- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Flüchtig
Er verzieht sich hinter seinen Schreibtisch und fixiert die Geschäftspapiere, die sie ihm gebracht hat - in einer abgewetzten Mappe gewissenhaft vorbereitet. Mit kleinem, mutlosem Schriftzug hat sie vorab unterschrieben. Nun greift er beherzt zum Füller und ergießt sich hemmungslos daneben, dringt mit dem letzten verwegenen Schlenker seines Namenszuges tief ein in ihre geduckte Schrift. Als sich danach ihre Blicke streifen, begegnen sich Ahnungen im Nebel. Sie glüht, erfüllt von einem schamlosen Gefühl. Eine jener Fantasien, die wie ein Blitz in die eintönige Ordnung krachen, wenn man noch kurz danach meint, es wäre plötzlich heller als die Wirklichkeit gewesen.
Vielleicht spürt er ihren verborgenen Zauber, erscheint sie doch immer wie ein Geschenk, das vergessen wurde. Sie fühlt einen Hauch von Macht, weil er sie anders als sonst betrachtet und sie endlich den Mut findet, seinen Blick auszuhalten, ihn zu genießen, mit vollen Atemzügen und instinktiv. Schauen. Direkt. Abgründig. Von jetzt an wird sie nicht mehr so zaghaft unterschreiben, sondern wild und sinnlich!
Unbehaglich räuspert er sich. Erhebt sich, als würde er sonst ertrinken. „Ist das alles?“ Er hält ihr die Unterschriftenmappe mit angewinkeltem Arm hin, damit sie näher kommen muss, lockt sie, wie ein scheues Tier. Als sie die Hand ausstreckt, hält er ein wenig länger fest; eine aufregende Verbindung zweier unentschlossener Bewegungen. Sie greift nicht wirklich zu, er lässt nicht richtig los.
„Ich hätte da noch einige ungeklärte Fälle, über die ich mal mit Ihnen reden müsste“, sagt sie, dämpft ihre Stimme wie in einer Kirche. „Damit wollte ich Sie heute aber nicht mehr belästigen.“
Er blickt auf die Uhr. Es ist schon spät für einen Freitag, an dem alle längst fröhlich das Wochenende genießen. Sie sind wieder mal die letzten im Büro. Er ist präsent, sie aber versteckt sich nur.
„Lassen Sie uns das lieber Montag machen“, sagt er entschieden. „Irgendwann muss ja mal Schluss sein. Sie sollten jetzt nach Hause gehen.“
Sie wirkt ein wenig verunsichert und sein plötzliches Loslassen bringt sie vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Aber im nächsten Augenblick hat sie sich schon wieder gefangen.
„Dann ist ja soweit alles klar“, sagt er.
„Ja“, entgegnet sie und huscht mit den Papieren aus seinem Büro. Die Post will sie noch schnell fertig machen, während ihr schüchterner Duft eine Weile bleiben wird; bis auch der sich dann irgendwann verflüchtigt hat.