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Finchen im Nachthemd
Kurz vor Mitternacht, ich rollte den Teppich zusammen, der auf dem Tisch meines Pfeilwurfwagens lag. Aus den Augenwinkeln sah ich eine ältere Dame, langes Sommerkleid, graue Haare die strähnig auf schmalen Schultern fielen. Mit beiden Händen presste sie etwas an die Brust. Die Frau kam näher, sie trug Filzhausschuhe. Kein Kleid, ein pastellfarbenes Nachthemd verhüllte in weiten Falten ihren Körper. Geh weiter!, dachte ich. Zermürbt vom warten auf Kundschaft freute ich mich auf den Feierabend. Sie steuerte geradewegs auf mich zu. Wütend rollte ich den Rest des Teppichs zusammen und stieß ihn auf den Boden. Die Frau stellte sich still vor mein Geschäft und blickte mich an. Ihre rosigen Wangen mit kleinen Knitterfalten und strahlenförmigen Krähenfüßen um graublaue Augen, riefen mir das Gesicht meiner Großmutter ins Gedächtnis. Genau wie diese alte Dame wirkte Oma nie wie eine Greisin. Stets war ein Leuchten in ihren Augen.
Die schmalen, blass rosa Lippen der Fremden öffneten sich.
„Ich habe schon zu!“, warf ich ihr leise, schnell entgegen und lächelte sie dabei an, was mir bewusst wurde, als ihr zahnloser Mund mein Lächeln erwiderte.
„Ich will dir doch nur etwas zeigen.“ Behutsam legten knochige Finger ein altes Fotoalbum auf den Tisch. Sie schlug den abgegriffenen Satineinband auf. Zärtlich strich ihre Hand über das schwarze, mit Fotos beklebte Tonpapier. „Bin ich nicht eine schöne Ballerina?“
Ich beugte mich über das Album, ein hübsches Mädchen mit blonden Schillerlocken, in weißem Tutu und Ballettschuhen, war zu sehen. Jedes Foto zeigte die Ballerina in einer anderen Pose.
„Schau, hier tanze ich eine Pirouette.“ Ihre mit blauen Adern gezeichnete Hand deutete auf eine Aufnahme. Den Hals gestreckt, mit roten Bäckchen, stand das Mädchen auf Zehenspitzen, ein Bein zur Seite angewinkelt und die Arme rund vor dem Körper. „Ich war eine Primaballerina.“ Graziös hob sie den Kopf und schob sich stolz wie eine Diva eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich suchte nach Ähnlichkeiten … es war die Freude in den Augen, der gleiche Blick, die gleiche anmutige Haltung.
„Finchen, Finchen! Wo hast du nur wieder gesteckt?“ Mit großen Schritten trat ein breitschultriger, alter Mann neben die Frau. Die dunkle Krempe seines Stetsons war tief über die Stirn gezogen. Ich sah eine gerade Nase, tiefe Furchen, neben den Mundwinkeln. Er schenkte mir keine Beachtung. „Komm, meine Liebe!“ Fürsorglich legte der Mann seinen Arm um ihre Schultern.
„Aber ich will ihr doch die Fotos zeigen!“
Er griff das Album. „Heute nicht mehr.“ Der Mann zog sie fort. Ich sah den beiden nach, bis sie hinter den inzwischen dunklen Fassaden der Fahrgeschäfte verschwanden.
Morgen werde ich Helmut von gegenüber fragen, ob er dieses Finchen kennt.
In der Nacht träumte ich von Finchen und von Oma. Im Nachthemd lachten und tanzten sie bei einem Faschingsumzug. Die Narren lachten und tanzten mit.
Der Kollege legte gerade seine Dianagewehre auf den Tisch.
„Hallo, Helmut.“
„Hallo, Helen, hast ja gestern nicht viel zu tun gehabt.“
„Nee, wenn das so bleibt, wird es ein einmaliges Gastspiel hier.“
„Also, schießen tun die wie die Wilden, bei mir passt das immer. Sonst hätte ich dir den Platz nicht empfohlen.“
„Vielleicht wird's noch was. War ja mal gerade der erste Tag. Hast du auch die alte Frau gesehen, die im Nachthemd hier rumläuft?“
Helmut lachte: „Finchen? Klar, die kennt hier jeder. Ist Theos Frau. Den Radewitz’ gehört die große Wurfbude gleich am Eingang. Sicher hat sie dir ihre Fotos gezeigt.“
„Mmh.“ Zustimmend nickte ich.
„Sie ist leicht dement. Finchen ist total lieb und schon über fünfzig Jahre mit Theo auf der Reise. Ich glaube, es gibt keinen hier, der ihre Fotos noch nicht gesehen hat. Meistens wechselt sich der Theo mit seinem Sohn ab, damit Finchen nicht alleine ist. Nur, wenn es viel zu arbeiten gibt und beide im Geschäft stehen, ist sie alleine. Alle Kollegen hier passen auf. Wenn Finchen im Nachthemd unterwegs ist, rufen wir Theo an. Warte, ich schicke dir seine Nummer.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und per WhatsApp bekam ich die Rufnummer.
Die folgenden Tage plätscherten vor sich hin. Immer wieder blickte ich in die Budenreihe, doch Finchen sah ich nicht mehr. Am Kindertag lockten die Karussells und Spielgeschäfte mit Preisnachlässen. Überall herrschte Andrang. Nachmittags hörte ich die Sirene eines Krankenwagens. Er musste mitten auf dem Festplatz stehen, dachte ich und zählte die an der Wand zerplatzten Ballons.
Feierabend, ich schloss ab. Helmut stand mit zwei Männern vor seinem Schießwagen.
„Helen, kommst du mit?“, rief er mir zu. „Wir wollen das Fotoalbum von Finchen suchen!“
„Oh je, die Arme! Klar ich helfe.“ Sie hat das Album sicher bei einem Kollegen liegen lassen, schoss es mir durch den Kopf. Die haben doch alle Theos Nummer, die hätten sicher angerufen, widersprach mir ein anderer Gedanke. Zum Glück ist der Festplatz gut mit Flutlicht ausgeleuchtet, wir werden es schon finden. Schnell öffnete ich die Tür, ich wollte meine Einnahmen nicht mit mir herumtragen.
„Hallo, ich bin Helen.“ Ich streckte dem Älteren die Hand entgegen.
„Ich bin Mario. Das ist mein Sohn.“ Er deutete auf den jungen Mann neben sich. „Mir gehört das Kinderkarussell “, fügte er hinzu. „Wir helfen mit, das Album zu suchen. Am besten, wir schauen erst hier in der Budenreihe, ihr rechts wir links“, schlug er vor.
Helmut und ich nickten zustimmend.
„Hast du den Krankenwagen heute gehört?“ Helmut sah mich an.
„Klar, warum?“
„Die haben Finchen mitgenommen. Keiner von uns hat etwas gesehen, es waren einfach zu viele Menschen auf dem Platz.“
Ich bückte mich, und zog unter dem Kasperltheater eine schwarze Brillenhülle hervor. „Mist, ich dachte schon, ich hätte es gefunden!“
Helmut schmunzelte und fuhr fort: „Ein paar Besucher haben sie festgehalten. Dachten wohl, die muss weggesperrt werden, wenn sie im Nachthemd und Hausschuhen unterwegs ist. Finchen hat geschrien und um sich geschlagen. Die Sanitäter haben sie auf eine Bahre geschnallt und in die Psychiatrie gefahren. Dort hat die Ärmste weiter geschrien. Der Arzt hielt es für notwendig, sie zu sedieren. Eine Krankenschwester entdeckte Finchens Notfallkette mit Theos Nummer, sie rief ihn an. Er ist sofort in die Psychiatrie gefahren. Theo meinte, sie wäre nur ausgeflippt, weil ihr Fotoalbum weg war. Er hat mich angerufen und gebeten danach zu suchen.“
Wir standen inzwischen am Ende der Budenreihe. Vor uns der Mittelpunkt des Vergnügungsparks mit den Fahrgeschäften. Hier musste auch der Krankenwagen gestanden haben.
„Mein Sohn und ich werden rings um den Autoscooter suchen.“
„Gut, Helen und ich da drüben“, Helmut deutete auf den Kettenflieger.
„Hier ist etwas!“, zwischen Zigarettenstummeln, Zuckerwattestäbchen und weggeworfenen Verpackungen kniete Helmut auf dem Boden und sammelte ein, was von dem Album übrig war. Es raschelte wie totes Laub im Herbst.
Ich ging in die Hocke und sah, dass sich das Tonpapier Seite für Seite gelöst hatte. Die sorgsam in weißen Fotoecken gehüteten Momentaufnahmen waren herausgerutscht und zertrampelt worden. Daran, wie Helmut seine Lippen zusammenpresste, erkannte ich, wie nahe ihm das ging. Blas und unsicher hielt er die schmutzigen Seiten und die zerrissenen Aufnahmen in seinen Händern. Ich spürte Tränen, jetzt bloß nicht losheulen, dachte ich. „Vielleicht finden wir noch eine Aufnahme, die nicht kaputt ist?“ Heftiger als beabsichtigt, riss ich ihm einen Teil der schmutzigen Seiten aus der Hand. Dabei flatterte ein Foto zu Boden. Hastig hob ich es auf. Es zeigte Finchen, wie sie die Pirouette drehte. Es blieb das einzige Foto, das heil geblieben war.
„Kommt, wir haben das Album gefunden!“, rief Helmut über den Platz.
„Das habe ich befürchtet, die Kids laufen mit ihren Handys vor den Augen rum, die heben nichts auf.“ Wütend stampfte Mario mit dem Fuß auf.
„Eins ist heil geblieben!“ Ich reichte ihm das Foto.
„Bringst du es bitte zu Theo.“ Helmut sah Mario an: „Ich pack das nicht.“
„Ja, mache ich.“ Vorsichtig, wie einen Schatz, nahm er es und wandte sich zum Gehen. „Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“ Sein Sohn folgte ihm.
„Was soll ich damit machen?“ Hilflos streckte mir Helmut das zerfetzte Album entgegen.
„Wirf es in den Müll.“
Er schlurfte zu einem der Eimer und warf Seite für Seite in den Abfall. Schweigend blieb er stehen.
„Komm, lass uns gehen. Es ist schon spät!“ Ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Finchen war noch nie von Theo getrennt. Ihren Sohn, den Freddy, den brachte sie im Wohnwagen auf die Welt. Der große Theo und sein Finchen.“ Er schüttelte den Kopf und stumm begleitete er mich zu meinem Geschäft.
„Du kannst ruhig gehen, ich hole nur meine Tasche raus. Gute Nacht. Schlaf gut!“
„Gute Nacht, du auch!“
Am nächsten Nachmittag las ich die weitergeleitete Nachricht des Platzmeisters auf meinem Handy: Das Herz von Josefine Radewitz hat heute Morgen aufgehört zu schlagen.