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Finchen im Nachthemd

CoK

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24.08.2020
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Finchen im Nachthemd

Kurz vor Mitternacht, ich rollte den Teppich zusammen, der auf dem Tisch meines Pfeilwurfwagens lag. Aus den Augenwinkeln sah ich eine ältere Dame. Sie ging leicht gebeugt und ihre grauen Haare fielen ihr strähnig auf die Schultern. Sie presste etwas an die Brust. Die Frau kam näher. Ihre nackten Füße steckten in Filzhausschuhe. Ein luftiges Nachthemd übersäht mit winzigbunten Blütentupfen verhüllte in weiten Falten ihren Körper. Geh weiter!, dachte ich. Zermürbt vom Warten auf Kundschaft freute ich mich auf den Feierabend. Sie steuerte geradewegs auf mich zu. Demonstrativ abweisend rollte ich den Rest des Teppichs zusammen. Die Frau stellte sich still vor meinen Tisch und blickte mich an. Ihre rosigen Wangen mit kleinen Knitterfalten und strahlenförmigen Krähenfüßen um graublaue Augen, riefen mir das Gesicht meiner Großmutter ins Gedächtnis. Auch Oma wirkte nie wie eine Greisin. Stets war ein Leuchten in ihren Augen.
Die schmalen, blassen Lippen der Fremden öffneten sich.
„Ich habe schon zu!“, warf ich ihr leise, schnell entgegen und lächelte sie dabei an. Was mir bewusst wurde, als ihr zahnloser Mund mein Lächeln erwiderte.
„Ich will dir doch nur etwas zeigen.“ Behutsam legten knochige Finger ein altes Fotoalbum auf den Tisch. Sie schlug den abgegriffenen Satineinband auf. Zärtlich strich ihre Hand über das schwarze, mit Fotos beklebte Tonpapier. „Bin ich nicht eine schöne Ballerina?“
Ich beugte mich über das Album, ein Mädchen schön wie eine Märchenprinzessin, mit blonden Locken, in einem Tutu aus glitzerndem Tüll und seidig schimmernden Ballettschuhen, war zu sehen. Jedes Foto zeigte die Ballerina in einer anderen Pose.
„Schau, hier tanze ich eine Pirouette.“ Ihre mit blauen Adern gezeichnete Hand deutete auf eine Aufnahme. Den Hals gestreckt, mit roten Bäckchen, stand das Mädchen auf Zehenspitzen, ein Bein zur Seite angewinkelt und die Arme rund vor dem Körper. „Ich war eine Primaballerina.“ Graziös hob sie den Kopf und schob sich stolz wie eine Diva eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich suchte nach Ähnlichkeiten … es war die Freude in den Augen, der gleiche Blick, die gleiche anmutige Haltung.
„Finchen, Finchen! Wo hast du nur wieder gesteckt?“ Mit großen Schritten trat ein breitschultriger, alter Mann neben die Frau. Die dunkle Krempe seines Stetsons war tief über die Stirn gezogen. Ich sah eine gerade Nase, tiefe Furchen, neben den Mundwinkeln. Er schenkte mir keine Beachtung. „Komm, meine Liebe!“ Fürsorglich legte der Mann seinen Arm um ihre Schultern.
„Aber ich will ihr doch die Fotos zeigen!“
Er griff das Album. „Heute nicht mehr.“ Der Mann zog sie fort. Ich sah den beiden nach, bis sie hinter den inzwischen dunklen Fassaden der Fahrgeschäfte verschwanden.

In der Nacht träumte ich von Finchen und von Oma. Im Nachthemd lachten und tanzten sie bei einem Faschingsumzug. Die Narren lachten und tanzten mit.

„Hallo, Helen, hast ja gestern nicht viel zu tun gehabt.“
Der Kollege legte gerade seine Dianagewehre auf den Tisch.
„Hallo, Helmut, nee, wenn das so bleibt, wird es ein einmaliges Gastspiel hier.“
„Also, schießen tun die wie die Wilden, bei mir passt das immer. Sonst hätte ich dir den Platz nicht empfohlen.“
„Vielleicht wird's noch was. War ja mal gerade der erste Tag. Hast du auch die alte Frau gesehen, die im Nachthemd hier rumläuft?“
Helmut lachte: „Finchen? Klar, die kennt hier jeder. Ist Theos Frau. Den Radewitz’ gehört die große Wurfbude gleich am Eingang. Sicher hat sie dir ihre Fotos gezeigt.“
„Mmh.“ ich nickte.
„Sie ist leicht dement. Finchen ist total lieb und schon über fünfzig Jahre mit Theo auf der Reise. Ich glaube, es gibt keinen hier, der ihre Fotos noch nicht gesehen hat.
„Aber wer kümmert sich denn um sie?“
„Meistens wechselt sich Theo mit seinem Sohn ab, damit Finchen nicht alleine ist. Nur, wenn es viel zu arbeiten gibt und beide im Geschäft stehen, ist sie alleine. Alle Kollegen hier passen auf. Wenn Finchen im Nachthemd unterwegs ist, rufen wir Theo an. Warte, ich schicke dir seine Nummer.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und per WhatsApp bekam ich die Rufnummer.

Die folgenden Tage plätscherten vor sich hin. Immer wieder blickte ich in die Budenreihe, doch Finchen sah ich nicht mehr. Am Kindertag lockten die Karussells und Spielgeschäfte mit Preisnachlässen. Überall herrschte Andrang. Nachmittags hörte ich die Sirene eines Krankenwagens. Er musste mitten auf dem Festplatz stehen, dachte ich und zählte die an der Wand zerplatzten Ballons.

Feierabend, ich schloss ab. Helmut stand mit zwei Männern vor seinem Schießwagen.
„Helen, kommst du mit?“, rief er. „Finchen hat ihr Fotoalbum verloren, wir wollen es suchen.“
„Oh je, die Arme! Klar ich helfe.“ Sie hat das Album sicher bei einem Kollegen liegen lassen, schoss es mir durch den Kopf. Aber nein, die hatten doch alle Theos Nummer, widersprach mir ein anderer Gedanke. Zum Glück war der Festplatz gut mit Flutlicht ausgeleuchtet, wir werden es schon finden.
„Hallo, ich bin Helen.“ Ich streckte dem Älteren die Hand entgegen.
„Ich bin Mario. Das ist mein Sohn.“ Er deutete neben sich. „Mir gehört das Kinderkarussell “, fügte er hinzu. „Am besten, wir schauen erst hier in der Budenreihe, ihr rechts, wir links“, schlug er vor.
Helmut und ich nickten.
„Hast du den Krankenwagen heute gehört?“ Helmut sah mich an.
„Klar, warum?“
„Die haben Finchen mitgenommen. Keiner von uns hat etwas gesehen, es waren zu viele Menschen auf dem Platz.“
Ich bückte mich, und zog unter dem Kasperltheater eine schwarze Brillenhülle hervor. „Mist, ich dachte, ich hätte es gefunden!“
Helmut schmunzelte und fuhr fort: „Ein paar Besucher haben sie festgehalten. Dachten wohl, die muss weggesperrt werden, wenn sie im Nachthemd und Hausschuhen unterwegs ist. Finchen hat geschrien und um sich geschlagen.“
„Oh je, die Ärmste, bestimmt hat sie gar nicht verstanden, was mit ihr passierte.“
„Die Sanitäter haben sie auf eine Bahre geschnallt und in die Psychiatrie gefahren. Dort hat Finchen weiter geschrien. Eine Krankenschwester entdeckte Finchens Notfallkette mit Theos Nummer und rief ihn an. Theo hat am Telefon geweint, als er mir erzählte, dass der Arzt es für notwendig hielt, sie zu sedieren.“ Theo meinte, sie wäre nur ausgeflippt, weil ihr Fotoalbum weg war. Er hat mich gebeten, danach zu suchen.“
Wir standen inzwischen am Ende der Budenreihe. Vor uns der Mittelpunkt des Vergnügungsparks mit den Fahrgeschäften. Hier musste der Krankenwagen gestanden haben.
„Mein Sohn und ich werden rings um den Autoscooter suchen.“
„Okay, Helen und ich da drüben“, Helmut deutete auf den Kettenflieger.
„Hier ist etwas!“, zwischen Zigarettenstummeln, Zuckerwattestäbchen und weggeworfenen Verpackungen kniete Helmut auf dem Boden und sammelte ein, was von dem Album übrig war. Es raschelte wie totes Laub im Herbst. Ich ging in die Hocke und sah, dass sich das Tonpapier Seite für Seite gelöst hatte. Die sorgsam in weißen Fotoecken gehüteten Momentaufnahmen waren herausgerutscht und zertrampelt worden. Daran, wie Helmut seine Lippen zusammenpresste, erkannte ich, wie nahe ihm das ging. Vorwurfsvoll hielt er die schmutzigen Seiten und die zerrissenen Aufnahmen in seinen Händen. Ich spürte Tränen, jetzt bloß nicht losheulen, dachte ich. „Vielleicht finden wir noch eine Aufnahme, die nicht kaputt ist?“ Heftiger als beabsichtigt, riss ich ihm einen Teil der Seiten aus der Hand. Dabei flatterte ein Foto zu Boden. Hastig hob ich es auf. Es zeigte Finchen, wie sie die Pirouette drehte.
„Wir haben das Album gefunden!“, rief Helmut über den Platz.
„Ist kaputt und im Dreck gelandet.“
Wütend stampfte Mario mit dem Fuß auf. „Das habe ich befürchtet, die Leute laufen mit ihren Handys vor den Augen rum, die heben nichts auf.“
„Eins ist heil geblieben!“ Ich reichte ihm das Foto.
„Bringst du es bitte zu Theo.“ Helmut sah Mario an: „Ich pack das nicht.“
„Mach ich.“ Vorsichtig, wie einen Schatz, nahm er es.

„Was soll ich damit machen?“ Hilflos streckte mir Helmut das zerfetzte Album entgegen.
„Wirf es in den Müll.“
Er schlurfte zu einem der Eimer und warf Seite für Seite in den Abfall. Unschlüssig blieb er stehen.
„Komm, ist schon spät!“ Ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Finchen war noch nie von Theo getrennt. Ihren Sohn, den Freddy, den brachte sie im Wohnwagen auf die Welt. Der große Theo und sein Finchen.“ Er schüttelte den Kopf und stumm begleitete er mich zu meinem Geschäft.


Am nächsten Nachmittag las ich die weitergeleitete Nachricht des Platzmeisters auf meinem Handy: Das Herz von Josefine Radewitz hat heute Morgen aufgehört zu schlagen.

 

Finchen ist total lieb und schon über fünfzig Jahre mit Theo auf der Reise.

Manchmal sieht man ganz deutlich –

wie hier an Deinem kleinen Text,

liebe Conny,

dass Arbeit und Kooperation sich lohnt, und dennoch hab oder hätt* ich (noch) ein paar Flusen anzubieten, wie gleich hier ein Komma

Bitte, geh weiter![,] dachte ich.

Hier ist es nun nur und doch immerhin die Farbe der Augen
Ihre rosigen Wangen mit kleinen Knitterfalten und strahlenförmigen Krähenfüßen um graublaue[..] Augen, riefen mir das Gesicht meiner Großmutter ins Gedächtnis.

„Aber ich will ihr doch die Fotos zeigen.“
klingt das nicht nach mehr als einer bloßen Aussage …!

„Hallo[,] Helmut.“
„Hallo[,] Helen, hast ja gestern nicht viel zu tun gehabt.“

Sie hat ihn angerufen und ihm erzählt, was passiert war.
Besser Zeiteinheit wahren „was passiert ist“ – und das ist ja auch schon vorbei ...

„Hier ist etwas!“[,] hörte ich Helmut rufen. Zwischen Zigarettenstummeln, …

„Das habe ich befürchtet, die Kids laufen doch mit ihren Handys vor den Augen rum, die heben nichts auf. Verdammt.“
Imperative, Flüche, aber auch Wünsche schreien förmlich nach dem Ausrufezeichen. Wahrscheinlich ein Geburtsfehler ...

Und gleich nochmals

„Gute Nacht.“
„Gute Nacht!“ Sein Sohn folgte ihm.
Schon allein der Gleichbehamdlung/-berechtigung halber ..

So viel oder wenig vom

Friedel

 

Lieber Friedel,

herzlichen Dank für Dein nochmaliges aufmerksames Lesen.
Ich habe Kommata und Ausrufungszeichen verbessert, ebenso meinen Zeitenfehler.

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende
Liebe Grüße
Conny

 

Das Herz von Josefine Radewitz hat heute Morgen aufgehört zu schlagen.

Ganz so weit ist es heut in der Früh nicht bei mir gewesen,

liebe Conny,

aber es wirkt auf mich geradezu zwanghaft, statt Korrekturen Verschlimmbesserungen zu erlesen, wenn es heißt

Ihre nackten Füße steckten in Filzhausschuhe. Ein luftiges Nachthemd übersäht mit winzigbunten Blütentupfen verhüllte ….
Mein Vorschlag ist nun, genau die geschwärzten Teile – und nur die! - wie folgt zu korrigieren
Ihre nackten Füße steckten in Filzhausschuhen. Ein luftiges Nachthemd übersät mit winzigbunten Blütentupfen verhüllte ….

Aber nein, die hatten doch alle Theos NummerKOMMA widersprach mir ein anderer Gedanke.

Friedel

 

Lieber Friedel,

ja, war Verschlimmverbessert.
Weißt du, ich bin so euphorisch, wenn ich meinen Texten so weit habe, ich überlese das. Darf nicht sein, ich weiß. Sollte nicht sein, ich weiß.

Danke für deine Korrektur.
Liebe Grüße
Conny

 

Liebe @CoK,

deine Geschichte ist sehr berührend. Du schilderst die Dinge in einer Art, die mein Herz berühren. Scheiß auf die Kommas, scheiß auf die lächerlichen Kommentare, die dir erzählen wollen, dass ein bestimmtes Adjektiv nicht stimmt. "Verführerisch" ist in diesem Zusammenhang für mich absolut das richtige Wort. Wenn jemand diese Geschichte liest und die "verführerischen Lichter" in einen erotischen Zusammenhang bringt, dann ist das ein Kompliment für deinen Text. Es gibt nicht nur verführerische Frauen oder Männer (ihr Wissenden), es gibt auch verführerisches Licht, das einen Menschen anzieht.
Es gibt einen Spannungsbogen, es gibt sehr, sehr gute Formulierungen (wie z.B. "Es raschelte wie totes Laub im Herbst." - auch und gerade im Zusammenhang mit deiner Geschichte).
Kommas und Rechtschreibung sind wichtig, aber das kannst du überarbeiten lassen. Die Intention deiner Geschichte ist entscheidend, die Art der subtilen Wahrnehmung, die du sendest, ist toll.
Mach weiter....
Liebe Grüße
Marcus

 

Lieber @maha,

ich freue mich riesig über Dein Lob, dass mein Text Dich angesprochen hat und er Dir gefällt. Mit Grammatik, Zeichensetzung usw. tue ich mich schwer, das ist im Forum bekannt und ich bin dabei zu lernen.
Es ist tröstlich für mich, dass du es für nicht so „schlimm“ hältst.
Wenn ich einen Text handwerklich „schlecht“ Schreibe, nehme ich den Lesern die Freude und das Verständnis für den Text, denn sie sind ständig am Korrigieren. Viele Autoren lesen nach dem ersten Satz die Geschichte nicht oder sie brechen in der Mitte ab.
Das ist nicht schön …

Kommas und Rechtschreibung sind wichtig, aber das kannst du überarbeiten lassen.
:)
Die Intention deiner Geschichte ist entscheidend, die Art der subtilen Wahrnehmung, die du sendest, ist toll.
Danke
Es gibt einen Spannungsbogen, es gibt sehr, sehr gute Formulierungen (wie z.B. "Es raschelte wie totes Laub im Herbst." - auch und gerade im Zusammenhang mit deiner Geschichte).
:herz:
Es gibt nicht nur verführerische Frauen oder Männer (ihr Wissenden), es gibt auch verführerisches Licht, das einen Menschen anzieht.
Ja, sehe ich auch so. Ich habe jedoch den Anfang umgeschrieben.


Ich danke Dir für Deinen Kommentar und Leseeindruck.

Liebe Grüße von der schwäbischen Alb
CoK

 

@maha,

Scheiß auf die Kommas, scheiß auf die lächerlichen Kommentare, die dir erzählen wollen, dass ein bestimmtes Adjektiv nicht stimmt. "Verführerisch" ist in diesem Zusammenhang für mich absolut das richtige Wort. Wenn jemand diese Geschichte liest und die "verführerischen Lichter" in einen erotischen Zusammenhang bringt, dann ist das ein Kompliment für deinen Text. Es gibt nicht nur verführerische Frauen oder Männer (ihr Wissenden), es gibt auch verführerisches Licht, das einen Menschen anzieht.
Dein Ernst? Andere Kommentatoren beleidigen und ihre Beiträge auch noch verkürzt/falsch/wirr wiedergeben/interpretieren? :aua:
Denk doch mal über den Sinn und Zweck dieses Forums und ein adäquates Miteinander nach - hast du ja offensichtlich noch nicht getan.

 

Lieber, liebe @Maeuser,
das werde ich tun…danke für deinen moderaten Kommentar. Ich gebe zu, dass meine Worte zu den Kommentaren der Geschichte von CoK einer gewissen Impulsivität gefolgt sind. Ich nehme das zurück und entschuldige mich!
Liebe Grüße
Marcus

 

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