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Fish
Jakob liegt auf einer Bank am Hafen und starrt in den sich langsam bläulich verfärbenden Himmel. Ein paar, sich immerwiederholende, Takte Musik und eine einzige Textstelle gehen ihm durch den Kopf.
Defacing pictures of famous people
On the train
Standing by the Monument
Just waiting for the rain
Morgen um diese Zeit wird Cathy wieder da sein. Jakob weiß nicht genau, wann sie kommen wird, er wird den ganzen Tag hier warten müssen, aber morgen um diese Zeit ist bestimmt schon da. Er ruft sich ihr Bild ins Gedächtnis zurück, ihre weißblond gefärbten Haare, mit dunklem Ansatz und als Pagenkopf geschnitten, ihre hellblauen Augen, ihren dunkelblauen Pulli und ihr nettes Lächeln. Kois sammelt sie, ja die Fische, die japanischen. Darüber haben sie geredet, als er sie das erste Mal, was eigentlich auch das letzte und einzige Mal gewesen ist, gesehen hat, gar nicht weit von hier. Da hat sie auf einer Bank gesessen und Koifotos in ihr rotes Fotoalbum geklebt. Rot wie ihr Nagellack. Er hat ihr über die Schulter geschaut und sie dann angesprochen, etwas schüchtern, aber immerhin. Und das in einer fremden Sprache, hat er, nicht ohne Stolz, gedacht. Obwohl ihm Englisch eigentlich schon lange nicht mehr fremd sein sollte.
Jakob fallen einige weitere Zeilen ein.
I tore a sock to bind up your golden hair
We found a hotel bar to sustain our last night in vain….
Eigentlich ist das Lied ganz gut, denkt Jakob, er könnte es für Cathy singen, wenn er denn singen könnte. Ja wenn man singen könnte, dann wäre sowieso einiges leichter, dann könnte man eine Band gründen oder zumindest in irgendeinem Chor mitsingen, gar nicht um Erfolg zu haben, nur um mal was mitzumachen. Oder Fußballspielen, das ist auch so eine Sache, die die Leute hier gerne tun, die einen hier hätte weiterbringen können, und die er nie gekonnt hatte. Dass die Leute nicht einfach nur da sein können, dass sie immer irgendetwas machen müssen, dass hatte ihn am Anfang doch verwundert, wenn nicht verwirrt.
Das ist vermutlich der Neid, denkt er und der Gedanke beruhigt ihn.
Und Cathy macht ja auch etwas, sie sammelt Koifotos und kümmert sich um die Fische ihrer Eltern. Sie hatte ihm mit ihrem sonnigen Lächeln, und von der Sonne geblendeten, halb zugekniffenen Augen erklärt, was genau sie tat. Sie misst und wiegt die Fische, beobacht ihre bevorzugten Wege, die Entwicklung ihres Musters, gibt ihnen Namen und fotografierte sie. Wenn sie sich mal so um mich kümmern würde, denkt Jakob.
Rahel fährt mit einer großen Bürste durch die Haare ihrer Tochter Jen. Sie geht ein wenig in die Hocke um nah genug an die Haarspitzen zu kommen, und setzt dann die Schere an. Sie schneidet ungefähr fünf Zentimeter ab, Haare fallen zu Boden, Rahel schneidet konzentriert weiter durch das dichte, hellrote Haar.
Die Glöckchen an der Tür klingeln, Jen rutscht von dem, mit grünem Kunstleder bezogenen, Friseurstuhl, bevor Rahel fertig ist, eine unschöne Stufe entsteht. Rahel hört wie Jens nackte Füße über die Fliesen laufen und im Hinterzimmer verschwinden.
Der Kunde ist ein junger Mann. Er ist ein wenig sommersprossig und hat blonde, halblange Haare. Er steht etwas unschlüssig in der Tür und lächelt nett. Als Rahel nichts tut, sagt er, dass er einen Schnitt wolle. Rahel nickt und steht langsam auf. Während sie ein Handtuch holt, mustert sie ihn weiter. Er ist groß und sieht wirklich hübsch aus, er trägt halblange Hosen und ein schwarzes Polohemd. Unbeholfen stellt er seinen Kurierrucksack, Fahrradkurier also, denkt Rahel, auf den schwarz-weißen Kacheln ab. Draußen vor dem Salon sieht sein Rennrad stehen.
Rahel wäscht dem Kunden, der sich als Martin vorgestellt hat, die Haare. Eigentlich ist das Wasser etwas zu heiß, doch er sagt nichts. Er ist schüchtern, denkt sie und betrachtet sein Gesicht. Als er ihren Augen begegnet, wendet sie rasch den Blick ab. Rahel wickelt ihm ein Handtuch um den Kopf. Sie hat selten männliche Kunden.
Martin erklärt mit vielen Gesten, wie er seinen Schnitt haben möchte, doch sie hört kaum zu. Sie lächelt ihn bloß mit ihrem professionellen Lächeln durch den Spiegel hin an, das den Kunden das Gefühl gibt, sie höre aufmerksam zu. Sie weiß bereits seit er den Salon betreten hat, was er für einen Haarschnitt bekommen wird.
Während Rahel die Haare mit Klammern zurecht steckt, zwinkerte sie dem lila Vorhang am Ende des Raumes zu, hinter dem, wie sie weiß, Jen steht und zuschaut.
Sie fragt Martin über seine Arbeit als Fahrradkurier aus. Auch jetzt hört sie nur halb zu, bekommt gerade soviel mit, dass sie das Gespräch weiterführen kann. Die ersten Haarsträhnen fallen. Rahel hört wieder die nackten Füße auf dem Boden, sie braucht nicht erst aufzusehen um zu wissen, dass Jen kommt. Jen klettert auf einen der hohen Friseurstühle und fährt sich mit den, von einem angebrochenen Wassereis in ihrer Hand, klebrig gewordenen, Fingern durchs frischgeschnittene Haar. Dann mustert sie Martin eine Weile. Rahel muss grinsen, als sie merkt, wie dieser in Jens Gegenwart ein wenig nervös wird.
Lea ist eine kleine, zierliche Frau mit blasser Haut und zu krausem Haar, das ihr in unregelmäßigen, wirren Strähnen vom Kopf absteht. Ihre fast farblosen Lippen sind spröde und ihre blauen Augen fixieren rastlos die Menschen in der großen Halle, in deren Mitte sie steht. Nervös knibbelt sie an dem Saum ihrer Jeanstasche herum. Dann geht sie, ganz langsam, auf ein kleines Grüppchen anderer Frauen zu, die in einem Kreis einige Meter entfernt stehen. Lea betrachtet sie. Sie tragen alle bunte Umhängetaschen und Sandalen mit hohen Absätzen, die sie noch größer und schlanker wirken lassen. Sie reden und lachen laut.
Schließlich zwängt sich Lea zwischen die in einem Kreis zusammenstehenden Frauen, was gut geht, weil sie so klein ist. Ihr kommt es vor, als ginge sie den anderen bloß bis zu den Knien. Als sie bemerkt wird, erstirbt die lebhafte Unterhaltung. Alle starren sie an. Von den Gesichtern kennt sie nur eines, das von Hannah, der Frau die ihr jetzt gegenüber steht. Hannah ist groß und hat schöne, gleichmäßig gelockte Haare, die sie bis zu den Ohren trägt. Sie kennt Hannahs Gesicht gut, aber nicht so gut wie ihren Hinterkopf. In jeder Vorlesung sitzt Lea hinter Hannah und betrachtet ihren Kopf. Ihr Gesicht sieht sie selten von nahem, immer nur aus der Ferne, wenn sie alle in der Mensa essen oder in den Fluren auf dem Boden sitzen, und Lea sie aus sicherer Entfernung beobachtet.
Jetzt stehen sie alle hier, ganz nah bei Lea. Ihr Herz rast und ihre Wangen werden rot. Sie öffnet ihren Mund, fährt sich durch die Haare. Sie möchte etwas sagen, doch kein Wort kommt über ihre Lippen. Also lächelt sie nur und dreht sich dann um und läuft davon. Sie hört eine der Frauen „Süß“ sagen, worauf die anderen lachen. Es ist zwar kein eigentlich verletzendes Lachen, doch für Lea fühlt es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Von hinten hört sie noch, wie Hannah ihr „Warte“ hinterher ruft, doch sie bleibt nicht stehen.
Mit Tränen in den Augen und dem Blick starr auf den Boden gesenkt, läuft Lea durch die vertrauten Gänge. Schließlich findet sie einen unverschlossenen Hörsaal. Sie schiebt sich durch die große Tür und lässt sie laut hinter sich zukrachen. Lea lässt sich an der Wand hinuntergleiten und greift dann nach dem Lichtschalter. Nacheinander gehen die grellen Hellogenlampen aus und der riesige Raum mit den rohen Betonwänden verschwindet langsam. Lea tastet nach dem Computer, der neben ihr steht. Irgendwer hat eine CD darin vergessen, die Lea startet.
Thomas spürt ein unangenehmes Stechen im Rücken und richtet sich ein bisschen in dem großen Sessel auf. Das kommt davon, wenn man zulangen in diesen plüschigen Polstermöbeln sitzt, denkt er; er hält ohnehin nichts davon, ganze Restaurants mit weichen Wohnzimmer-Sitzgarnituren vollzustellen, ihm wären einfache Holzstühle lieber. Er denkt über die Kneipe an sich nach, in der er sitzt. Alles ist betont lässig und entspannt gehalten, alles lädt unbarmherzig dazu ein, zwingt einen geradezu, sich wie zu Hause zu fühlen. Aber eigentlich, denkt er weiter, ist es doch so; wenn ich mich wie zu Hause fühlen will, dann bleibe ich gleich dort, dann gehe ich doch gar nicht erst weg, da ist doch ein Denkfehler drin, die ganze Philosophie dieser Kneipen ist doch ein einziger, großer Irrtum. Angesichts dieses Fazits spürt er Genugtuung.
Thomas bestellt noch einen Rotwein und wird langsam ungeduldig. Eine halbe Stunde wartet er nun schon. Lena wird auch kommen, denkt er, und beim Gedanken an sie wird er gleich etwas nervös und trinkt einen großen Schluck. Er fragt sich, warum immer er der jenige ist, der als einziger pünktlich ist und dann wartet und wartet, während alle anderen sich auf mysteriöse Weise bereits vorher treffen, um dann gemeinsam zu einem, anscheinend verabredeten, ihm aber unbekannten, Zeitpunkt herein zu kommen.
Und dann kommen sie wirklich, ungefähr zehn Leute, in kurzen Abständen von einander, die meisten von ihnen kennt Thomas gut. Sie setzten sich um ihn herum, auf die Sofas und die Sessel, und manche holen sich extra Stühle heran. Neben ihm landet ein blonder Kerl namens Frederik, der Thomas sofort in ein Gespräch über seine Universitätskarriere verwickelt. Soweit Thomas es versteht, erforscht er die Verteilung von Mustern japanischer Kois. Einer muss es ja schließlich machen, denkt Thomas heiter und nimmt einen weiteren Schluck Wein. Es verspricht ein guter Abend zu werden, normal aber gut.
Und dann ist da noch Lena. Thomas kennt sie kaum, nur einmal hat er sich gestern kurz mit ihr unterhalten. Sie kommt als Letzte, zusammen mit Thomas gutem Freund Jonas herein. Aus Platzmangel setzt sich Lena auf seine Sessellehne. Auf die Frage, ob das in Ordnung ist, nickt er, vielleicht ein bisschen zu schnell. Um ihn herum wird es lauter, ein angenehmes Gemurmel entsteht, ab und zu sagt er selber etwas, doch meistens hört er, zurückgelehnt und nur mit halbem Ohr, zu. Er mag diese Abende, die sie in Kneipen herumsitzen, auch wenn es szenige Kneipen wie diese sind, die er nicht sonderlich schätzt. Eigentlich ist es mit eine der schönsten Arten, Zeit zu verbringen, denkt er zufrieden.
In einigen Stunden, es können auch einige mehr, aber höchstens 24 werden, wird Jakob Cathy sehen. Sie wird zwangsläufig auf ihrem Weg vom Bahnhof zu ihrer Wohnung an dieser Bank vorbeikommen, es sei denn sie nimmt die Bahn, aber sie hat selbst gesagt, dass sich das nicht lohne, es sei denn es regne. Jakob hofft, dass es zumindest einmal, in dieser doch sehr nassen Stadt, nicht regnen wird.
Es wird langsam kalt und Jakob wird müde. Er schläft in der letzten Zeit sehr viel, daran gewöhnt man sich dann schnell, denkt er. Aber warum nicht ein wenig schlafen, so spät in der Nacht wird Cathy sowieso nicht ankommen, das hätte ja gar keinen Sinn, so spät noch von den Eltern wegzufahren, nur um dann noch später allein durch die Stadt nach Hause zu laufen. Das wäre wirklich unsinnig, es sei denn sie hätte morgen früh etwas wichtiges vor, etwas das es nicht zu versäumen gelte, dann wäre das natürlich gerechtfertigt, dieses Handeln. Aber was könnte das sein, fragt er sich schon im Halbschlaf, wo geht ein Mädchen wie sie hin? Auf einmal ist auch der Rest des Liedes wieder da.
Defacing pictures of famous people
On the train
Standing by the monument
Just waiting for the rain
I’m must passing my time
With you on my mind
I’m just wasting my precious time
With you on my mind
Vielleicht geht sie auf eine Koimesse...
Jen hält einen großen Plastikfisch in der Hand, einen Koi, der Musik machen kann. Jen hat ihn von Rahels Bruder Thomas bekommen, als dieser in Japan war. Sie hat ihn John getauft. Jetzt spielt John eine Passage aus „aber bitte mit Sahne“ Rahel muss noch mehr grinsen. Man kann auf John selbst Lieder spielen und diese dann einspeichern. „Aber bitte mit Sahne“ kommt von Thomas, es ist sein Lieblingsschlager.
Sie betrachtet Martin, der auch lächelt. Thomas und er verständen sich sicher gut. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn Martin mit ihr zusammen in der Wohnung über dem Salon wohnen würde. Sie würden gemeinsam mit Jen frühstücken und Martin würde sie auf seiner Fahrradstange zum Kindergarten fahren.
Es ist sehr warm. Rahel wischt sich die verschwitzten Hände an ihrem gerade geschnittenen, organgefarbenden Kleid ab, das ihr nicht ganz bis zu den Knien reicht.
„Aber bitte mit Sahne“ geht in die zweite Runde, dann noch eine und noch eine. Jen scheint Gefallen an dem Lied gefunden zu haben, und der japanische Fisch grinst fröhlich dazu. Martin stellt die Frage , ob Jen ihre Tochter sei. Was für eine Frage, denkt sie verloren, wir sehen uns doch wirklich ähnlich, bis auf die Haare vielleicht. Und die sind ja nicht unerheblich in einem Friseursalon, daran muss es liegen, dass er so dumme Fragen stellt, er ist verwirrt von ihren roten Haaren oder vom Friseurbesuch an sich, oft scheint er ja nicht zum Haareschneiden gehen, das merkt man ihm an. Wahrscheinlich schneidet sie ihm seine Mutter. Oder seine Freundin.
Mit einem netten Lächeln beantwortet Rahel die Frage. Jen saugt gedankenverloren an ihrem Eis. Rahel schneidet langsamer als nötig, auch wenn sie merkt, wie Martin langsam nervös wird. Vielleicht ist es die Art, wie sie ihn durch den Spiegel anlächelt oder der Anblick von Jen wie sie auf den hohen Hocker sitzt und klebriges Eis auf ihren nackten Beinen verteilt oder vielleicht ist es auch nur die stickige Luft, diese unerträgliche Hitze, denkt Rahel, die ihn möglicherweise bereuen lässt, diesen Salon betreten zu haben. Es kann auch sein, dass er denkt es wäre besser in diesem Moment an einem andrem Ort zu sein. Ganz sicher denkt er das sogar. Der Gedanke stimmt sie trotzig.
Jen fängt an, mit den Beinen zu baumeln, der Koi spielt jetzt ein anderes Lied, belustigt stellt Rahel fest, dass es das Titellied von Moulin Rouge ist. So etwas sollten kleine Mädchen eigentlich nicht hören. Sie selbst, Rahel, hat es auf den Koi gespielt. „Voulez vous couchez avec moi…ce soir… « singt Jen in unsicherem Französisch mit.
Martin fängt sichtlich an zu schwitzen. „Hör zu“, sagt er und unterbricht damit das längere Schweigen, „ich muss bald los, vielleicht geht das auch ein wenig...“, das Wort „schneller“ bringt er nicht über die Lippen, er ist zu höflich, denkt Rahel, will nicht gemein sein.
Sie reagiert gar nicht, schneidet einfach ruhig weiter. Martin sieht hilflos aus, und es scheint ihm auch nicht zu helfen, dass Jen ihn nun ununterbrochen anstarrt. Er verknotet die feuchten Hände im Schoß. Schließlich ist Rahel fertig. Der Haarschnitt ist hübsch geworden, ungefähr so wie sie es sich vorgestellt hatte. Martin keucht überrascht, als er sich selbst im Spiegel sieht, jedoch sagt er nichts mehr, nimmt bloß seinen Rucksack und zahlt dann schnell. Es kümmert ihn auch nicht, dass Rahel ihm einiges mehr berechnet, als auf der Preistafel steht. Fast schon rennend verlässt er den Salon und schwingt sich auf sein Fahrrad.
Lea zuckt zusammen, als seltsame Geräusche und Töne erklingen, dann kommt eine kraftvolle Stimme und ein mitreißender Rhythmus dazu. Der Beamer wirft ein riesiges Muster auf die gegenüberliegende Wand, das in der Dunkelheit umso stärker leuchtet. Es sind zwei Fische, japanische Kois, wie Lea zu wissen glaubt, die im Rhythmus zur Musik kraftvoll über die Wand schwimmen. Sie dreht die Lautstärke höher, der Klang erfüllt den ganzen, riesigen Raum. Es ist seltsame Musik, wahrscheinlich experimentelle, denkt Lea, doch sie kennt sich nicht gut mit Musikarten aus. Es sind keine wirklichen Instrumente vorhanden, die Töne klingen künstlich, findet sie, und auch die Frauenstimme kommt ihr seltsam hoch vor, außerdem liegt etwas Drängendes in ihr. Lea gefällt, was sie hört.
And you can use
these teeth
as a
ladder up to
the mouths cradle
Leas Fuß fängt an, sich im Rhythmus zu bewegen. Immer wieder erklingen die gleichen Worte, die gleichen Melodien, die so seltsam falsch und unstimmig wirken, aber zusammen aber einen Sinn ergeben. Das Lied wirkt eine ungeheure Kraft auf Lea aus. Sie steht langsam auf. Mit der Hand streicht sie über den langen Tisch neben ihr. Sie schließt die Augen, die Fische hinterlassen ein grelles Muster auf ihrer Netzhaut. Langsam fängt sie an, sich zu der Musik zu bewegen. Erst zögerlich, dann sicherer.
The simplicity of the ghostlike beast
the purity of what he wants
and where it goes
always loves you
always loves with infrared love
Thomas betrachtet Lena weiter. Er hat schon lange nicht mehr an Frauen gedacht, hat auch nie sonderliches Glück mit ihnen gehabt, eigentlich ist er, so wie es ihm vorkommt, immer nur enttäuscht worden, aber mit der hier, mit ihr könnte man es versuchen, findet er. Ja, er beschließt es sogar, und fühlt sich ein wenig feierlich dabei. Er ertappt sich beim Denken von etwas wie „der Kampf kann nun beginnen“, das ist eindeutig der Wein, denkt er belustigt, und lacht über sich selbst. Ein, angesichts der Tatsache das hier überhaupt erst Beschlossen und in keiner Weise gehandelt wurde, völlig ungerechtfertigtes Glücksgefühl, ja fast Euphorie, steigt in ihm auf und er fragt sich albern, ob er dafür nicht ein wenig zu alt sei.
Lena geht auf die Toilette oder etwas zu Trinken holen, oder andere Freunde begrüßen, jedenfalls ist sie auf einmal weg. Jonas beugt sich sofort zu Thomas hinüber. Er redet von einer Frau, die er toll findet, auch er ist ganz euphorisch und wohl nicht mehr ganz nüchtern, da haben wir ja gleich zwei Sachen gemeinsam, denkt Thomas, immer noch albern und nicht ganz zuhörend, und wie nah sie sich schon stehen, erzählt Jonas weiter, dass sie sich bereits einige Male allein getroffen haben und dass es gerade richtig spannend wird. Thomas hört nur halb zu, bis er begreift, dass Jonas von Lena spricht. Wegen ihm ist sie überhaupt mitgekommen. Wegen Jonas ist sie Thomas überhaupt vorgestellt worden.
Jakob wird wach weil ihn jemand in die Hüfte piekst. Er macht die Augen kurz auf, und schließt sie dann sofort wieder, da das grelle Sonnenlicht ihn blendet. Ohne darüber nachzudenken, wo er ist, drehte er sich auf die Seite, und fällt dabei von der Bank. Jemand lacht fröhlich. Auf dem Boden sitzend, schaut er nach oben und sieht Cathy. Sie trägt wieder ihren blauen Pullover und auch ihr Nagellack ist noch der selbe, nur etwas abgekratzter. Auf dem Rücken trägt sie einen Rucksack, der größer als sie selbst zu sein scheint, und unter dem einen Arm klemmt ihr rotes Fotoalbum, in der Hand hält sie einen riesigen, mit Wasser gefüllten Plastiksack, in dem ein großer Fisch schwimmt, wahrscheinlich ein Koi. Cathy strahlt ihn an.
„Hier“, sagt sie, und hält ihm den Fisch entgegen, „ für dich. Er heißt Frank, das kann man auch deutsch aussprechen. Damit er sich hier und bei dir zuhause wohlfühlt. Weißt du, zwei Fische bei meinen Eltern, Lisa und Paul, haben überraschend Junge gekriegt, da hat er nicht mehr hineingepasst...“Sie redet und redet, während Jakob Frank anschaut. Er ist weiß und hat ein kleines, rotes Muster ganz vorne auf der Nase. Jakob findet, dass Frank nicht unbedingt elegant, aber doch sehr nett aussieht.
Lea hat noch nie etwas wie dieses Lied gehört, und sie hat noch nie diese Stärke in sich gespürt. Es ist nicht nur Stärke, es ist Wut. Auf einmal fühlt sie Wut statt Unsicherheit, Trotz statt Angst.
And these teeth
are a ladder up to his mouth
all these teeth are a ladder
that I walk
the mouth, mouth's cradle
Als das Lied langsam zu Ende geht, kommt Lea zur Ruhe und als die Anlage ausgeht, strafft sie die Schultern und öffnet die Hörsaaltür. Sie geht mit entschlossenem Blick hinaus in die Menge.
Thomas schließt die Augen und achtet nicht auf Jonas Frage ob mit ihm alles in Ordnung sei. Natürlich ist das albern, schließlich kennt er sie ja kaum. Kein Grund, traurig zu sein, ja es wäre vermutlich ohnehin nichts geworden. Man darf sich da in nichts reinsteigern, das ist gefährlich. Aber wenn man einmal damit angefangen hat, Sachen zu beschließen, kann man so schlecht zurück. Er seufzt.
Warum, fragt sich Thomas, komme ich eigentlich immer zu spät obwohl ich doch jedes Mal als erster anwesend bin?
Nachdenklich sieht Rahel Martin hinterher. Der Koi spielt im Hintergrund „Wer wird denn weinen“. Sie sieht Jen an, die ihren Blick mit einem Seufzen erwidert.
„Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht, wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht. Man sagt auf Wiedersehen und denkt sich heimlich bloß, na endlich bist du wieder ein Verhältnis los....wer wird denn weinen...“
Rahel fegt die Haarsträhnen zusammen.
„Du freust dich doch, oder?“, beendet Cathy abrupt ihren Wortschwall und sieht ihn etwas besorgt an. Er grinst sie an, was nicht leicht ist, da er in der letzen Zeit nicht viel gegrinst hat, und nickte. Sie scheint zufrieden. „Komm mit, wir besorgen dir ein Aquarium.“ Sie greift nach seiner Hand und zieht ihn hoch, dann drückt sie ihm Frank in die Hand.
Er sieht sich um. Die Promenade ist wieder voller Menschen, doch diesmal stören sie ihn nicht. Irgendwie gehören sie sogar dazu, Frank und er.