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Fingerschnippen
FINGERSCHNIPPEN
Das fliegende, bedrohlich summende Ding wollte einfach nicht verschwinden. Wieder und wieder versuchte sie, mit ihren kleinen Händen nach dem Ding zu schlagen. Unbeholfen holte Sammy aus, schwerfällig sauste ihr Arm durch die Luft, doch statt das schwarz-gelbe Ding, traf sie nur die Stoffverkleidung des Kinderwagens. Über ihr, eigentlich so nah, doch in diesem Moment unendlich weit weg, unterhielt sich ihre Mutter mit einer anderen Frau, die sie zufällig im Park getroffen hatte. Das Ding flog eine Runde um den Kinderwagen, landete auf der karierten Wolldecke und krabbelte zielstrebig in Sammys Richtung. Sammy fing an zu wimmern, aber statt dass ihre Mutter ihr zu Hilfe kam, rüttelte diese nur etwas am Wagen und unterhielt sich mit der anderen Frau weiter. Das Ding, durch die plötzliche Bewegung des Wagens aufgeschreckt, erhob sich in die Luft, drehte zwei kleine Kurven und schoss dann auf Sammy zu, die sich schreiend die Hände vor das Gesicht hielt. Dann fühlte sie ein Kribbeln auf ihrem linken Arm, hörte das bedrohliche Summen. Es gab einen Stich, dazu einen sich explosionsartig ausbreitenden Schmerz, der Sammy veranlaßte, so laut zu schreien, wie sie es vorher noch nie getan hatte. Sie sah noch, wie das Ding aus dem Wagen herausflog, dann kam auch schon das vertraute Gesicht ihrer Mutter ins Bild. Kräftige Hände hoben sie aus dem Wagen. Sie hörte tröstende Worte, die sie nicht verstand. Und für einen kurzen Moment hasste sie ihre Mutter. Noch mehr, als den bösen Mann, der ihr manchmal ein muffig riechendes Kissen ins Gesicht presste...
Für einen Augenblick legte Steve Smith das Buch zur Seite und sah in die Richtung, aus der das Geschrei kam. Eine Mutter hielt ihr weinendes Kind an sich gedrückt im Arm, streichelte über ihren Kopf, während eine andere Frau, vielleicht die Schwester oder Freundin, auf eine Stelle am Arm des Kindes zeigte. Eine Wespe flog um seinen Kopf herum. Steve störte es nicht. Wenn er dem summenden Insekt nichts tat, würde dieses bald weiterfliegen. Er war sicher, selbst für eine Wespe uninteressant genug zu sein. Warum sollte ein Insekt die große Ausnahme bilden? Seufzend lehnte er sich zurück, nahm wieder das Buch zur Hand und las weiter. Seit drei Stunden saß er auf einer unbequemen Holzbank im Park, las das achte Kapitel eines sechshundert Seiten langen Romans des Autoren William Gemini und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das Verbot, in der Öffentlichkeit zu rauchen, ignorierte er konsequent. Smith sah gar nicht ein, warum er sich wie ein Ausgestoßener fühlen sollte, nur weil er Tabak konsumierte. War Kaffee nicht auch eine Droge? Oder Coca Cola? Der in warmen Brauntönen gehaltene Aktenkoffer neben ihm auf der Bank beinhaltete einen Taschenrechner, sechs Kugelschreiber, einen kleinen Notizblock und etwas Obst in einer Dose, sonst nichts weiter. Er passte hervorragend zu dem sauberen Anzug, den Smith trug. Wochen zuvor hatte ihm sein Arbeitgeber ohne Gründe fristlos gekündigt. Es kam nicht überraschend. Schon seit längerem gab es Gerüchte, die eine große Kündigungswelle prophezeiten, die auch vor den Führungsetagen nicht Halt machen würde. In einer dieser Etagen hatte Steve neun und mehr Stunden pro Tag gesessen, über Kalkulationen gebrütet, und die ihm unterstellten Mitarbeiter mit von Hand geschriebenen Memos genervt, die Produktionskosten für das neue Modell eines Parkhausautomaten gefälligst nach unten zu drücken. Smith zündete sich eine neue Zigarette an. Das angesparte Geld würde vielleicht noch einen Monat reichen, danach mußte er wohl mit der Wahrheit rausrücken. Jene bedrückende Wahrheit, dass er keine neue Stelle fand, der seiner Qualifikation entsprach. Die einzigen Jobs, die es in der Stadt noch gab, waren die, die eigentlich niemand wollte. Bei der Vorstellung, Toiletten in der U-Bahn reinigen zu müssen, verzog er angeekelt das Gesicht. Seiner Meinung nach waren das Jobs, die von vornherein keinem Weißen angeboten werden durften. Zufällig sah er einen kleinen Jungen, der über die Wiese des Parks zu seinem Vater rannte. 'Nigger...', dachte Smith und aschte ab. Er hatte eine ungefähre Vorstellung, wie er Jamie und den Kindern beibringen würde, dass große Einfamilienhaus zu verlassen, den Mittelklassewagen zu verkaufen und generell vier bis fünf Schritte kürzer zu treten, was ihren Lebensstandard betraf. Zweimal die Woche ausgehen und beim Italiener speisen, am Sonntag im Kino den neuesten Familienfilm sehen, dazu massig Popcorn und Pepsi... Dinge, die wegfallen würden und mußten. Anfangs hatte die Charade noch einen angenehmen Nebeneffekt gehabt. Endlich konnte Steve, wenn auch nicht in völliger Ruhe, Gemini in Angriff nehmen. Dazu hatte er vorher kaum Zeit gehabt. Leider entpuppte sich der Wälzer schnell als schwer lesbar. Verschachtelte Sätze, bemühte Metaphern, gewolltes Schönsein... Der kleine Nigger hatte den großen Nigger erreicht. Smith warf die Zigarette weg und spuckte zu Boden. 'Verdammte Arschlöcher!' Mit seinen dreiundfünzig Jahren wirkte er immer noch jugendlich. Seufzend fügte er dem Plan in seinen Kopf, was zukünftig alles wegfallen sollte, den wöchentlichen Besuch im Fitnessstudio mit anschließendem Aufenthalt unter einer Sonnenbank hinzu. Er hatte festgestellt, dass der Park im völligen Kontrast zur Stadt lag. Während in den Häuserschluchten Autos hupend und Menschen sich anpöbelnd einen Weg durch das Chaos bahnten, alles grau und trostlos wirkte, schien im Park die Sonne. Darum hatte er sich auch entschieden, hier die Stunden zu verbringen, und nicht wie andere in seiner Situation auf der großen Brücke, die den Nord- mit dem Südteil der Stadt verband, und wo es billiges Bier gab. Den Gedanken, sich die Welt schön zu trinken und ganz langsam das Gehirn und den Körper Richtung Null zu bringen, hatte er zwar gehabt, aber schnell wieder verworfen. Die Erinnerung an seinen Vater, der am Ende nur noch ein ohne Hoffnung sabberndes Etwas war, saß zu tief in ihm. Smith lächelte kurz und las dann weiter im Buch. Jemand setzte sich zu ihm auf die Holzbank. Es störte ihn nicht, die Holzbänke im Park waren schließlich für alle da. Er schielte zu der freien Bank, die wenige Meter entfernt war. Wenn es sich bei dem Jemand allerdings um einen Nigger, oder um einen anderen Penner handelte, würde Smith einfach aufstehen, seine Sachen nehmen, und sich auf die andere Bank setzen. Es war wie mit der Wespe: Ich tu dir nichts. Und du läßt mich in Ruhe.
"Ziemlich warm heute, nicht wahr?", sagte der Jemand.
'War ja klar', dachte Smith verärgert. Er sah zu dem Jemand und stellte erstaunt fest, dass es sich bei dem Jemand um eine Frau handelte, die, nachdem er einen kurzen Blick in den tiefen Ausschnitt ihrer Bluse riskierte, ungefähr seiner Vorstellung einer hörigen Schlampe entsprach, mit der er Sachen machen konnte, zu denen Jamie nie im Leben bereit sein würde. Smith lächelte. "Oh, in der Tat, ja. Wärmer als sonst."
"Ich habs im Vorbeigehen bemerkt."
Irritiert runzelte Smith die Stirn. "Ich verstehe nicht..."
Die Frau setzte ihre Handtasche auf die Bank ab und holte ein Buch hervor. "Gemini. Den liest nicht jeder. Was haben Sie?" Sie zeigte ihm das Cover. 'Taktiken der Wahrscheinlichkeit' war darauf zu lesen.
"Oh... Warten Sie." Die ganze Zeit, während die Frau geredet hatte, war es ihm nicht gelungen, den Blick abzuwenden. Er schätzte sie auf Ende Dreißig. Und sie sah verdammt gut aus. Nervös kramte er die Packung Zigaretten hervor und bot ihr eine an. Sie lehnte dankend ab und präsentierte dabei schneeweiße Zähne. "Also ich lese gerade 'Die Unabhängigkeit des Zufalls'. Leider liest es sich... schwierig."
Die Frau lachte laut und nickte. "Ich weiß. Ich empfinde es auch so. Gemini hat einen furchtbar hölzernen Stil. Unschön. Nicht flüssig." Sie fuhr sich anmutig durchs Haar.
Smith seufzte und zündete sich die Zigarette an. Ein an einigen Nähten gerissener Fußball rollte auf die Bank zu, auf der sie saßen. Smith schaute, woher der Ball gekommen war. Ein kleines Mädchen winkte ihm zu und lachte ihn mit großen, unschuldigen Augen an. Es war farbig. 'Blöde Niggergöre!', dachte Smith verärgert und wußte nicht so recht, was er tun sollte. Die Frau neben ihm zog die linke Augenbraue etwas nach oben und lächelte. 'Scheiße!' Er aschte ab, stand auf und stieß den Ball mit dem Fuß in die Richtung des Kindes. Das Mädchen dankte ihm mit einem herzhaften Kichern und tollte weiter über die große Wiese. "Gern geschehen", presste er mühsam hervor.
"Ich an Ihrer Stelle hätte keinen Finger gerührt." Die Frau schaute kopfschüttelnd dem Kind hinterher. "Manchmal vermisse ich die guten alten Zeiten."
Jetzt war Smith überrascht. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass die Frau offensichtlich seine Einstellung teilte. "Nun", sagte er vorsichtig. "Höflichkeit ist eine Tugend von mir."
"Wenn Sie könnten, würden Sie es ändern?"
"Was?"
Die Frau tippte auf ihr Buch. "Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit einem einzigen Fingerschnippen eine Welt nach Ihren Vorstellungen zu erschaffen..." Ihre Mundwinkel begannen zu zucken. "Wenn Sie Gott sein dürften... Würden Sie?" Sie legte das Buch neben die Handtasche. Dann griff sie in diese hinein und holte einen roten, glänzenden Apfel hervor.
Der plötzliche Wechsel des Themas brachte Smith ein wenig aus der Fassung. "Wie meinen Sie das? Ich mache so..." Er schnippte mehr schlecht als recht mit den Fingern. "Und alle Ausländer sind weg? Oder ich bin unermeßlich reich?"
"So in etwa, ja." Die Frau ließ den Apfel spielerisch von einer Hand in die nächste fallen, und umgekehrt. "Natürlich müssten Sie noch an den Einzelheiten feilen, nicht wahr?"
Er verstand nicht. "Ich verstehe nicht."
"Wenn alle Ausländer weg sind, wer hält dann das System aufrecht?"
Kurz überlegte er und sagte dann voller Überzeugung: "Na wir!"
"Wir?"
"Ja, echte Amerikaner."
"Nein!" Die Frau winkte ab. "So funktioniert das nicht!" Sie beugte sich etwas nach vorn. "Also..."
'Gott, diese Titten!' Smith wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er spürte, wie sein Penis steif wurde. 'Gott, nur eine Stunde und ich...'
"Hören Sie mir eigentlich zu?" Die Frau fuchtelte mit einer Hand vor Smith' Gesicht herum. "Hallo!"
Er zuckte zusammen. "Was? Oh, tut mir leid. Was? Was haben Sie gesagt?" Für einen kurzen Moment war es absolut still um ihn herum gewesen. Es gab nur ihn und die Titten der Frau. Sonst nichts. Vielleicht noch der Gedanke, ob der Rest dem entsprach, wie er es sich vorstellte. Nun flogen einzelne Geräuschfetzen auf ihn zu, drangen in seine Ohren und holten ihn in die Realität zurück. Kindergeschrei. Kinderlachen. Kinderweinen. Kreischende Vögel. Hupende Autos. Leise summende Hubschrauber, die zwischen den Häuserschluchten kreisten. Die sanfte Stimme der Frau, die einfach so aus dem Nichts aufgetaucht war und neben ihm auf einer Holzbank saß, in einem Park, dessen Zentrum eine grüne Wiese bildete und den wuchtige, verdorrte Kastanienbäume umgab. "Verzeihen Sie mir", murmelte er und lächelte verlegen. Sein Penis erschlaffte.
"Schon gut." Sie hob die Hand und wollte in den Apfel beißen, ließ es ab im letzten Moment bleiben. "Sie müssen die Konsequenzen abwägen können, verstehen Sie? Wenn Sie mit einem Fingerschnippen bewirken, dass die Yankees die Meisterschaft gewinnen..." Sie zuckte verächtlich mit den Schultern und spuckte elegant zu Boden. "Das interessiert keinen. Wenn Sie aber glauben, dass Roosevelt niemals hätte Präsident sein dürfen, und dieses verhindern... Dann... Ja, dann..."
"Was dann?", fragte Smith, den das theoretische Spielchen mehr und mehr zu fesseln begann.
"Nun, keine Atombombe zum Beispiel. Verstehen Sie?" Die Frau räusperte sich. "Zumindest nicht in Japan."
"Interessant." Smith sah auf den Apfel und verspürte ein Hungergefühl. Er nahm den Aktenkoffer, öffnete ihn und holte die Dose mit dem Obst hervor.
"Hunger?"
Er nickte. "Ja."
"Sie können den Apfel haben, wenn Sie wollen."
Lächelnd tippte er mit zwei Fingern auf die Dose. "Meine Frau hat mir etwas Obst mitgegeben." Eine Milisekunde später verfluchte er sich selbst, seine Frau erwähnt zu haben. Natürlich würde er niemals Jamie betrügen, aber trotzdem... 'Scheiße!'
"Bei der Hitze..." Blinzelnd sah die Frau nach oben. "Würde mich wundern, wenn das Obst in der kleinen Dose da noch frisch wäre."
"Keine Sorge", murmelte Smith und öffnete die Dose. Kaum, dass er den Deckel einen Spalt geöffnet hatte, schossen dutzende kleine Fruchtfliegen aus dem Inneren der Dose hervor, kreisten um sein Gesicht, blieben in den Wimpern hängen, streiften seine Wangen... Laut schreiend ließ Smith die Dose fallen. Sie prallte auf den Boden, rollte ein paar Mal hin und her und kam dann zum Stillstand. Dicke, gelbe Maden krochen heraus. Smith keuchte und würgte. Angewidert holte er schnell ein zerknittertes Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es sich vor den Mund. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie einige Leute, die sich in der Nähe befanden, zu ihm umsahen, die Augen aufrissen und tuschelten.
Die Frau seufzte und hielt ihm den Apfel entgegen. "Frauen wissen einfach mehr über das Zusammenspiel von Luft, Wärme und..." Stirnrunzelnd kickte sie die Dose weg. "Obst..." Maden flogen durch die Luft. "Der Apfel ist ganz frisch!" Sie hielt ihn gegen die Sonne. "Sehen Sie? Sehen Sie, wie die Haut glänzt?" Spielerisch warf sie ihn hoch in die Luft. Fast schien es so, als ob der Apfel zu schweben schien, bevor die Schwerkraft ihn zurück in die Hände der Frau brachte.
"Das verstehe ich nicht." Smith zerdrückte mit dem Taschentuch eine Made, die an einer der Holzplanken der Bank nach oben kroch. Er schwitzte. Und er war sich sicher, dass Miss All American, die da auf der Bank saß und provokativ lässig ihre langen Beine hin und her bewegte, die dunklen Flecken an seinem Hemd sehen konnte. Und unter den Achseln. Das Jackett lag ordentlich über der Bank. 'Scheiße!'
"Vergessen Sie es einfach, okay?" Sie berührte seinen Arm. "Haben Sie verstanden, was ich meine?"
Smith holte zitternd eine weitere Zigarette aus der Verpackung. 'Menschenskind, macht die das mit Absicht?' Die Brüste der Frauen quollen fast aus der Bluse. "Klar!", beeilte er sich zu antworten. "Große Veränderungen bedeuten schlüssige Überlegungen vorher. Das ist wie mit Hitler. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wer weiß, wie die Welt heute aussehen würde..."
"Genau das ist es!", sagte die Frau und hielt ihm den Apfel entgegen. "Greifen Sie ruhig zu."
Smith sah einer Made zu, wie diese sich abmühte, an einer verrosteten Schraube vorbeizukommen. Der Apfel glänzte in der Tat, reflektierte die Sonnenstrahlen, sah mystisch und in der makellosen Hand der Frau einfach vollkommen aus. Schweigend nahm Smith den Apfel entgegen und grub seine leicht gelben Zähne in das saftige Fleisch.
"Schmeckt er Ihnen?"
Er hob die Hand und schluckte. "Großartig. Vielen Dank."
"Nun..." Die Frau stand auf und zupfte an ihrer Bluse. "Es war nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mister...?"
"Smith. Steve Smith."
"Mister Smith. Ein angenehm altmodischer Name. Hat mich gefreut." Und ohne ein weiteres Wort abzuwarten, schnappte sie sich ihre Handtasche, drehte sich um und ging davon.
Träumerisch sah er ihr hinterher. "Ja, hat mich auch gefreut." Er bemerkte das Buch. "He, Sie haben ihr Buch vergessen!" Doch die Frau war weg, wie vom Erdboden verschluckt. "Ach, Scheiße." Das war das erste Mal seit vielen Jahren gewesen, dass sich aus freien Stücken eine Frau für ihn interessiert hatte. Und auch noch eine verdammt gut aussehende Frau. Er hatte gar nicht nach ihrem Namen gefragt, fiel ihm ein. Vermutlich war es besser. Namenlose Gesichter verschwanden viel schneller aus der Erinnerung. Er biss noch einmal von dem Apfel ab und warf den Rest in den kleinen Mülleimer neben der Holzbank. Es fing an zu regnen. Kleine Wassertropfen bildeten Mikroozeane auf den alten Holzplanken. Schlagartig verdunkelte sich der Himmel, spürbar wurde es kälter, Wind kam auf. Smith packte, ebenso wie die anderen Menschen im Park, seine Sachen zusammen und sah zu, dass er nach Hause kam, bevor, und danach sah es aus, der Sturm richtig losgehen würde.
Die Teller waren noch genau so dreckig wie vorher. Fluchend holte Jamie Smith das Geschirr aus der Spülmaschine. "Blödes Ding!" Es war merkwürdig. Seit der Sturm über der Stadt wütete, schienen die einfachsten, normalsten Dinge auf der Welt plötzlich aus dem Ruder zu laufen. Kopfschüttelnd erinnerte sie sich, wie kurz vor der Auffahrt der Reifen geplatzt und dadurch der Wagen bedrohlich über die Straße geschlingert war. Gerade noch rechtzeitig hatte sie es geschafft, den Chrysler unter Kontrolle zu bekommen, bevor dieser sich mit der Vorderfront in die überquellenden Mülltonnen gebohrt hätte. 'Das ist auch so eine Sache', dachte sie unglücklich, legte einen Teller zu den anderen in das Spülbecken und sah aus dem Fenster zu den Mülltonnen. 'Warum werden die nicht mehr abgeholt?' Dann war da die Sache mit dem Fernseher. Adam hatte sich den Kinderkanal angesehen, sie war in der Küche gewesen, um das Essen vorzubereiten, als sie seinen entsetzten Schrei hörte, panisch ins Wohnzimmer lief und ungläubig zum Fernseher starrte, wo irgendein Monster einer nackten Frau bei Bewußtsein mit einem Schürhaken die Bauchdecke aufriss. Es hatte Stunden gedauert, um Adam wieder zu beruhigen, ihm klar zu machen, dass Fernsehen nicht die Realität bedeutete. Vermutlich war einfach nur die Kindersicherung an der Fernbedienung abgeschaltet worden. Steve hatte nur teilnahmslos mit den Schultern gezuckt, sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt, nur um schnell wieder oben im ersten Stock in seinem Arbeitszimmer zu verschwinden, wo er sich den ganzen Tag lang vor seiner Familie versteckte. "Ich habe zwei Wochen bezahlten Urlaub", hatte er knapp angebunden ihr mitgeteilt, als er vor drei Tagen mit dicken Blöcken an kariertem Papier unter dem Arm nach Hause gekommen war. Und er kam nur aus dem Zimmer, wenn er auf Toilette mußte, oder er sich ein neues Bier holte. Jamie war heilfroh, dass sie keine harten Sachen im Haus hatten.
"Mom?"
Erschrocken ließ sie den Teller fallen, den sie gerade aus der kaputten Spülmaschine geholte hatte, während sie die letzten drei Tage gedanklich nachvollziehte. Der Teller glitt irgendwie liebevoll aus ihrer Hand, drehte sich dabei um die eigene Achse, berührte schließlich den Boden und zerprang, begleitet von einem unangenehmen Geräusch, in viele kleine und große Stücke. "Eve! Großer Gott!"
Eve, das älteste Kind von Steve und Jamie, gerade dem Trotzverhalten eines Teenagers mit einigen Mühen, entwachsen, sah entschuldigend zu ihrer Mutter. "Tut mir leid, Mom."
"Schon gut, ist ja nichts passiert. Teller gibt es wie Sand am Meer." Jamie kniete sich auf die sauberen Küchenfliesen und sammelte die Bruchstücke des Tellers ein. "Was ist?", fragte sie.
"Meine Kreditkarte, Mom." Eve ging in die Hocke und half mit, die kleinen und großen Keramikteile einzusammeln.
Irritert hielt Jamie inne. "Was ist mit der Karte?"
"Die bei 'Wonderworld' haben gesagt, sie sei ungültig."
"Was?" Jamie lächelte. "Die haben sich bestimmt vertan, Schatz."
"So?" Eve stand auf und holte eine kleine Plastiktüte aus einer der Schubladen. "Bei 'Discovery' und 'Dreamland' sagten sie das gleiche."
Sie hoffte, nicht zu genervt zu klingen: "Okay, Schatz. Ich werde mit Dad darüber reden, einverstanden?"
"Klar." Eve seufzte ihr bestes 'Die Welt ist ungerecht' Seufzen und stand auf. "Wo ist Adam?"
"In seinem Zimmer."
"Ich spiele ein wenig mit ihm, okay, Mom?"
Dankbar lächelte Jamie ihre Tochter an. "Du bist eine tolle große Schwester, weißt du das?"
Verlegen winkte Eve ab. "Hör auf, Mom."
"Nein, es ist wirklich so." Sie stand auf und umarmte Eve. "Das mit der Karte regeln wir ganz schnell, Schatz."
"Ja, Mom." Eve gab ihrer Mutter einen Kuss. "Ich bin bei Adam", sagte sie und verschwand aus der Küche.
"Was willst du mit der..." 'Ach, was solls', dachte Jamie. Sie holte den Handstaubsauger aus dem Schrank und saugte die letzten Teile des Tellers weg. Und dann, kaum dass sie damit fertig war, fiel im ganzen Haus plötzlich der Strom aus. "Scheiße!"
"Steve?", rief Jamie nach oben. Die Kinder standen Hand in Hand bei ihr. "Steve!", rief sie erneut, dieses Mal mit etwas mehr Nachdruck.
Oben öffnete sich eine Tür, und sie konnten eine Stimme hören, die irgendwie merkwürdig verzerrt klang. "Was?"
'Das liegt nur daran, dass es so dunkel ist', besänftigte Jamie sich selbst und sah zu den Kindern. Draußen peitschte der Regen gegen die Fenster, der Wind pfiff stöhnend durch jede Ritze des Hauses, und irgendwo ging ein Fenster ständig auf und zu und stieß mit einem unangenehmen Geräusch gegen den Fensterrahmen. "Das Licht, Steve! Kannst du nach den Sicherungen sehen?"
Einen Moment lang war absolute Stille. Dann kam es fast wie ein Bellen aus dem oberen Stock zu ihnen herab: "Nein! Keine Zeit!" Laut wurde die Tür zugeschlagen.
Jamie zuckte zusammen. Adam begann leise zu weinen, sofort hob ihn Eve hoch und drückte ihn an sich. "Danke, Schatz", flüsterte Jamie. "Dad geht es gut. Die Arbeit, wißt ihr..." Es tat ihr im Herzen weh, Eve und Adam belügen zu müssen. Sie verfluchte die nutzlose Taschenlampe, die sie krampfhaft in ihrer rechten Hand hielt. Normalerweise gab es Batterien im Überfluss, lagen in allen möglichen Schubladen und Schränken herum, aber heute... 'War ja klar.' Draußen blitzte es, Sekunden später war ein bedrohliches Grollen zu hören. 'Das Gewitter... So plötzlich wie der Sturm selbst.' Jamie biss sich auf die Lippen und versuchte, den Kindern zu zeigen, dass sie die Situation im Griff hatte. "Okay, ich werde in den Keller gehen, die Sicherungen auswechseln."
Adam schmiegte sich enger an Eve. "Nicht weggehen, Mom!"
"Keine Angst, Schätzchen", sagte sie tapfer. "Eve ist bei dir. Ihr zwei werdet im Wohnzimmer auf dem Teppich warten, okay?" 'Und wenn Dad vorbeischauen sollte, verschwindet ihr so schnell ihr nur könnt!' Plötzlich war ihr der unheimliche Gedanke gekommen. 'Großer Gott! Denk nicht sowas!' Sie nickte den beiden zu. "Also, bis gleich, okay?"
"Ja, Mom", flüsterte Eve leise und ging mit Adam ins Wohnzimmer.
Jamie tastete sich im Halbdunkel an der Wand entlang, bis sie die Kellertür erreicht hatte. "Also gut, Mädchen. Du bist hundert Mal im Hellen diese Treppe hinabgestiegen, dabei am Sicherungskasten vorbeigekommen. Sollte doch ein Kinderspiel sein, das auch in völliger Dunkelheit zu schaffen, nicht wahr?" Sie lächelte grimmig und öffnete die Tür zum Keller. Einen Augenblich noch zögerte sie, dann ging sie vorsichtig in die schwarze Wand hinein, die, wie Jamie dachte, nur darauf gewartet hatte, sie zu verschlingen.
Bei jedem Schritt knarrten die alten Holzdielen. Jamie verfluchte sich, damals nicht die teuere Variante genommen zu haben, als sie den Keller neu ausbauen ließen. Zementstufen gaben kein knarrendes Geräusch von sich. Gott sei Dank hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, einmal in der Woche mit dem Staubwedel eventuelle Spinnennetze und sonstiges Zeug zu beseitigen. Mit einer Attacke eine achtbeinigen, volkswagengroßen Monstrums brauchte sie also nicht zu rechnen. Wovor Jamie am meisten Angst hatte, war zu stolpern und nach einem daraus resultierenden, schmerzhaften Sturz mit gebrochenen Beinen hilflos auf dem kalten Boden zu liegen, während Eve und Adam oben im Wohnzimmer darauf warteten, dass das Licht anging. 'Und wenn du ganz ruhig die Stufen runtergehst, die Sicherungen auswechselst... Alles erstrahlt im hellen Licht, und du bist so übermutig, dass du zwei Stufen auf einmal nimmst, stolperst, dir an einer blöden Holzdiele das Genick brichst, während oben plötzlich Steve im Wohnzimmer steht und die Kinder seltsam anstarrt, und sich dabei mit der Hand über den Mund wischt, Speichel aus den Mundwinkel über sein unrasiertes Kinn läuft...' Jamie mußte stehenbleiben, so sehr zitterte sie. "Denk nicht sowas! Denk, verdammt nochmal, nicht so einen Unsinn!", schollt sie sich und atmete tief durch. 'Hast du mitgezählt? Wieviele Stufen waren das jetzt? Zehn? Zwölf?' Dann hatte sie auch schon das Ende der Treppe erreicht. Inzwischen konnte sie wenigstens die Hand vor den Augen erkennen. Der Sicherungskasten befand sich etwa zwei Meter von der Treppe entfernt. Nur noch ein kurzes Stück geradeaus. Die Sicherungen auszuwechseln, würde kein Problem darstellen. Steve hatte vor einigen Wochen die bisherigen Beschriftungen gegen Leuchtaufkleber ausgetauscht. Die Bezeichnungen würden ihr also geradewegs direkt ins Auge springen. Vermutlich würde sie sogar etwas geblendet werden. Vier kurze Schritte, ein Meter. Noch acht Schritte. Wenn sie ruhig und besonnen handelte, konnte sie in weniger als drei Minuten aus dem Keller raus sein, konnte Eve und Adam in die Arme nehmen, ihre erleichterten Gesichter sehen und sich daran erfreuen. Noch sechs Schritte. Ein Geräusch kam aus irgendeiner Ecke des Kellers. Wie angewurzelt blieb Jamie stehen und lauschte angestrengt. Jetzt war das Geräusch direkt vor ihr, etwas streifte ihre Knöchel. Es hatte sich angefühlt wie... "Oh Gott!" Wenn es etwas gab, wovor sich Jamie besonders ekelte, dann waren das Ratten. Als Kind hatte ihr verstorbener Bruder Lewis mit ihr aus Spaß eine Szene aus dem Film '1984' nachgespielt. Sie war zu klein gewesen, um sich wehren zu können. Minuten hatte es gedauert, bis Jamies Eltern endlich die Tür aufbekamen, sie von dem seltsamen Metallkonstrukt, dass sie im Gesicht hatte, befreien, und die tobende Ratte unter Zuhilfenahme eines dicken Lexikons totschlagen konnten. Nie würde sie den emotionslosen Gesichtsausdruck von Lewis vergessen, der einfach nur an der Wand gestanden hatte und wie ein trotziges Kleinkind nicht akzeptieren konnte ('Oder wollte er es einfach nicht wahrhaben?'), dass er zu weit gegangen war. Jamie hatte stundenlang vor Angst und Schmerzen gebrüllt, selbst dann noch, als die Ratte längst tot war. Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger über die kleine Narbe auf ihre Nase. Täuschte sie sich, oder hatte es zu jucken angefangen? Ein Gefühl von Übelkeit kam in ihr hoch. Tapfer unterdrückte sie es und zwang sich, weiterzugehen. Noch zwei Schritte. Das Geräusch war nun hinter ihr, und sie glaubte, dass es sich um ein leichtfüßiges Tappsen handelte. Noch ein Schritt. Das Geräusch, das Tappsen der Ratte ('Es ist eine Ratte, verdammte Scheiße! Alles, bloß nicht Ratten!) war wie aus heiterem Himmel verschwunden. Jamie verzog qualvoll das Gesicht, als ihr der Gedanke kam, dass die Ratte die Treppe hochgelaufen und nun auf direktem Weg zu den Kindern im Wohnzimmer war. 'Steve wird sich freuen, Unterstützung, was den Angstfaktor betrifft...' "Argh!" Endlich stand sie vor dem Sicherungskasten. Wie erwartet, blendeten sie die Aufkleber, als sie die kleine, quadratische Tür öffnete. "Mal sehen...", murmelte sie leise. "Was zur Hölle..." Soweit sie es erkennen konnte, waren sämtliche Sicherungen in Ordnung. "Was geht denn hier nur vor sich?" Um sicher zu gehen, testete Jamie den Schalter für den Keller. Nichts tat sich. Also lag es nicht an den Sicherungen. Hatte der Blitz im Stromverteiler eingeschlagen, der drei Häuser entfernt bei den Coens neben der Auffahrt stand? 'Aber als der Strom ausfiel, war das Gewitter noch nicht da!' Seufzend schloss Jamie den Sicherungskasten. 'Die Kinder!', dachte sie und ging trotz der Dunkelheit schnell zur Treppe.
Adam saß auf dem teuren Teppich, sah bei jedem Donnern des sich ankündigenden Gewitters angsterfüllt zum einen der sechs Wohnzimmerfenster und anschließend zu Eve. "Im Fernsehen haben sie nicht gesagt, dass es einen Sturm geben wird." Unablässig bildete der Regen Rinnsäle an den Fensterscheiben, an denen abertausende Regentropfen in Zickzackbahnen nach unten glitten.
"Das passiert manchmal, weißt du?", flüsterte Eve.
"Was ist mit Dad? Warum ist er da oben?"
Hilflos zuckte seine Schwester mit den Schultern. "Mom hat gesagt, dass es die Arbeit wäre..."
Unverhofft, fast nebenbei, bemerkte Adam: "Hat Dad noch Arbeit?"
Das flaue Gefühl im Magen, dass seit Wochen Begleiter von ihr war, verstärkte sich, wie auf Kommando. "Klar arbeitet er noch, Adam." Eve strich ihrem Bruder durch dessen lockiges Haar. "Wird schon alles gut werden, okay? Abgemacht? Wenn nicht, dann..." Sie überlegte. "Wenn nicht, dann darfst du mit mir mal einkaufen gehen, okay?"
Sofort verwandelte sich Adams ängstliches Gesicht in das eines hoffnungsvollen kleinen Jungen. "Wow, Eve. Das wäre großartig!"
"Klar, kleiner Mann. Wirst sehen, wir werden Zubehör für die Rennbahn besorgen, neue Hosen, einfach alles..."
"Danke, Eve!" Adam fiel seiner großen Schwester um den Hals und gab ihr einen dankbaren Kuss auf die Wange. "Du bist die beste Schwester, die ich jemals hatte!"
Eve konnte es sich nicht verkneifen und prustete vor Lachen: "He! Du hattest doch vorher noch gar keine Schwester gehabt." Dann hörte sie, wie sich gleichzeitig die Kellertür schloss und eine Tür in der oberen Etage öffnete. Immer noch war es dunkel. Ihr Lachen gefror und unwillkürlich drückte sie Adam fester an sich, der dies mit einem leichten Protestieren quittierte. Zu nahe wollte er nun auch nicht sein. "Ganz ruhig, Adam. Alles wird gut." Eve hatte schreckliche Angst. Sie hoffte, dass Mom zuerst bei ihnen sein würde. Um mit Adam einfach wegzulaufen, fehlte ihr schlicht und ergreifend die Kraft. Zwar hatte sie nur einige Minuten im Schneidersitz verbracht, aber das hatte gereicht, um ihre Beine einschlafen zu lassen. Selbst wenn sie es schaffte, aufzustehen, würde sie unweigerlich zusammenknicken. Eve schloss die Augen und begann zu beten. Zu jemandem, an den sie nicht glaubte, aber inständig hoffte, dass er jetzt, in diesem Augenblick, zu ihnen herabschauen und für sie da sein würde.
Der Weg von Steve und Jamie kreuzte sich genau vor dem Wohnzimmer. Steve, so bedauerte es Jamie trotz der Dunkelheit, sah schrecklich aus. Müde. Tiefe Augenringe. Zersaustes Haar. Die selben Sachen, die er vor drei Tagen schon angehabt hatte. "Steve?", flüsterte sie leise. Was sie für Ängste ausstehen mußte, als sie sich keuchend die Kellertreppe nach oben geschleppt hatte... Für dieses Gedanken war kein Platz mehr. "Steve!"
Verunsichert hielt er sich an einem schmalen Bücherregal fest. "Jamie?" Wie in Trance sah er sich suchend um. "Ich hab es!", flüsterte er leise, irgendwie triumphierend. Dann blinzelte er und machte ein erstauntes Gesicht. "Warum ist es hier so dunkel?"
Jamie sah suchend nach den Kindern. Eve und Adam saßen stumm auf dem Wohnzimmerteppich und umarmten sich. Mittlerweile, obwohl es keinen Strom und somit auch kein Licht gab, konnte man wieder mehr erkennen, als es zuvor der Fall gewesen war, als alles plötzlich ausfiel. 'Es sieht aus, als ob Eve beten würde.' Ihr Mann hatte irgendwas in der rechten Hand. "Steve! Bitte! Rede mit mir!"
"Ich hab es!", wiederholte Steve.
Seine Stimme, stellte Jamie fest, klang genau so merkwürdig, wie vorhin, als sie mit den Kindern an der Treppe stand und nach ihm gerufen hatte. "Was? Was hast du?" Dann erkannte sie, dass ihr Mann einige dieser, mit seiner typischen unleserlichen Schrift vollgekritzelten, karierten Blätter in der Hand hielt. Draußen mehrte sich das Blitzen, verbunden mit dem unweigerlichen Donnern des Gewitters. Und wenn es kurz hell wurde, konnte sie Datumsangaben und Namen erkennen. "Steve!", flehte sie.
Er ließ die Blätter fallen. Unnatürlich langsam fielen sie zu Boden. Wie in Zeitlupe. "Ich habe alles genau berechnet. Alle Konsequenzen abgewogen, weißt du?" Traurig sah er sie an. "Je mehr ich darüber nachgedacht habe, um so mehr glaube ich daran."
"Woran?", flüsterte Jamie und ging ganz langsam rückwärts. In das Wohnzimmer hinein, Richtung Eve und Adam. "Steve?"
Steve runzelte die Stirn. "Es geht um die Möglichkeit, mit einer einfachen Geste alles zu verändern. Die Welt in Ordnung zu bringen." Sein Blick schweifte über die Kinder auf dem Teppich, hin zu Jamie, die ihn verwirrt und panisch ansah, bis hin zu der Frau aus dem Park, die nun einen Meter von ihm entfernt auf dem Boden saß, ihren Rock hochgeschoben hatte und ihn anlächelte, und dabei mit ihrer Zunge spielerisch über ihre Lippen glitt. "Ich muß nur mit dem Finger schnippen, Jamie", sagte er monoton. Die Frau auf dem Boden öffnete die Bluse. "Ja. Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen."
Jamie verstand kein Wort. "Steve? Steve!" Sie sah zu Eve und Adam. Dann wieder zu ihrem Mann. Plötzlich gab es einen lauten Knall, im Wohnzimmer wurde es gleißend hell, und Sekunden später ließ ein gewaltiges Donnern den Boden erzittern. Jamie verlor den Halt unter den Füßen. Sie stieß mit dem Kopf gegen den kleinen Glastisch, den sie vor drei Wochen gekauft hatte. Ein Schmerz breitete sich in ihrem Kopf aus und ließ sie bewußtlos werden.
Steve lächelte zuerst die inzwischen nackte Frau an, dann seine Kinder. "Keine Angst! Gleich geht es uns allen viel besser als vorher!", sagte er leise.
"Jetzt brauchen Sie nur noch mit dem Finger zu schnippen, Mister Smith", sagte die Frau.
"Ja", antwortete er lächelnd. "Ich wußte nicht, dass es so einfach sein kann."
Die Frau aus dem Park nickte. "So ist es."
"Wie heißen Sie eigentlich?", wollte Steve wissen.
"Unwichtig. Sie haben alles durchdacht?"
Er nickte, sah wieder zu den Kindern. "Ja, habe ich."
"Nun, dann tun Sie es!"
"Ja." Er grinste und schnippte mit den Fingern.
ENDE
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03.07.2003