor den nächsten zu setzen, auch er mochte in seinem Zustand erklärend gewirkt haben.
Dumm nur: unter Beobachtung konnte ich noch nie Pinkeln. Der Stirnfaltenschnösel packte mich von hinten. Die drei Urintropfen auf dem Konterfei seiner nun befleckten Bank musste ich bis vorhin auf dem Revier rechtfertigen. Unsere Fans waren schneller weg, als ich Basistender hätte buchstabieren können. Das unterscheidet übrigens die Pseudomarxisten des neuen Jahrtausends von denen früherer Generationen. Keine Molotowcocktails und Straßenbarrikaden wurden errichtet, um uns aus den Fängen des Finanzkapitalismus zu befreien, der Hand in Hand mit der Staatsgewalt kooperierte. Nur einer ließ seine halb volle Flasche fallen, als er auf der Flucht kurz ins Stolpern geriet.
Nun darf ich eine Nacht darüber schlafen und sinnieren, ob es sich lohnt, für jene flachbrüstigen Sozis ein neues Netz zu spinnen. Hier, in der Ausnüchterungszelle, ist die Zeit gegeben. Aber der Zorn?