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Flaschenpost
I
Mein Kreuzdampfer stach am 12. August 1994 gegen vier Uhr Nachmittag in See, wobei sich die Abfahrt um einige Stunden verzögert hatte, da die verantwortlichen Offiziere des Schiffes solange gewartet hatten, bis die harsch heranbrausenden Wellen, die wild gegen die Ufer des Hafens geklatscht waren, zu einem geruhsameren Seegang abebbten, der als risikofrei eingestuft wurde.
Schon bald darauf war der schmale Streifen Land hinter uns zwischen dem wolkenverhangenen Himmel und dem Meer verschwunden wie ein Traum nach dem Erwachen.
Wie ein flüssiger Samtteppich lag das Wasser unter meinen Blicken von der Reling aus da, schmiegte sich sanft an die eisernen Wände des Schiffes, das wie ein Delphin durch die zierlichen Wellen glitt. Noch beim Einschiffen war das Gedränge um das Betreten des Schiffes groß gewesen, hunderte Leute hatten ungeduldig vor der verrschlossenen Aufstiegstreppe ausgeharrt, Stunde um Stunde auf die Uhr geblickt; doch wie ich damals nahezu allein auf dem Deck stand, den Blick in die Ferne gerichtet, und der schneidend kalte Wind durch mein Haar fuhr, da überkam mich die Illusion alleine auf dem Rücken eines riesigen Meerestiers zu reiten, das mich auf seine Reise durch die Meere der Welt mitnahm.
Das Rauschen der gebrochenen Wellen, die winzige Vibration der Schiffsmotoren, die durch den Boden und das Geländer fuhr und die Aussicht auf endlose, blaue Wasserfelder, die meine Blicke unendlich weit gleiten ließen, bis zur Krümmung der Erde und dem Horizont, über dessen Grenze sich der wolkenweiße Himmel empor hob.
Das Wasser, das am Schiff entlang floss, gebar sich kröselnde Strudel, die zum Ende des Dampfers gezogen wurden und dann im Inneren des aufgebauschten, Gischt durchwogenen Gewühl der Turbinen verschwand.
Dies war zwar meine erste Schiffahrt, doch sogleich fühlte ich eine seltsame Verbundenheit mit dem Meer. Der Geruch, der von der Wasseroberfläche vom Wind aufgenommen und über das ganze Deck getragen wurde, rief in mir eine unvorstellbare Zufriedenheit und eine zwar kurzweilige, aber umso intensivere Illusion von Freiheit hervor.
Meine Tante wartete in Boston auf mich, ich wollte die Sommerferien bei ihr verbringen, doch wie ich da auf dem Deck stand, mich weit über das Geländer hinausbeugte, gierig den Geruch des Meeres aufsog und der Wind mich hinfort zu tragen schien wie ein Ahornblatt, wollte ich ewig ein Begleiter der Wellen und der Wale sein.
In der Nacht wurde ich durch ein markerschütterndes Donnern geweckt, das durch sämtliche Wände des Schiffes drang und sich aufgrund des hin und hergeworfenen Schalls wie die Geräusche einer Kriegsschlacht anhörte. Das Schiff schwappte unruhig umher wie eine Kinderschaukel, doch beunruhigt war ich nicht. Ich zog mich an und eilte hinaus auf Deck.
Strömender Regen ergoss sich wie Gewehrfeuer auf den stählernen Ozeanriesen, doch unter der unwägbaren Kraft des Wasser, das von allen Seiten attackierte, wankte selbst dieser Koloss beträchtlich, sodass ich allmählich doch etwas nervös wurde.
An Deck bot sich mir ein unvorstellbares Inferno dar. Kaum war ich nach draußen gelangt, erfasste mich die Gewalt des Unwetters und selbst, wenn ich zurück gewollt hätte, wäre ich an diesem Chaos aus Regen und Wind gescheitert. Doch ich wollte es nicht. Ich musste bis zum Geländer gelangen und die entzürnte, tobende See mit eigenen Augen sehen.
Die Regentropfen stämmten sich gegen mich, wollten mich ins tiefe, brodelnde Meer hinausspülen. Der Wind zerrte an mir, als wolle er mich in die Höhe hinfortreißen, wo sich tiefhängende, von Blitzen durchzuckte Schwärme gigantischer Gewitterwolken bekriegten.
Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte kämpfte ich mich bis zum Geländer vor, klammerte mich daran und erzitterte beim Anblick, der sich mir darbot. Dutzende von Blitzen durchschnitten die schwüle Luft über dem Meer, warfen kurz aufglimmende Lichtschimmer über die gepeitschte See, deren meterhohe Wellen einen infernalischen Tanz vollführten. Brausende Fluten warfen sich gegen das Schiff, erfassten es wie ein Spielzeug und hilflos schien es sich zwischen unbändigen, schäumenden Wellen im unüberblickbaren Gefecht der Naturgewalten zu verlieren.
Nur wenige Sekunden danach brach das Chaos aus auf dem Schiff aus. In Sekundenbruchteilen strömten unzählige in Regenponchos gehüllte Gestalten aus den Türen, die unter Deck führten und rannten in wilder Panik ziellos umher.
Hinter den Regenschleiern verschwammen die Umrisse des Schiffes und der Menschen zu einem unidentifizierbaren Gemisch aus dunklen, verwaschenen Farben und Dingen. Das Getöse des Unwetters lag brüllend im Hintergrund, laut und alldurchdringend, doch nun mischten sich entsetzte Schreie und schrilles Kreischen bei.
In rasender Geschwindigkeit hatte sich das Deck mit Leben gefüllt. Männer schoben ihre Frauen und Kinder zu den verankerten Rettungsbooten, als aber nach einer Weile niemand kam, um diese ins Wasser zu lassen, begannen sie wild darauf einzuschlagen und versuchten sie mit allen Mitteln zu lösen. Die Wellen schwappten über die Kante des Decks und rissen ganze Gruppen von Menschen mit sich ins Wasser. Die Windböen verzerrten ihre Gesichter zu bizarren Bildern des Schreckens.
Das Schiff taumelte nun wie ein angeschlagener Boxer im Ring. Alles herum verblasste zu einem undeutlichen, vagen Traum, der außerhalb dieser Welt geträumt wurde.
Der Boxer wartet auf den finalen Schlag, der ihn zu Boden schmettert und ihn in die Welt der Träume schickt. Doch dieser Traum endete jäh, aber nicht unvorbereitet. Ich sah die monströse Welle, wie sie sich aufbauschte, mit jedem Meter tausende Liter schwarzblaues Wasser ansog, eine schäumende Gischt vor sich herantrieb, hervorschnellte wie die heranrasende Faust eines Schwergewichtlers, dessen anvisiertes Opfer sein Ende wenige Augenblicke vor Augen hat, seinen Untergang aber nicht mehr realisieren kann.
Das Rauschen der Welle eilte seinem Ursprung voraus. Wasserzungen umschlangen die stählernen Muskeln des Schiffes, die unter der Wucht des Aufpralls brachen wie klappriges Geäst.
Die Welle erfasste mich, nahm mich in sich auf und wehrlos tauchte ich hinab in den Sturm der Gewässer.
Die Kräfte des Meeres zogen mich hinab unter die Wasseroberfläche, trugen mich bestimmt und herrisch umher, ohne mich jedoch zu verletzten. Die Kälte glitt an meiner Haut entlang, fuhr aber nicht in meine Glieder. Völlig unvermittelt hatte mich beim Eintauchen ins Wasser eine friedlich Stille umfasst, als hätte jemand eine Käseglocke über mich gestülpt, die sämtliche Geräusche des tobenden Sturms absorbierte und von mir fernhielt. Über mir sah ich die brausenden Wassermengen über mich hinfort tosen, gewaltige Blitze zuckten über mir, doch davon spürte oder hörte ich nichts. Das Unwetter kam mir vor wie ein Film, der in weiter Entfernung an mir vorbeizog.
Ich befand mich abseits des Schlachtfeldes, die sanften Strömungen ließen mich schweben und obwohl ich nicht atmen konnte und völlig hilflos von Gewalten beherrscht wurde, die scheinbar unkontrollierbar waren, empfand ich keine Angst oder Erregung.
Ich wand meinen Blick von der Wasseroberfläche ab und blickte in den abgrundtiefen, schwarzen Schlund des Meeres.
Der Tod, der mich bald ereilen musste, dessen fauliger Atem meinen Nacken schon kitzelte, wusste, dass ich nicht sterben würde, sondern von etwas beschützt wurde, das mächtiger war, als er selbst.
Vielleicht hatte ich deswegen keine Angst, wusste aber auch nicht, wer oder was mich beschützte.
Langsam verengte sich mein Blickfeld, der äußere, schwarze Rand zog immer näher Richtung Mitte und vermischte sich mit dem schwarzen, bodenlosen Abgrund des Meeres, sodass bald nur noch finstere Dunkelheit vor meinen Augen war.
Ich spürte meine Glieder erschlaffen, eine dumpfe Taubheit ergriff von mir Besitz. Die Welt entfernte sich von mir, immer tiefer sank ich hinab in die unendlichen Schluchten des Meeres.
Meine Lunge schrie nach Luft, der Druck schien mir den Kopf zu zerreißen. Schon als ich dachte, tot zu sein, vernahm ich eine blubbernde Stimme, die so klar und deutlich erklang wie eine Stimmgabel. Dann fiel ich in Ohnmacht.
II
Über das kleine Boot, in dem wir uns befanden, war eine Kunststoffplane gespannt, ohne deren Schutz vor der sengenden Hitze wir wahrscheinlich schon auf See gestorbenen, oder besser gesagt, verdorrt wären.
Wir waren zu viert, mich eingeschlossen. Mein Name ist John Riley und ich bin 17 Jahre alt. Neben mir waren noch Shirley Briston, Michelle Turner und Alexander Robach mit an Bord des kleinen Schiffes. Soweit ich weiß, waren wir die einzigen Überlebenden des Schiffunglücks.
Alexander hatte mich aus dem Wasser gezogen, als ich kurz vor dem Ertrinken gewesen war. Shirley hatte mir erzählt, dass sie dieses Boot in Form eines Koffers auf jede Schiffsreise für Notfälle mitnähme und das Michelle, die ebenfalls sehr jung, wahrscheinlich kaum älter als ich, ähnliches durchgemacht hatte wie ich und ebenfalls von Alexander aus dem Wasser gezogen worden war.
Alexander hatte ein markantes, autoritäres Gesicht und wirkte auch sehr muskulös. Er war der Älteste von uns und Polizist, wesewegen er mich sogleich wortwörtlich anwies, seinen Anordnungen folge zu leisten. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden, obwohl er mir das Leben gerettet hatte. Seine dunkelbraunen, kurzgeschnittenen Haare im Millitärstil untermauerten nur noch seine dominante Art. Shirley wirkte wie der direkte Gegenpol zu dem stets im Befehlston sprechenden Alexander.
Ihre schmale, fast zierliche Figur stand ganz im Kontrast zum riesenhaften Cop und sie wirkte wie verloren, wenn sie neben ihm saß oder selten auch stand. Sie hatte hellblondes, leuchtendes Haar und trotz der aussichtlosen Situation, in der wir uns befanden, immer ein zuversichtliches Lächeln auf den Lippen. Und als letzte Begleitung unserer Truppe muss ich Michelle erwähnen, die ich selbst noch jetzt mit gemischten Gefühlen betrachte.
Ihr ein passendes Charakterprofil zu geben, wäre schwierig. Sie hatte schwarze Haare, die ihr wild wie ein Dornengeflecht vom Kopf abstanden, ihre hysterisch wirkenden Augen blickten sich ständig fast panisch nach Schiffen um und war permanent wechselnden Launenschwankungen unterworfen, die von ruhig und schweigsam bishin zu ängstlich verstört reichten.
In gemäßigteren Phasen gewann man den Eindruck, eine intelligente, hübsche, junge Frau vor sich zu haben, doch sobald ihre schubweise hervortretende Panik die Oberhand gewann, war sie kaum zu bändigen und nur Alexander war in der Lage, sie durch seinen strengen Blick und harte Worte wieder zu besänftigen.
Der stämmige Alex war Deutscher, sprach aber fließend Englisch, weswegen die Kommunikation zwischen uns problemlos ablief. Irgendwie aber spürte ich instinktiv, dass keiner der anderen eine rechte Sympathie für ihn empfand. Er nahm sich selbst zu wichtig und spielte sich in kritischen Situationen unnötig auf. Die meiste Zeit aber, die wir in den kleinen Rettungsbott auf See verbrachten, wurde von unbehaglichem Schweigen gefüllt, das wir aber glaube ich alle brauchten, um selbst mit dieser Situation fertig zu werden.
Wir versuchten uns so wenig zu bewegen wie möglich, um den Flüssigkeitsverlust durch Schweiß möglichst gering zu halten. Shirley hatte ihren Rucksack mit an Bord retten können, sodass wir zwar kleine Nahrungs- und Wasserreserven hatten, da wir aber nicht wussten, wie lange wir auf See treiben würden, beschlossen wir, die letzten Verpflegungsmittel aufzubewahren. Ein weiteres Utensil, das sich in ihren Rucksack befand, sehen Sie hier vor sich, wenn sie diese Zeilen lesen. Ein Schreibblock, auf dem ich die tragische Geschichte unseres Schicksals hinterlasse.
Der Wellengang schaukelte uns sanft durch, doch mit der Zeit gewöhnten wir uns daran. Vielleicht war es Schicksal, aber diejenige, die die Insel entdeckte, war Michelle.
Wir anderen lagen an die Wand der Plastikplane gelehnt und dösten vor uns hin, als ihre schrill bebende Stimme wie der Schrei einer Möwe über uns hereinbrach.
"Kommt! Schnell! Eine Insel!!!"
III
Die hellblauen Wellen verliefen sich an dem gelbbraunen Sand, der in der glühenden Mittagssonne nahezu glühen zu schien. Nach etwa zwanzig Meter begannen vereinzelte Palmen die Vegetation anzkündigen, die sich dann in kurzen Abständen zu einem wahrlichen Urwald steigerte, der den Großteil der Insel bedeckte.
Affenschreie, Vögelzwitschern und auch Löwengebrüll drang aus dem wuchernden Dickicht, gellte über uns hinweg und verlor sich im unruhigen Plätschern des Meeres. Erschöpft ließen wir uns in den samtweichen, warmen Sand fallen, schlossen die Augen, vergaßen alles um uns herum und gewährten der Ruhe nur einen kleinen Augenblick, in uns ein Gefühl der Sicherheit und der Erleichterung aufblühen zu lassen.
In weiter Entfernung hörten wir das Brausen der Wellen, doch eine seltsame Hülle versperrte sämtlichen Geräuschen und Empfindungen den Weg zu uns, die wir abgeschnitten wie gestrandete Wale da lagen, die Augen geschlossen, von der Sonne verbrannt und vom Dahintreiben auf dem Meer gezeichnet.
Ein tuschelndes Wispern schlich sich von den Wellen an den Strand, kroch verstohlen über den sandigen Boden bis eine Windböe über es hinweg wehte, an der es sich festhalten konnte und in die Lüfte segelte, um bei unseren Ohren abzuspringen und hineinzukriechen. Es kämpfte sich durch die verschlungenen Windungen unserer Köpfe, bis es zum Zentrum des Verstandes gelangte, an der es sich festbiss und von einem harmlosen, samten Flüstern zu einer gewaltigen, dominanten Stimme aufquoll.
Erschrocken sprungen wir fast gleichzeitig auf und schauten uns verwundert an. Nicht nur mir hatte sich die seltsamme Stimme offenbart, offensichtlich hatten wir sie alle zum selben Zeitpunkt vernommen.
Noch immer klang dieser druckvolle Nachhall unangenehm durch meinen Kopf und verlor nur langsam an Klangfülle und Lautstärke wie ein abklingendes Echo.
Wer anders als Alex sollte als erster wieder seine Fassung zurückgewinnen.
"Wir sollten uns nicht zu lange ausruhen! Ich weiß nicht, wie lange die Sonne noch scheint und wir sollten noch vor Sonnenuntergang Brennholz und etwas Essbares auftreiben. John, du kommst mit mir, wir kümmern uns um die Verpflegung. Michelle und Shirley, ihr bleibt hier und sammelt Feurholz, aber geht nicht zu weit weg. Bleibt am Besten in der Nähe, wir sind bald zurück!"
Der hünenhafte Cop drehte sich um und stapfte mit großen Schritten den Strand entlang.
Ich war fassungslos. Wir konnte dieser riesige, dumme Trottel dieses Phänomen nur so rücksichtslos und stur ignorieren? Ich hatte die Augen der anderen deutlich gesehen und darin die selbe Verwirrung und Unverständnis gelesen, wie auch ich sie empfunden hatte. Auch in Alex Augen hatte ich eine zwar undeutliche, aber unmissverständlich schockierte Ängstlichkeit gesehen, die nur von dieser Stimme herrühren konnte. Shirley und Michelle blickten mich aus kleinen Augen an, die aber eine deutlich Sprache sprachen.
Geh mit ihm, John! Wir haben schon genug Ärger am Hals! Lass nicht auch noch diesen muskulösen Riesen zu einem Problem werden!
Widerwillig, aber durchaus einsichtig stand ich auf und folgte den Umrissen von Alex, der bereits weit entfernt war und sich kein einziges Mal umgedreht hatte. In stillem Einvernehmen überließ ich die Stimme meiner Fantasie, die sie aufblähte wie einen Luftballon und schon bald eine schwammige Erinnerung fand, die zwar nicht alt, aber nichtsdestotrotz verschwommen war.
Mir war, als hätte ich diese Stimme schon einmal gehört.
Die Größe der Insel abzuschätzen, gestaltet sich als sehr schwierig, da wir sie nie ganz abgelaufen sind und auch ihre Postition kann ich unmöglich angeben, da keiner von uns über genügend geographisches Wissen verfügt, um auch nur zu vermuten, in welcher Gegend wir uns befinden.
Das Einzige, das ich mit Gewissheit konstatieren kann, ist die Tatsache, dass es hier keine Menschen gibt, noch je gegeben hat. Zwar sind wir nie bis in Innerste des grün-braunen Dschungels vorgestoßen, jedoch sprechen Unmengen von Indizien dafür, dass noch nie ein menschliches Wesen vor uns diesen Erdboden betreten hat.
Wir haben aus dünneren Baumstämmen, Ästen und Palmen eine provisorische Hütte konstruiert, die in einiger Entfernung vom Meer am Stand steht und uns in erster Linie als Schutz vor der verheerend heißen Sonne dienen soll. Der Wald schien uns ungeeignet dazu, sich länger in ihm aufzuhalten oder weiter in ihn vorzudringen, da er zu viele unkalkulierbare Gefahren beherrbergt.
Also beschlossen wir am Strand in der minimalistisch zusammengekleisterten Bude zu bleiben, da wir hier die Vorteile beider extremer Biotope genießen konnten: die des raunenden Meeres und die des singenden, brüllenden Waldes.
Bei Sonnenaufgang standen wir auf und gingen auf Jagd. Aus leichten Baumästen hatten wir notdürftige Speere geschnitzt, die Alex und ich, im Wasser stehend, nach den umher schimmenden, bunt glitzerndes Fischen warfen. Shirley und Michelle, sofern die Kleine gerade zurechnungsfähig war, sammelten in den nahgelegenen Waldregionen Früchte und Pilze.
Direkt vor unserer Hütte hatten wir ein Lagerfeuer errichtet, obwohl wir uns der Gefahr bewusst waren, dass diese Licht- und Wärmequelle wilde Tiere aus dem Wald locken würde. Doch das Risiko, vorbeifahrende Schiffe würden uns nachts übersehen, erschien uns noch schlimmer.
Die Tage vergingen in unendlich langsam verinnenden Stunden. Die Bedeutung fiel von der Zeit ab, in einem schwindenden, winzigen Rudiment der Vergangnheit, an das wir uns besessen klammerten wie ein Schiffsbrüchiger an einen Rettungsring, bewahrten wir uns schwammige Erinnerungen, doch je länger die Sonne auf uns niederbrannte, umso mehr verschlang uns diese fremde Welt, in der die Hoffnung zu einem weit entfernten Traum zusammenschrumpfte.
Wir sprachen immer weniger miteinander, ich spürte die Anspannung unter der wir alle standen. Kein rettendes Schiff kreuzte auf seiner Bahn die unmittelbare Umgebung, wir waren völlig auf uns allein gestellt. Allein gelassen in einer unbekannten, menschenfeindlichen Welt, ohne eine Möglichkeit zu entkommen, außer dem Tod. Doch so grauenvoll und aussichtslos diese Situation auch erschien, so stand uns ein noch größeres, unvorstellbares Unheil noch bevor.
IV
Ich erwachte aus einem wirren Traum, den ich mit dem Erwachen vergas, der mir zwischen den Händen entglitt wie ein glitschiger Fisch. Leicht benommen blickte ich mich um. Das Innere der Hütte war von Dunkelheit verhüllt, nur durch die Tür drang ein Schimmer Mondlicht hinein, der ein rieselndes Licht auf den langen Strand warf und ihn in einen kilometerlangen, schlafenden Wurm verwandelte, dessen feuchte Haut silbern glänzte.
Aus der Ecke hinter mir drang ein hohes, feines Schnarchen, das nur von Michelle stammen konnte, von den anderen beiden war keine Spur. Schlaftrunken torkelte ich hinaus, konnte jedoch niemanden sehen. Der Urwald der Insel allerdings schlief niemals. Selbst in der tiefsten Nacht unter unzähligen, funkelnden Sternen hallten noch Papageienschreie und Affengekreische durch das Blättergewühl. Dann vernahm ich deutlich ein Geräusch, das von keinem Tier stammen konnte.
Ein Schrei. Dann ein Stöhnen.
Ich rannte in die Hütte zurück, rüttelte Michelle wach und als sie draußen stand, sich müde die Augen rieb und erneut ein Schrei erklang, zögerten wir nicht länger. Ich holte die Taschenlampe aus der Hütte und ohne Rücksicht rannten wir blindlings in das Gestrüpp aus hüfthohen Gräsern, Palmen, meterdicken Baumstämmen und spitzen Felsen. In diesem grün-braun gesprenkeltem Labyrinth die Orientierung zu bewahren, erwies sich als unmöglich. Wild wuchernde Pflanzen und Gestrüpp versperrten jede Nische und erfüllten jeden Winkel des Waldes. Der einzige Anhaltspunkt, an dem wir uns festhalten konnten, war das Stöhnen und Gekreische, das zwar nicht deutlicher, dafür aber intensiver und panischer wurde.
Nach endlosen Minuten erreichten wir eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein kleiner Bach sie in zwei etwa gleichgroße Hälten teilte und das Jaulen und Flennen unmittelbar nah sein musste. Am anderen Ufer des platscherndes Bächleins führte eine kleine Höhle in die Erde hinein und spie aus ihrem Inneren milchiges, flackerndes Licht, das von einer Fackel zu stammen schien.
Die Laute, die nun unerträglich laut und verzweifelt klangen, wurden von den Wänden der Höhle hin und hergeworfen, brachen und vereinten sich schließlich zu einem vielstimmigen Echo, das so gewaltig markerschütternd aus der Öffnung dröhnte, als schrie jemand in ein Megaphon.
Hastig eilten wir den glitschigen, moosbewachsenen Steinboden hinab und nur wenige Meter auf dem Weg, der tief in die Eingeweide dieser Insel zu führen schien, standen zwei zappelnde Gestalten vor uns.
Unten auf allen Vieren lag Shirley, splitternackt, von kleinen, blutenden Wunden und Dreck übersät, das Haar zerfleddert und schmutzig, schrie, weinte und bettelte, er solle aufhören.
Oben auf ihr, laut stöhnend, das Gesäß kraftvoll auf und ab bewegend, befand sich ein Wesen, dessen Beschreibung so absurd und unbegreiflich scheint, dass mein Verstand gegen einen solchen Anblick rebellierte und sich dagegen wehrte, eine derart unfassbare Szene aufzunehmen.
Ein übergroßer, flamingorosa farbener Hase mit weißen Bauch, dessen Kopf lose hin und herbaumelte, rammte sein ebenfalls rosanes Glied in Shirley Gesäß. Er besaß gigantische Ausmaße, musste gute zwei Meter gemessen haben. Vom zitternden Licht der Fackel beschienen, pulsierte sein Fell, als brenne es, sein Schwänzchen auf der Rückseite stand leblos von ihm ab und gut einen halben Meter lange Ohren baumelten an seinem Hinterkopf umher und wippten mit im Takt des bizarren Liebespiels.
Ich konnte nicht fassen, was sich da vor meinen Augen abspielte, war gefesselt von dieser perversen, ekelerregenden Illusion, denn etwas anderen konnte es nicht sein. Der lose Kopf des Hasens begann sich zu drehen, er wand seinen besessen lustvollen Blick von seinem gepeinigten Opfer ab und blickte mich aus feuerroten, glühenden Augen an.
"Na Kleiner, wie gehts?"
Die Erinnerung an jene verhängnisvolle, abscheuliche Szene, die sich in der fackelbeschienen Höhle zugetragen hatte, ist mir noch gut im Gedächtnis; jedes teuflische, noch so kleine Detail hat sich fest in mein Gehirn eingebrannt. Immer und immer wieder träumte ich davon, bis noch schrecklichere und ekelerregendere Ereignisse kamen und es ablösten. Aber nichtsdestotrotz hing an diesem Erlebnis der übelste Nachgeschmack, vermutlich weil es das allererste außergewöhnliche Ereignis war und ihm somit die Ehre gebührte, den Vorhang für ein Festival der Perversion und Angst zu heben. Über eine Tatsache bin ich mir aber noch heute im Unklaren und die endgültige Wahrheit wird sich wohl auf Ewig meinem Wissen entziehen.
Kurz nachdem die Stimme des Hasens in meinen Ohren verhallt war, wendete ich meinen Blick Michelle zu und sah in ihren Augen ein eigenartige Eindeutigkeit, die mich verwirrte. Im Hinblick auf die Bizarrerie, die sich vor unseren Augen abspielte, standen ihr der Schock und das Entsetzten buchstäblich ins junge Gesicht geschrieben, doch ich konnte weder eine Spur des Ekels noch der Überraschung entdecken.
"Oh Gott!", hörte ich sie schreien und noch bevor ich meinen Blick rechtzeitig wieder auf das seltsame Geschehen lenken konnte, traf mich eine herannahende Faust mitten ins Gesicht.
Der Schmerz, der durch meine Nerven raste, konnte sich nicht entfalten, denn sogleich fiel ich in eine selige Ohnmacht, die mir das Schlimmste ersparte.
Der Traum, der mich in dieser Bewusstlosigkeit ereilte, ereignete sich nicht nach dem gewöhnlichen Schema, aus dem Träume normalerweise bestehen. Ich kann nichts beschreiben, kann auch nicht sagen, dass ich von Schwärze oder Finsternis umgeben war, denn um mich herum war absolut rein gar nichts. Die einzige Erscheinung oder Handlung des Traums bestand aus der Stimme, die ich schon im wilden Treiben der Wellen – nahe an der Grenze des Todes – gehört hatte und die wir am Strand als eine Art kollektive Massensuggestion vernommen hatten. Diesmal jedoch, isoliert von jeglichen Sinneswahrnehmungen, die die Aufnahme, den Empfang der Stimme hätten stören können, extrahierte ich ihren Kern, ihre wahre Natur, und zum ersten Mal kam sie mir nicht wie ein unverständliches, unbegreifliches Durcheinander vor. Auch in der Bezeichnung Stimme, die ich ihr gegeben habe und in dem Versuch sie zu beschreiben, muss ich möglicherweise das Zugeständnis machen, dass mein Verstand und mein Wortschatz nicht ausreichen, sie hinlänglich und verständlich zu skizzieren. Doch die lange Gefangenschaft auf der Insel, die ich größtenteils beschäftigungslos verbrachte, bot mir genug Zeit zum Nachdenken, um meine
Worte so zu wählen, dass sie ein möglichst authentisches Bild davon vermitteln, wie diese Stimme aufgebaut ist.
Hauptsächlich setzt sie sich aus einem Konglomerat aus visionsartigen Bildern, Sinneseindrücken, Gefühlen und etwas Unbestimmbaren im Zentrum zusammen, um das alle anderen Empfindungen rotieren zu schienen. Wie eine höchst abstrakte Symbiose aus allen existierenden Elementen der Wahrnehmung – tiefgreifend, innig und überschäumend – infiltrierte sie den Verstand und zermalmte mit ädrigen Fingern jegliche Vernunft. Eine telepathische Transplantation von kosmischem Wissen, als lebhafte Erinnerung in das Bewusstsein eingebrannt und doch von etwas Dunklem, Ungreifbarem umspielt, das wie sanfter Nebel aufzieht, jedoch zu vage und scheierhaft ist, um es erkennen zu können.
Wie ein kleines Kind erzitterte ich vor dieser Stimme, doch wahrhaftige Todesangst überkam mich erst, als in meinem Traum der Bewusstlosigkeit, ein Gesicht erschien, aus dessen Mund sie stammen zu schien. Aus flamingorosanem, weiß gesprenkeltem Fell, an dem lange Barthaare wie verbogene Antennen abstanden und zwei lange Löffelohren hinabbaumelten, öffnete sich ein klaffendes Maul, vor dessen Eingang zwei lange Hasenzähne wie Wächter hinausragten und das unmissverständlich der Quell der Stimme war.
"Hi! Isch bin Jimmy. Un` wie is dein Name?"
V
Ich erwachte im halgaren Zwielicht der Morgendämmerung, das scheu an den Wänden der Höhle hineinglitt. Ein pochender Schmerz trommelte in meinem Kopf wie afrikanische Buschmusik, doch eine sanfte Schummrigkeit hielt mich in der Schwebe zwischen Wachsein und Schlaf und dämpfte die Kopfschmerzen.
Die Fackeln, die an den Wänden hingen (wo konnte Alex die Fackeln nur gebaut oder gefunden haben und wie hatte er sie an den Wänden befestigt?) waren abgebrannt und zu staubigen, dunkelgrauen Ascheklumpen zerdörrt. Die Kälte hatte meine Glieder zu tauben, steifen Puppenarmen verkommen lassen, die mich mehr behinderten als halfen und die Luft war von einer aromatischen Duftmischung geschwängert, die verräterisch stark nach Blut und Schweiß roch, jedoch von einer frischen Brise ergänzt wurde, die dem Ganzen einen milderen Anstrich verlieh.
Auf den starren Stelzen, die aus meinem Unterleib wuchsen, taumelte ich aus der Höhle hinaus. Eine klamme Ruhe herrschte im Urwald, der jetzt farblos und tot wirkte. Zum ersten Mal seit wir auf dieser Insel gestrandet waren, bedeckten nun weißbauschige Wolken den Himmel.
Ich setzte mich neben einem Felbrocken und ließ den Blick über die Bäume und Büsche schweifen.
Die Erinnerungen an die letzte Nacht schwebten wie Seifenblasen durch meinen Kopf, doch jedesmal wenn ich nach einer griff, durchfuhr ein stechender Schmerz meinen Körper und ließ sie zerplatzen.
Ein leichter Wind zog auf und verlieh den Blättern und Ästen mit jeder Böe die Fähigkeit, zu flüstern. Sie sprachen keine Wörter, nicht einmal eine Sprache, aber ihr Wispern berührte eine Stelle in meinem Verstand. Diejenige Stelle, die in der Nacht zuvor überstrapaziert gefleht hatte, das vergessen zu dürfen, was meine Augen ihr gezeigt hatten. Diejenige Stelle, deren Grenzen unantastbar waren, mit Mauern gebrüstet, die jetzt jedoch in Trümmern lagen. Die Ereignisse der letzten Nacht waren so unvorbereitet und grotesk gewesen.
In dieser ewig, immerwährenden Einöde der Wellen und Palmen, eingegraben in die Hoffnung und hypnotisiert von dieser grünen Hölle, hatte mich der Anblick, der Schrecken übermannt und mir eine derart abwegige Illusion vorgegaukelt, die mich selbst fast den Verstand gekostet hätte.
In das Wispern der Bäume mischte sich nun ein anderer Laut. Abrupft endete der Rückblick, den mir die Palmen gewährt hatten, doch den unaufhörlichen Gang meiner Gedanken konnte ich nun nicht mehr stoppen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ein Erinnerungsfetzen nach dem anderen erhob sich aus dem Grab, das die Ohnmacht geschaufelt hatte und nahm Stück für Stück vollends Gestalt an.
Erneut mischte sich ein fremdes Geräusch in das Sammelsurium morgendlicher Urwaldklänge. In das Gemenge aus verwegenem Blätterrascheln, leisem Vogelgesang und den Stimmen etlicher anderer Tiere, die von der heraufziehenden Sonne geweckt wurden, trat nun ein seltsam vernebeltes Stöhnen und eine Art gedämpftes Brüllen.
Ich stand auf und ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen. Im kalten Schimmer der Morgendämmerung wirkte der Dschungel nicht wild und gefährlich, sondern trist, grau und auf eigenartige Weise leblos. Die Palmenblätter und Baumwipfel wiegten sich leicht mit den Brisen des Windes, der vom Meer herangetragen wurde, ansonsten schien alles still dazuliegen, wie ein schlafendes Raubtier.
Dann bemerkte ich eine kurze, rasche Bewegung, deren Ursache ich jedoch nicht ausfindig machen konnte. Wieder ertönte dieses verstümmelte Jammern, gefolgt von einem verstohlenen Rascheln.
Ich musste der Sache auf den Grund gehen und taumelte desehalb in die Richtung des Urwaldes.
Mit schweren Gliedern steuerte ich nun auf den Bereich zu, wo ich den Ursprung der Bewegung vermutete. Bis auf den sanften Rhythmus, in dem sich die Gewächse des Dschungels wiegten, konnte ich nichst erkennen. Alle Konturen wirkten seltsam verzerrt und verwischt, sodass meine schweren Augenlider mir mit jedem Zwinkern nur eine weiteres unklares Bild eröffneten. Blasse, graue Farbtöne flossen die Bäume entlang, tränkten jedes grüne Blatt in matten, kraftlosen Schimmer und offenbarten meinem müden Blick nur ein Mosaik aus verwaschenen Farbklecksen.
Dann jedoch löste sich linkerhand von mir eine Gestalt aus den verschwommenen Umrissen eines gigantischen Mammutbaums, der sie vorher völlig verschluckt hatte, ihn untrennbar mit der Umgebung hatte verschmelzen lassen. Jetzt jedoch erkannte ich die feinen Umrisse, die sich aus dem Farbgewühl schälten und sah, wer diese zappelnde Kreatur war, die mit dicken Lianen an den Stamm gefesselt war und aus dessen vermummten Mund Speichelbäche auf den splitternackten, von Schürfwunden übersäten Leib troffen.
Eine Hand streifte meine Schulter und ließ sich schließlich ganz darauf nieder.
"Wir mussten ihn fesseln. Er ist wahnsinnig geworden.", sagte Shirley.
Michelle stand in unmittelbarer Entfernung hinter ihr und sah aus wie ein kleines Kind, das seine Mutter verloren hat.
Das wärmere Morgenlicht erreichte nun auch endlich die Lichtung und die ersten Sonnenstrahlen streiften über die Gräser und Blätter.
Die beiden Frauen standen vor mir und schauten mich aus Augen an, deren Blick einem psychopatischen Massenmörder alle Ehre gemacht hätte. Ihre Kleidung war völlig zerissen und zerfetzt, Shirley hatte sich die Intimstellen nur mit einem knappen Laken bedeckt, schien sich jedoch nicht dafür zu interessieren, dass man ihre Brüste sehen konnte. Ich hatte erwartet, sie nach solchen Erlebnissen zittern zu sehen, aufgewühlt oder völlig verzweifelt, nicht aber in der Verfassung, in der sie sich nun befand.
Ruhig und kalt lastete ihr Blick auf mir, als wäre alles nur ein Traum gewesen, der nichts weiter zu bedeuten hatte. Hinter mir hörte ich wie Alex immer stärker zu zappeln begann, wie er versuchte sich mit allen Mitteln aus seinen Fesseln zu befreien. Als ich mich zu ihm umdrehte, hatte ich das Gefühl, dass sich mir ein anderer Anblick bot, als noch vor zwei Minuten, als ich ihn entdeckt hatte.
Sein Glied war angeschwollen und ragte wie eine Miniaturlanze aus seinem Unterleib hervor. Panisch schien er kreischen zu wollen, doch die Knebelung verschluckte seine Schreie. Alex starrte mich mit Raubtieraugen an und ich hatte das undeutliche Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte. Aus diesen Augen sprach keine Wut, mir war sogar, als würde er leicht zittern, so, als hätte er Angst. Nein, ich wusste, dass er Angst hatte. Ich hatte nur keine Ahnung, wovor.
VI
Während der Hase oder besser gesagt Alex - weiß Gott, welch ein Teufel mich da geritten hat, dass ich tatsächlich glaubte, ein überdimensionaler Hase verrichte sein übles Werk am Hinterteil von Shirley – noch auf meinen bewusstlosen Körper herunter geblickt hatte, war Michelle geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich einen Felsbrocken aus der Höhle zu schnappen und ihn mit voller Wucht auf den Hinterkopf des durchgedrehten Polizisten zu werfen.
Anschließend hatten sie ihn an den nächstliegenden Baum geschafft und ihn so fest wie möglich mit Lianen daran festgebunden.
Im aufkeimenden Licht der Morgensonne jedoch, schienen auch die beiden eine bleibende Veränderung durchgemacht zu haben. Nichts an ihnen wirkte mehr wie vorher.
Shirley war bisher der ruhige, rationale Pol unserer zusammengewürfelten Truppe gewesen, dennoch hatte sie sich selbst in der aussichtlosen Situation, in der wir uns befanden, einen großen Teil ihres Optimismus bewahrt.
Wie sie jetzt aber halbnackt vor mir stand und ihr Leib im zart schillernden Licht einer fremden Sonne glänzte, wirkte sie wie ein übrig gebliebenes Rudiment einer wilden Orgie, dessen an Bessesenheit grenzende Intensität und Obszessivität nun ihren Tribut forderte.
Sie wirkte nicht mehr länger wie ein vernünftiger Fels in der Brandung des Wahnsinns, sondern war gänzlich dem schäumenden, pulsierenden Irrsinn anheimgefallen.
Michelle, die es schon von Beginn an unmöglich gemacht hatte, sie einzuschätzen, war in der Enge der Insel in eine lähmende Lethargie gefallen, als hätte sie ihren Tod und das Ende alles ihr Bekannten und Vertrauten akzeptiert. Der lüsterne Blick, der jetzt auf mich und das erregierte Glied des gefesselten Alex gerichtet war und zwischen den beiden Objekten hin- und herpendelte, als könne sie sich nicht entscheiden, was ihr besser gefiel, eine subtile Verruchtheit, die an ihr haftete wie der abscheuliche Gestank des Todes, der in Leichenhallen herrscht und diese Bestimmtheit, die ihr im Gesicht stand und die besagte, dass alles außer dem hier und jetzt eine bloße Illusion der Vergänglichkeit war, waren mehr als genug Beweise dafür, dass auch dieses schüchterne Mädchen eine Umkrempelung erfahren hatte.
So sehr ich mich auch für die folgenden Worte schäme, bleibt mir doch die ruhige Gewissheit, in diesen Gestaden der Lüge und des Bizarren alles wahrheitsgemäß wiedergegeben zu haben, was sich abgespielt hat, damit andere vor diesem Ort gewarnt werden und sofern sie klug genug sind, nie auf den Gedanken kommen, dieser Insel einen Besuch abzustatten.
Der Sand, der den Strand säumt und kristallisch glitzert wie ein kilometerlanger, verschlungener Streifen goldener Körner. Das undurchdringliche Dickicht, das sich die Hügel und Täler entlangschlängelt und die Insel über und über bedeckt mit wucherndem Gestrüpp, das sich um meterdicke Mammutbäume rankt.
All das war eine pure Illusion, die nur verbergen sollte, welch dunkles Geheimnis sich in den feuchten Erdboden eingebuddelt hatte und so langsam – Schaufel für Schaufel – ans Tageslicht kam.
Weiterhin begann mich der Blick der sichtlich erregten Michelle zu umgarnen, glitt von mir ab und senkte sich auf ein Ziel neben mir, das nur das steife Glied des gefesselten Alex sein konnte. Je öfter sie den Anblick wechselte, desto weniger schien sie sich entscheiden zu können. Hinter Shirley´s Rücken wanderten zwei Hände um ihre Hüften und streiften sanft über ihren Bauch. Nun ruhten die Blicke beider Frauen auf mir und ich spürte, wie auch mein Glied sich unaufhaltsam verhärtete, ohne dass ich es hätte ändern können. Schwall für Schwall pumpte das Blut hinein und die Entsetztheit, die mich bisher umklammert hatte, fiel von mir ab wie die überflüssige Haut einer Schlange und machte einem anderen Gefühl Platz, das Erregung sein konnte, jedoch arg verwandt war mit einer weitaus intensiveren, dafür umso gravierenderen Empfindung: dem Drang nach unbegrenzter Begierde, fernab jeglicher Fesseln und Vernunft, das stille Verlangen nach Schmerz, der in den zitternden Augen einer von Lust verzehrten Frau pulsiert und die unbändige Besessenheit, die alles herum verschleiert und schließlich in eine endlose Leere verwandelt, die einziger Zeuge einer schändlichen Sünde ist. Ich fühlte wie mein Glied gegen die Hose drückte und je mehr sie spannte, je stärker sich die Flamme der Lust in mir entfaltete und in einem lodernden Inferno sämtliche Vernunft versengte, war ich mir doch jederzeit bewusst, dass das rieselnde Kribbeln in meinem Kopf keine Anspannung oder Erregung war, sondern der irreversible Wahnsinn, der Einzug hielt in mein Reich des Denkens.
Die Nacht unterschied sich vom Tag nur durch unwesentliche Äußerlichkeiten, die genau genommen, in der Abgeschiedenheit in ihrer Bedeutung noch geschmälert wurden. Wen stört schon die Dunkelheit, wenn die grauen Schatten wenigstens die heranbrausenden Wellen verdecken, die ansonsten die Sehnsucht herantragen?
Zunehmend deutlicher reihten sich alle Wichtig- und Unwichtigkeiten in die Reihe der Dinge ein, deren Existenz und deren Schicksal von einer strömenden Gleichgültigkeit bedroht wurde.
Anstatt dessen gewannen andere Sachen an Ausmaß, die vorher nur in winzigen Falten der Realität gesteckt hatten und nun zum Vorschein kamen wie Aasgeier, die sich im Atem des Todes spiralförmig auf ihre Beute hinuntergleiten lassen.
Die Geschehnisse der letzten Nacht hätten mich vermutlich verändern sollen, zumindest hätten sie unter normalen Umständen eine Kammer geöffnet, deren Inhalt, so ungezügelt und sündig, mich mit Scham übergossen hätte.
Was ich aber jetzt fühlte, entsprach nicht dem, was ich erwartete zu fühlen und das war das Schlimmste daran. So sehr diese Insel ein Hirn zum Verzweifeln bringen vermag, war doch die letzte Bastaillon meiner klaren Sicht die strikte Kalkulation gewesen, die alles in Chancen, Risiken, in Definitäten und Eventualitäten zerlegte und damit das Leben nicht unbedingt berechenbar, aber absehbarer und überschaubarer machte.
Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, dass wir mit dem ersten Schritt, den wir auf den Sand dieser Insel gesetzt haben, einen Mechanismus sowohl außerhalb, wie auch in uns selbst in Gang gesetzt haben, der langsam wie eine Sanduhr fortschritt, aber leider auch genau so unbeirrbar.
Ich hüte mich davor, den Ereignissen von letzter Nacht zu viel Bedeutung beizumessen, möglicherweise war diese sexuelle Orgie nur eine ungewöhnliche Entladung der Ängste, Zweifel und Frustration. Doch irgendetwas sagt mir, das nicht ich mein Glied an Shirleys weit gespreizten Schamlippen gerieben habe, dass das nicht Michelle war, die vergnügt und gierig wie ein Kalb die Brust einer Mutter saugt, den Schwanz von Alex mit dem Mund bearbeitet hat, nein, ich war es nicht gewesen, der die Frauen erst durch sanftere, dann immer festere Schläge die immanente Leiter der Lust emporgestoßen hatte, der sie in allen erdenklichen Stellungen gevögelt und immer wieder mitangesehen hatte, wie sie sich unzählige Male an dem gefesselten Cop vergnügten, dessen Augen zwar unmissverständlich Erregheit wiederspiegelten, aber noch deutlicher Angst.
Nein. Das kann ich nicht gewesen sein. Das war nicht ich, das war nicht Shirley und sicherlich auch nicht Michelle. Nein.
Kurz vor dieser bizarren, sexuellen Orgie hatte ich das Gefühl, als dränge sich etwas in mein Bewusstsein, wie ein Pilot, der die Steuerung übernimmt und mir die Kontrolle über sämtlliche Motorik entzieht. Es war, als fielen unsichtbare Fäden vom Himmel, die mit meinen Gliedmaßen und mit meinem Kopf verwuchsen und mich umherzogen wie hilflose Puppen, deren Schicksal der Gnade ihres Spielers obliegt.
Um die Insel in ihrer Vielfalt verstehen oder zumindest ansatzweise einen Eindruck von ihr gewinnen zu können, reichen Worte oder sogar Bilder nicht aus.
Sie ist nicht mit den typischen Inseln zu vergleichen, die normalerweise bei dem Wort als paradiesische Assoziation in den Kopf schießen. Um ihr System, ihre Funktionsweise und ihr grundlegendes Fundament erkennen zu können, bedarf es einer Begegnung.
Nichts auf ihr ist den allgemein gültigen Gesetzen der Natur unterworfen, hier gelten andere Regeln.
Hier gelten seine Regeln. Dies hier ist seine Welt, sein Reich. Ein kurioses Exotenkabinett voller bizarrer, ekelerregender Perversionen, in der wir zu Spielbällen und Unterhaltungsobjekten mutiert und seinen abartigen Fantasien hilflos ausgeliefert waren. Er hatte sich hier eingenistet und ein Reich um sich herum geschaffen, das sein Wesen, die Beschaffenheit seiner Seele angenommen hatte. Zu Beginn, so glaube ich, war diese Insel nichts anderes als ein unentdecktes Fleckchen Land, das abgeschieden und ungestört vor sich hin vegetierte. Doch mit seiner Ankunft hatte ein unaufhaltsames Buschfeuer alle Tiere, Pflanzen, jeden Stein und jeden Sandkorn verschlungen und seinem Regime einverleibt.
Wenn man die Natur ehrlich und treffend beschreiben will, so lässt sich eines mit absoluter Bestimmtheit feststellen: sie ist gnadenlos und brutal. Und selbst wenn man von der überspitzten, dominierenden Tendenz alle Dinge auf der Insel zur rücksichtslosen Brutalität absieht, bleibt noch eine unübersehbare Besonderheit, die hier vor allem jedem Tier innewohnt.
Mir ist es nicht gleich aufgefallen, doch mit der Zeit (und davon hatte ich genug), bemerkte ich eine Abweichung im Verhalten alle Lebewesen.
Die Tier töten nicht aus Motiven wie Nahrungssuche oder Revierverteidigung. Sie töten aus Spaß. Aus der puren Freude am Töten.
Papageien fielen über die wehrlosen Jungen von Kolibris her, Löwen zerstückelten die Körper einer erlegten Antilope, nur um sie dann in der Glut der Sonne verfaulen zu lassen. Paviane zerfetzten die Körper vom Ameisenbären und stocherten mit Holzstücken in den hinausquellenden Eingeweiden ihrer Bäuche herum.
Ich denke, damals begriff ich, was vor sich ging. Ich wusste ebenfalls, wer dafür verantwortlich war. Das Einzige, was sich meiner Kenntnis entzog, war, wieso alles so geschah und weshalb er wollte, dass es so geschah. Doch in Angesicht der Situation, vom wilden Treiben des Flusses der Zeit erfasst, versickert das Warum wie ein plumper Stein in den Fluten des Nil.
VII
Die Sonne war gerade im Inbegriff in einem feurigen, glühenden Meer zu ertrinken, als sich Michelle zu mir an den Strand gesellte. Je weiter sich die unerklärlichen Vorkommnisse der letzten Zeit von uns entfernt hatten, kehrte auch langsam wieder eine Normalität und Vernunft ein, die auch die Augen der jungen Michelle aufhellten und ihr eine gewisse Natürlichkeit wiedergaben.
Nun lag nichts Besessenes oder Verruchtes mehr in ihren Blick, nun sah sie wieder wie ein gewöhnliches, junges, wenn auch verzweifeltes Mädchen aus, das seine Mami und ihre Freunde vermisste. Insofern, so sah ich ein, steckte ein bischen Michelle in uns allen.
Eine leichte Brise zog vom Meer herauf und brachte einen angenehmen Geruch mit sich, der die Rehabilitation und die Befreiung meiner Gedanken beschleunigte.
Wie wir da saßen, den Wind durch unsere Haare fahren ließen, die Sonne uns ihre letzten Strahlen schickte und der Himmel nichts anderes war, als ein prächtiges Farbengewitter, hinter deren hauchdünner Membran bereits die blitzenden Sterne der Nacht herankrochen, da zweifelte ich an der Realität dieser Insel. Ich bezweifelte die tatsächliche Existenz der Ereignisse, die sich auf diesem gottverfluchten Ort zugetragen hatten.
Es war alles wie die blaue Färbung des Himmels. Rein und intensiv, sachte und überwältigend schön, aber letztendlich nur eine Illusion, nur ein samtener Vorhang, der den Anblick der dahinter liegenden Realität versperrt.
"Was geht hier vor?", fragte sie, den Blick starr auf das Meer gerichtet.
Ehe ich darüber nachdenken konnte, wollte mein Mund bereits instinktiv die Antwort formen, das ich es nicht wusste, doch gleichzeitig erschien es mir notwendig, ehrlich zu ihr zu sein.
Ich ließ mir Zeit und wägte die Worte genau ab, die ich sprechen würde. Ein falsches Wort, könnte ihre zerbrechliche Fassade, deren Zement gerade am Trocknen war, wieder zertrümmern.
"Was genau hier passiert, kann ich dir nicht sagen."
Das war die Wahrheit.
"Aber ich glaube, dass das, was hier geschieht, die Tranferierung unser dunklen Gedanken in die Realität ist."
Diese Worte hatte ich mir zurechtgelegt. Nun konnte ich nur abwarten, wie sie darauf reagierte.
"Womöglich hast du Recht", sagte sie, wandte den Blick jedoch nicht vom monotonen Zyklus der brennenden Wellen ab.
Ich musste einfach fortfahren. Diese Gedanken hatten schon bis zur Schmerzgrenze in meinem Kopf gebrodelt, nun musste ich dem unerträglichen Druck ein Ventil bohren.
"Die Insel wirkt wie ein Verstärker. Sie bündelt unsere geheimen, finsteren Gedanken und lässt sie wahr werden. Jede abstrakte Leiche, die im Keller des eigenen Bewusstseins, in den Tiefen unseres Verstandes vergraben ist, wird durch die Magie dieser Insel zum Leben erweckt."
Ein Gesichtsaudruck, der eine Mischung aus Apathie, Lähmung und Schrecken verband, hatte sich in ihr Antlitz gemeißelt. Sie sagte nichts.
"Verstehst du was ich meine? Alles, was wir in unseren geheimen Ängsten und Fantasien getan oder gesagt haben, all das wird hier real."
Ich hätte es kommen sehen müssen. Langsam fielen die ersten Bröckel zu Boden, als sich ein tiefer Riss in ihr Nervenkostüm grub. Kurze Momente, nur Bruchteile von Sekunden, glimmten winzige Funken in ihren glasigen Augen auf und ich sah, das der Wahnsinn sich nur wie eine Schnecke, die sich in ihrem Haus versteckt, hinter einer Maske verhüllt hatte.
Mit einem Schlag flammten die Erinnerungen an die letzten Tage wieder auf.
Ihr Blick wurde verzehrend, reckte sich nach mir. Die Luft zwischen uns verschwamm, schien zu tanzen und stieg in kochenden Wallungen gen Himmel.
Der Himmel war rosa. Flamingorosa. So wie das Fell der Hasens.
Am nächsten Morgen schien alles hinweg gespült worden sein, als wäre eine gigantische Flutwelle in der Nacht über die Insel gefegt und hätte alle Hirngespinste mit sich gerissen.
Aus dem Urwald drang nur mageres Kreischen, die Wellen spülten ehrfürchtig an den Strand und wie eine sich öffnende Knospe betrat die Sonne sachte die Welt.
Da wir keine Risiko eingehen konnten, hatten wir Alex nach der unkontrollierbaren Orgie bewusstlos geschlagen und ihn an einem unmittelbar entfernten Baum angebunden, sodass er in Reichweite und somit auch sicher vor wilden Tieren war.
Als ich jedoch gleich nach dem Erwachen vor die Hütte trat, um nach ihm zu sehen, war das Einzige was ich noch vorfand, der Restbestand der Lianen, die als Fesseln gedient hatten.
Gegen Ende des Strandes, wo die goldbraune Zone in das grüne Territorium des Urwaldes mündet und das Unkraut den unfruchtbaren Sandkörnen trotzt, waren deutliche Spuren zu sehen. Kleinere Gruben und Fußspuren hatten die lockere Erde umgewälzt.
Der massive Baumstamm wies tiefe Kratzer in Hüfthöhe auf und einige Teile seiner Rinde waren zu Boden gefallen und bildeten dort zusammen mit den zerfetzten und zerissenen Fesseln die letzten Überbleibsel des Polizisten.
Wir beschlossen enstimmig, keine Suche nach ihm zu veranstalten, da er gefährlich und nicht in Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und außerdem alles darauf hinwies, dass er aus eigener Kraft geflüchtet war und keine außenstehende Macht – sei es ein Tier oder ähnliches – ihm dazu verholfen haben konnte, die Fesseln zu lösen.
Die anderen beiden machten auf mich einen zunehmend trägeren Eindruck. Während sie aßen und tranken, durfte ich die Umgebung nach Früchten absuchen und zweimal am Tag zu einer Quelle gehen, um dort frisches Trinkwasser zu zapfen und in einem provisorischen Behältnis zur Hütte zu tragen.
Als sich jedoch am Tag der Flucht des Polizisten die Sonne bereits bedenklich nahe dem Horizont genähert hatte und kurz vorm Untergang stand, erfasste mich ein seltsamer Trieb.
Ich spürte wie sich mein Körper meiner geistigen Beherrschung entzog und sich selbstständig wie ferngesteuert erhob und den Urwald betrat.
Unwillkürlich bewegte ich mich im Dschungel vorwärts, unfähig die Richtung zu bestimmen. Vor mir eröffnete sich ein wuchtiger, grüner Palast, dessen Wände die Palmen waren und dessen Dach aus den wuchernden Blättern der Bäume bestand.
Das Licht drang nur noch mühevoll zwischen den Zweigen hindurch und bald stand ich in einer schattenumrankten, kleinen Lichtung in deren Mitte sich ein vager Umriss befand, der sich aber alsbald zu entpuppen begann.
"Schön dich wiederzusehen", sagte die Gestalt und kam einige, große Schritte näher.
"Du brauchst keine Angst zu haben, John. Die Geschehnisse der Vergangenheit bleiben dort wo sie sind und sollen uns nicht stören. Hier und Jetzt. Diese zwei Faktoren bestimmen unser Sein. Nicht das Gestern oder was dort passiert ist."
In der Luft lag ein Hauch von Spannung.
Ein Lichtstrahl kreuzte den zielsicheren Weg der Gestalt und legte für einen kurzen Moment deren Gesicht frei vom Dunkel, sodass sich meine Vermutung als Gewissheit erwies.
Niemand anderes als Alex, nackt und imposant, stand nun wenige Zentimeter von mir entfernt.
"Wie geht es den Mädels? Haben sie sich von unserer kleinen Party erholt?", sagte er.
Ich konnte nichts sagen, war wie gelähmt.
"Nun ja. Gesprächig wie und je Johnnyboy, wie? Aber weswegen ich dich bestellt habe. Ich wollte mit dir reden. Über, wie nennst du ihn? Ach ja, den Hasen."
VIII
"Über den Hasen?", fragte ich.
"Ja, über den Hasen", sagte er.
"Du hast ihn also auch gesehen?"
"Oh ja. Ich habe ihn nicht nur gesehen. Ich habe ihn gespürt, gefühlt, angefasst, mit ihm geredet und wenn du es genau wissen willst, sogar mit ihm gefickt."
Die Worte, die da aus seine Mund kamen, waren wie Fragmente eines Krebsgeschwürs, das sich mit jeder Silbe entfaltete und wucherte.
Ihre Bedeutung und der Ausdruck seiner starren Augen riefen bei mir pures Entsetzen vor, drangen durch die Tiefe meiner Empfindung und trugen die Brandung meiner seelischen Standfestigkeit Stück für Stück vondannen.
"Er ist hier. Er ist eigentlich überall auf der Insel. Hier ist er, wie sollte ich sagen. Hie ist er wie Gott. Er durchdringt jede Palme, jedes Blatt."
Seine Augen nahmen ein euphorisches Leuchten an, als verkündige er eine heilige Botschaft.
"John, beantworte mir bitte eine Frage.", sagte er.
Seine Mine wurde schlagartig ernst.
"Ich sehe doch, wie ihr sein Werk beurteilt. Sage mir, was hältst du von seinem Werk, seinen Errungenschaften, seinem bezaubernden Schaffen?".
Welche Antwort hätte ich hervorbringen können? Wie hätte ich diese Blasphemie, diesen gottlosen, absurden Unsinn auch nur halbwegs vernünftig kommentieren können?
Das Einzige was ich tat, war, ihn fragend anzustarren, bis sich die Spannung der Erwartung gelegt hatte. Welche Hoffnungen er auch immer in meine mögliche Reaktion gesetzt haben mochte, mit jeder Sekunde, in der sich mein gelähmter Blick in seinen vom Wahnsinn besetzten Augen verfing, verwandelte sich der letzte positive Rest, der seinem Gesichtsausdruck innewohnte, in eine bösartige Lauerhaltung, deren vernichtender Impuls jeden Augenblick losbrechen konnte.
"Was ist Perversion für dich? Ich meine nicht, was du unter dem Wort verstehst oder was dir womöglich gesagt wurde, was das Wort zu beudeten hat, nein. Ich würde gerne wissen, was du pervers findest. Was bei dir so große Abscheu und so großen Ekel hervorruft, das dein Verstand sich angewidert abwendet. Was du als so widerlich und abstoßend, so unmenschlich und verachtenswert ansiehst, dass jegliche Toleranz und jegliches Verständis unpässlich wären.
Was würde dir das Herz in der Brust zerreißen? Was lässt Schauer von unvorstellbarem Grausen durch deinen Körper laufen?
Ist es der Hase? Oder vielleicht bin ich es? Gibt es überhaupt so etwas für dich?"
Ich fühlte wie eine unsichtbare, aber dennoch durchaus spürbare Energie in schaukelnden Spiralen durch den Raum glitt. Die Luft erzitterte kurz, hielt dann völlig inne, als hätte sie ihren Antrieb, ihre innere Regung verloren und stehe starr vor Schreck vor dem unbekannten Etwas, das sich ihres Territoriums bemächtigte. Wallungen durchströmten den Raum, erfüllten ihn völlig mit einer angeregten Aktivität.
Wie ein gefräßiger Wolf verschlang diese Energie die Stille und platzierte an ihrer Stelle eine ungleich überschäumende, reichhaltige Atmosphäre, die sich unaufhaltsam alles einverleibte.
Ein angenehmes Schwindelgefühl wie das nach einem intensiven Orgasmus befiel mich, dämpfte die plötzlichen Veränderungsströme, konnte sie jedoch nicht verschleiern. So konkurrierend und entgegensetzt diese Empfindungen auch sein mögen, in dieser aufkeimenden, fremden Dimension harmonierten sie in völligem Gleichklang und verschmolzen zu einer vollkommenen Synthese.
Schatten wuchsen aus dem Nichts heraus. Die zwielichtigen Räume zwischen Sträuchern und Bäumen gebaren dunkle Umrisse, die an ihnen emporzuwachsen schienen wie Parasiten. Immer schneller gediehen sie zu beachtlicher Größe und verließen ihre Brutstätte. Doch selbst als sie in die helleren Regionen traten, verfinsterten sich ihre Gestalten noch und blieben vage und schemenhaft.
"Die Zeit ist bald gekommen, John.
Meine Geduld neigt sich dem Ende zu.
Schließ dich mir an. Akzeptiere den Wahnsinn. Die Klarheit ist eine Lüge. Selbst die Vernunft ist eine Illusion deines Geistes, die dir vorgaukelt, du könntest die Welt und all ihre Geheimnisse verstehen.
Der einzige Weg, die Erleuchtung zu finden, ist es, den Wahnsinn zuzulassen. Gewähre ihm Eintritt. Gewährte mir Eintritt."
Dann trat der Hase aus dem Schatten von Alex. Und sein Schatten ward es, der alle anderen gebaren hatte. Winzige Lichter umkreisten sein Haupt und sein Fell glänzte wie morgentlicher Wiesentau.
"Nun geh hinfort und verkünde meine Botschaft.
Wir werden uns bald wiedersehen."
Danach erfüllte nur noch Schwärze und Dunkelheit meine Erinnerung. Die Offenbarung, die mir zu teil wurde, die Szenen, diese absurden, unvorstellbaren Dinge, die ich gesehen hatte, all dies verband sich zu einem unaufhörlichen, irreversiblen Gefühl, dessen Wurzeln in meinem Unterbewusstsein wucherten und dessen schwärenden Arme wie Peitschen durch die Spären meines Geistes drangen.
Nach und nach fing ich an zu begreifen, dass dieses Gefühl einen Namen trug und dass dieser Name Wahnsinn war. Wie ein Krebsgeschwür wuchs er heimtückisch und unsichtbar in unerreichbaren Bereichen heran, bis er ein bedrohliches und gefährliches Stadium erreicht hatte, sich schlagartig und gnadenlos offenbarte und in einem Blitzkrieg die Dynastie der Räson beendete.
Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich konnte förmlich fühlen wie schlingernde Fangarme in meinem Kopf umherzappelten und die Saat des Wahns verstreuten.
Dunkel, unaufhaltsam und unbegreiflich fiel ich einer Macht anheim, deren unbestreitbare Existenz sich nur in vagen, unsicheren Erlebnissen zeigte und so womöglich das letzte Paradoxon heraufbeschwor, an dem mein Geist zu scheitern drohte.
Ich erwachte in einer besonders schönen und sternenklaren Nacht. Ich lag in unserer Hütte, glitzerndes Mond- und Sternenlicht fiel durch die Ritzen der Wände und neben mir lagen Shirley und Michelle - beide in tiefem Schlaf.
Eine Kälte saß mir klamm in den Knochen und ließ meinen Körper erzittern. In weiter Ferne hörte ich die Brandung heranrauschen, hörte die vereinzelten Tierlaute aus den Tiefen des Urwalds ertönen, hörte wie mein Herz angstvoll und nervös in meiner abgezerrten Brust pochte und hörte die Stimme des Wahnsinns, der mit der Stimme des Hasens zu mir wisperte, und wie sie aus den abgelegendsten Regionen meiner Seele emporkletterte und immer weiter anschwoll.
Ich schloss die Augen, zählte bis zehn und noch ehe die Hälfte der Zahlen gedacht waren, hatte mich der Schlaf übermannt.
Die nächsten Tage über wollte ich meine Kräfte sammeln um ein wenig Abstand zu schaffen, zwischen mir, den Ereignissen und der aussichtslosen Situation, in der wir uns befanden. Wir alle näherten uns bedenklich dem Ende unserer Energie, sämtliche Resourcen waren aufgebraucht.
Wie unwirkliche, teilnahmslose Bilder zogen die Stunden vorbei und nichts vermochte diese Granitwand zu durchbrechen, in dessen Mitte meine abgeschottete Seele versuchte sich von den Strapazen und waghalsigen Attacken, die ihr auf der Insel erfahren waren, zu erholen.
Doch kaum war der letzte Stein auf die Mauer gelegt, kaum hatte eine herrliche Stille und Ruhe eingesetzt, da war, als spürte der Hase es. Da war es, als fühlte er, das eine Verbesserung meines Zustandes bevorstand. Und da begriff ich zum ersten Mal, dass nicht die Insel das wahre Gefängnis, die letztendliche, endgültige Grenze war, sondern die dunklen Ströme seiner Macht, in deren ausweglosem Labyrinth wir umherirrten und uns zuversichtlich einredeteten, das Schicksal stelle uns noch eine Chance in Aussicht.
Nicht der Tod war unsere größte Angst, nein, die schlimmste, die allerschlimmste Furcht, die tief in unsere Köpfe genagelt war wie ein Keil, war die Furcht vor dem Hasen.
VIIII
"Hast du Michelle gesehen?".
Ich war in der Hütte gelegen und hatte gar nicht bemerkt, wie Shirley hereingekommen war. Sie wirkte verstört und es war das erste Mal seit meiner seltsamen Vision von Alex und dem Hasen gewesen, dass sie ein Wort gesagt hatte.
"Ich kann sie nirgends finden.".
Ich brauchte nichts zu sagen, an meinem Blick konnte sie ablesen, dass ich genauso ratlos war wie sie. In den letzten Tagen hatte sich Michelle in sich zurück gezogen wie eine Schnecke und war in unablässiger Ruhelosigkeit um die Insel spaziert.
"Wahrscheinlich ist sie nur gerade wieder auf einem weiten Spaziergang. Warte noch bis Sonnenuntergang, bestimmt ist sie dann wieder hier.", sagte ich und versuchte ihr ein mitfühlendes Lächeln zu schenken, brachte aber nur etwas zustande, das wie eine seltsame Grimasse aussehen musste.
Resignierend glitt ihr Blick von mir aus ins Leere und sie setzte sich in die Ecke der Hütte. Dann schlief ich ein.
Die Sonne war gesunken und im Meer verschwunden wie ein tonnenschwerer Anker. Doch von Michelle fehlte jede Spur. Der Strand wies keine Fußspuren auf oder sie waren von den Wellen fortgespült worden.
Selbst eine Suche in den umliegenden Waldgebieten förderte nichts zu Tage. Auch wenn ich mich einer abgegriffenen Phrase bedienen muss, sie trifft wie die Faust auf das Auge: Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Wir schrien ihren Namen in den Wald, ernteten jedoch nur Affenbrüllen und Vogelzwitschern als Antwort und liefen sämtliche Anlaufpunkte ab, an denen wir bereits gewesen waren.
Schließlich gaben wir die Suche auf und kehrten zur Hütte zurück. Wenn sie noch am Leben war, so vermuteten wir, würde sie früher oder später zurück kommen. Denn verirrt haben konnte sie sich nicht. Dazu war die Insel zu klein und unsere Kenntnisse von ihrer geograpischen Beschaffenheit zu ausgeprägt.
Wir beschlossen abwechselnd Wache in der Nacht zu halten, damit jeweils einer Ausschau nach ihr halten konnte, schliefen jedoch beide ein und erwachten erst im frühen Morgengrauen.
Noch leicht vom Schlaf benebelt, taumelten wir aus unserer Hütte, den ersten zarten Sonnenstrahlen folgend. Doch wie verlockend und verheißend sie den neuen Tag auch angekündigt hatten, so brutal und erschreckend fanden wir ihn tatsächlich vor.
In den smaragdblauen Wellen tummelte sich eine hellrote Flüssigkeit, die sich nicht völlig aufgelöst wie ein durchsichtiger Schleier um einen Fremdkörper herum ausbreitete, der vom Wasser auf und ab getragen wurde.
Ich rieb meine vom Schlaf noch müden und verklebten Augen, um das Objekt besser erkennen zu können.
Nur langsam und bedächtig eröffnete sich mir die Realität, deren Unbarmherzigkeit so plötzlich und unvorbereitet zuschlug, wie eine Guillotine den Kopf eines Mannes vom Leib trennt.
Zuerst stieg mir der widerwärtigen Gestank in die Nase, der mir in Wogen entgegenströmte.
Doch dann, schneller als es mir lieb war, gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse und lieferten mir ein klares und gestochen scharfes Bild von etwas, das ich lieber nicht gesehen hätte: Die nackte Leiche von Michelle.
Sie sah aus wie eine überdimensionierte Wachsfigur, wie ein Opfer aus einem billigen Horrorfilm. Stinkende Algen hingen über ihrem ganzen aufgedunsenen Körper und hatten sich um ihre toten, blauen Glieder gewickelt.
Ihr Leib hatte sich mit Meerwasser vollgesogen und besaß nun völlig absurde Proportionen und Auswüchse. Die ausgebleichten Haare windeten sich um den bläulich schimmernden Kopf wie tänzelnde Schlagen und eine im Wasser treibende Blutlache umgab sie wie ein Totenkleid.
Ihre Hände hatten sich krampfhaft zu Fäusten geballt und waren, dem Wasser ausgesetzt, zu riesiger Größe angeschwollen.
Wie in einer Wiege schwappte der Körper mit dem Rhythmus des Wellengangs auf und ab, wobei bei jeder Bewegung des Wassers ein Schwall dunkelroten Blutes aus ihrem Kopf austrat und sich dem Gemenge anschloss, das sich langsam im Meer ausbreitete.
Die nächsten Augenblicke verschmolzen zu einer Kette scheinbar unendlichen Entsetzens. Irgendwie hatten wir es bis jetzt geschafft, uns selbst Mut und Hoffnung einzureden, doch jeder Vorfall dämpfte unseren Optimismus, dessen Quell zu versiegen drohte, wie ein winziges Bächlein im Leib der Erde.
Schweigend verschanzten wir uns in der Hütte, richteten unsere schreckensstarren Blicke auf einen Punkt, der weit fernab der Insel und auch fernab jeglichen Sehbaren liegt und warteten schweigend, bis die Dunkelheit die Aussicht auf die grausame Tat verhüllte.
Der Schlaf kam stoßweise, wenn der Körper unter der Anstrengung zu kapitulieren drohte, währte jedoch nur einige Minuten, denn die Angst saß zu tief und ihre langen Arme reichten sogar bis in das Reich der Träume hinein.
Zum ersten Mal spürte ich die Konsequenzen der psychischen wie physischen Überbelastung am eigenen Leib. Die Geräusche des Urwaldes schwollen auf einmal zu unnatürlicher Lautstärke an, sodass ich mir die Ohren zu halten musste, um den Lärm auszuschließen. Einmal glaubte ich Blut aus meiner Nase fließen zu spüren, ja, ich hätte schwören können, dass sich völlig unvermittelt aus allen meinen Körperöffnungen ganze Schwalle von Blut ergossen. Doch als ich hinlangte, trafen meine Finger nur auf spröde, rissige Haut.
Als schließlich die Sonne aufging, erwachte ich zum elften oder zwölften Mal.
Die Hütte begann einen fauligen, modrigen Gestank auszusondern, ohne dass wir einen Grund dafür erkennen konnten. Es war, als söge das Holz den Tod und den Verfall um uns herum auf und wurde dadurch zum Verschimmeln gebracht. Ein unsichtbarer Brodem waberte durch den kleinen Raum, angereichert mit dem Geruch tausender Leichen im Stadium fortgeschrittener Verwesung.
Es fing harmlos an. Zu Beginn glaubten wir, der üble Gestank zöge von der Leiche heran oder von einem Tierkadaver, der irgendwo in der Nähe liegen musste. Doch mit zunehmender Dauer wurde es schlimmer. Ich roch an den Holzstreben und erkannte, dass sie es waren, die den abscheulichen Geruch verströmten. Nachdem das letzte Maß der Erträglichkeit erreicht war, verließen wir die Hütte und traten an den Strand hinaus.
Wie eine Salve gleißender Lichblitze traf uns die Helligkeit des Tages. Noch nie zuvor war die Sonne derart irisierend und glühend erschienen und hatte den goldgelben Strand in einen brennenden Kranz aus weißem Feuer getaucht.
Allmählich erschienen alle vertraut gewordenen Umrisse, nur weit entfernt, als winziger Punkt am Horizont, am hintersten Ende des Strandes, stand eine Gestalt, deren Auftreten und Vorhandensein nicht im geringsten als vertraut oder alltäglich bezeichnet werden kann.
Selbst im blendenden Licht der Sonne, das die Welt in ein funkelndes, weißglühendes Durcheinander verwandelte, wirkte er wie ein Leuchtturm, im finsteren Gewühl der dunklen Nacht. Seine Aura durchdrang die Umgebung wie eine Lanze eine Brust durchstößt und seine erschreckende Erscheinung wurde nur noch durch die Fremdartigkeit übertroffen. Der Verwesungsgeruch in meiner Nase und der schimmlige Geschmack in meinem Mund verblassten gegenüber dem exorbitanten Kontrast, der mir nun den Rachenraum erfüllte.
Ein unkontrollierbarer Brechreiz überkam mich und völlig hilflos fiel ich auf die Knie und übergab mich. Leises Knirschen näherte sich von hinten und trat an mir vorbei. Mit tränenunterlaufenen Augen blickte ich auf und erkannte die Umrisse von Shirley, die sich auf dem flammenden Horizont abzeichneten. Wie hypnotisiert stand sie neben mir und diese ungreifbare, unbeschreibliche Macht, die von dem Hasen ausstrahlte und die meinen Magen rotieren ließ, schien an ihr vorüberzugleiten wie ein unbekümmerter Windhauch.
Ihre Haare krümmten sich leicht in Richtung des Hasens, als ginge ein Sog von ihm aus, der sie anzog. Ein kaum wahrnehmbares, aber dessen ungeachtet übernatürlich eindringliches Flüstern durchdrang die Luft als die Stimme einsetzte, die ich schon einige Male vernommen hatte und die selbst zu einem Raunen gesenkt, mit eiserner Gewalt und tiefschürfender Intensität eine Wirkung besaß, die jeder Beschreibung spottete.
Es war, als besäßen ihre Silben Arme, die einen am Körper packten und zu sich hin zerrten, als wäre ihr Klang eine Schlinge, die sich mit dem Ertönen um die Kehle legte und sich unwiderruflich enger zog, bis die Realität einzig und allein aus der alldurchdringenden, allgewaltigen Stimme bestand.
Mit kleinen Schritten näherte sie sich ihm, von seinem unwiderstehlichen Ruf betört, machtlos gegenüber seinen Kräften und unfähig, die Gefahr zu erkennen, die hinter dieser verlockenden Gestalt lauerte.
Wie ein Strudel erfasste er ihren Geist und ihren Körper, schien sie mitzureißen, in die Bahnen seines Zaubers zu lenken, doch war sie wirklich schon schwach genug, um endgültig gefangen genommen zu werden? Verbarg sich hinter den glasigen, hypnotisierten Augen nicht ein letzter Schimmer Vernunft, der nur aktiviert werden musste, wie eine scheinbar erloschene Glut, deren letzter Funken nur einen Windstoß benötigte, um von neuem aufzuglimmen und zu einer lodernden Flamme zu wachsen?
So leicht, das schwor ich mir in diesem Moment, so leicht würde er es mit uns nicht haben!
Mit allen Kräften, die ich aufbieten konnte, presste ich mich nach oben und versuchte die aufsteigende Übelkeit so gut zu ignorieren, wie ich konnte.
Ich wollte nach ihr schreien, sie am Handgelenk packen und von diesem Monstrum und seinem perfiden Lockruf wegzerren, doch nicht einmal der kleinste Laut verließ meinen Mund, geschweige denn war ich in der Lage, auch nur einen einzigen Schritt zu tun.
Aber je schneller diese Lähmung fortschritt und mich in Schach zu halten vermeinte, wuchs eine mächtige Wut in meinem Bauch empor, die sich aus dem Handeln des Hasens nährte und mit jeder Sekunde gedieh.
Ich schloss die Augen und horchte in mich hinein. Ein leichtes Rascheln einer lodernden Flamme, ein kräftiges Knirschen von glühendem Holz, ein heiseres Atmen von zischenden Zungen. In einem inneren Inferno brachte ich dieses wütende Feuer zum explodieren und brach die unsichtbaren Fesseln, die um meinen Körper lagen, entzwei.
Ich raffte mich auf die Beine und versuchte zu schreien, doch ein ohrenbetäubender Lärm strömte mit einem anschwellenden Wind einher, der urplötzlich eingesetzt hatte, verschluckte meine Stimme und trug sie ungehört davon.
Ein Gröhlen aus tausend gepeinigten Seelen stürmte uns entgegen, aber noch immer schritt Shirley völlig willenlos gen Hasen. Als letzte Möglichkeit sah ich nun, mich gegen die Hindernisse zu wenden, die der Bastard aufbot, Shirley zu packen und davon zu tragen.
Aus Leibeskräften stemmte ich mich gegen die unsichtbaren Wälle und versuchte die letzten Kräfte zu mobilisieren, die in mir verborgen sein mochten. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, je stärker ich mich dagegen auflehnte, umso entschlossener schienen sich diese unüberwindbaren Mächte gegen mich zu verbünden. Es war, als liefe ich gegen eine Betonmauer und als ich die Aussichtslosigkeit meiner Bemühen erkannte, ließ ich mich entkräftet auf den Boden fallen.
Meine Hände schlossen sich um die bröselige Masse des Sandes und pressten ihn durch die Ritzen meiner Finger.
Aber...
Wie ein Beben zuckte eine Erkenntis durch meinen Körper und noch ehe ich mich versah, ja, ehe ich selbst realisierte, was ich tat, hatte meine zur Schaufel geformte Hand bereits eine Ladung Sand aufgenommen. Vor dem flammenden Horizont zeichnete sich eine schwache Gestalt ab, die sich unentwegt den Strand entlang bewegte. Mit letzter Körperbeherrschung trieb ich meine Faust in die Luft und warf die Sandkörner nach Shirley.
Wie ein rieselnder Regen aus glühenden Funken gingen sie vor dem Horizont hernieder und streiften, so glaubte ich jedenfalls zu erkennen, auch die Umrisse der Person, in der ich glaubte, Shirley zu erkennen.
Sie blieb stehen.
Ungläubig richtete ich meinen Blick auf den Hasen. Ein Flackern wie von einer Kerze schob sich über seine Erscheinung und nach und nach senkte sich die gleißende Helligkeit, die den Himmel bedeckt hatte zu einem leuchtenden Glühen. Für einen kurzen Moment vermeinte ich zu spüren, wie die Barrieren, die mich gefangen hielten, nachließen oder zumindest an Kraft verloren und versuchte augenblicklich aufzuspringen. Eine leichte Dämmung stellte sich meinen Bemühungen, fortzuschreiten, zwar entgegen, konnten mich jedoch jetzt nicht mehr aufhalten.
Mit der Kraft des Gejagten sprintete zu Shirley, packte ihren herrenlosen Körper, legte ihn über meine Schulter und rannte hinfort. Ein diffuses Leuchten umfing mich von hinten. Ein körperloses, amorphes Glimmen, das nur Andeutungen des Grauens aufblitzen ließ, welches an seinem Quell wohnte. Die verzerrte Stimme des Hasens erklang zitternd hinter meinem Rücken. Doch sein bestialisches Lachen drang nur schwach bis zu meinem Ohr und hatte jegliche Verführungskraft eingebüßt.
Nichts oder niemand versuchte mich aufzuhalten und so ließen wir dieses wahnsinnige Schauspiel hinter uns. Doch weit konnten wir nicht gehen. An allen Seiten thronte der störrische Gott des Wassers. Alle Wege hatten nur ein Ziel.
Alle Wege führten zu ihm.
X
In mancher stillen Nacht, wenn die Tiere aus Achtung schweigen und die Welt für einen Augenblick ihre Geschäfte ruhen lässt. Wenn weißgraue Wolken sich bedächtig vor den Mond schieben, der auf einem Himmel wohnt, auf dem unzählige funkelnde Sterne der Nacht einen zaubernden Schimmer verleihen, dann meint man manchmal eine leise Stimme zu vernehmen.
Eine Stimme, die immer da ist, ob wir ihr zuhören oder nicht. Eine Stimme, die so alt ist wie der Ton selbst, älter als das älteste Ohr, das sie hätte vernehmen können.
Wie Balsam schmiegt sie sich um uns, lenkt und führt uns, obwohl wir sie manchmal auch ignorieren.
Gewaltig wie ein Vulkan ist sie, dennoch geschmeidig wie ein Tuch aus Samt.
Nicht wie die Stimme des Hasens, aber auch nicht unähnlich, dringt sie tief in das Bewusstsein ein, nimmt es ganz für sich in Anspruch, bis man gar nicht mehr merkt, dass sie da ist.
Man selbst wird eins mit der Stimme, klingt in völligem Gleichklang mit ihr, in perfekter Harmonie.
Mitunter schwillt sie an, treibt uns in unbekannte Höhen, lässt uns fallen. In Zeiten größter Not erfasst sie uns mit ihrer Wucht und schiebt uns voran.
Wenn man ihr zuhört, dann spricht sie zu einem.
Weist man sie ab, kann sie störrisch werden wie ein bockiges Pferd.
Doch da ist sie immer.
In dieser ganz bestimmten Nacht, von der ich spreche, als eine unnatürliche Stille auf der Insel lastete, als die Tiere schwiegen und selbst das Wasser leiser zu rauschen schien als sonst, da schenkte ich ihr Gehör. Und sie sprach.
Am nächsten Tag zeigte sich in übermäßiger Deutlichkeit, wie sehr wir uns am Ende unserer Kräfte befanden. Weder ich noch Shirley waren in der Lage uns zu bewegen und an den Schatten der Hütte gefesselt, verharrten wir schweigend im Halbdunkel.
Man denkt sicherlich oft an den eigenen Tod und unter welchen Umständen er sich wohl zutragen wird, doch mit einer solchen Situation hätte ich selbst in meinen schlimmsten Alpträumen nicht gerechnet.
Man verendet qualvoll, langsam, mit dem Wissen um das eigenen Schicksal und ohne die Möglichkeit, es abwenden zu können.
Mittlerweile bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht einmal mehr in der Lage bin, zu sagen, ob der Hase tatsächlich existiert oder nur eine Illusion unseres gebeutelten Verstandes ist, der uns dieses perverse Spiel nur vorgaukelt. Ob er nicht nur eine Reflexion unserer eigenen Abgründe darstellt, die unser Leben lang nur unter der Obfläche des Bewusstseins lauerten und auf dieser Insel einen Tunnel ins Freie gruben?
Bin ich wahnsinnig? Bin wirklich ich es, der die Vorkommnisse geschaffen habe? Ist einzig und allein mein Unterbewusstsein verantwortlich für diese Chimären und Gespenster?
Ich kann es nicht sagen. Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht.
Allerdings glaube ich nicht an eine kollektive Illusion, nein, nicht jeder von uns hätte dasselbe gesehen, dasselbe gespürt und gehört. Nein.
Ach Herr, lass dies alles nur ein bitterer, schlechter Traum sein, der mit dem Erwachen auf ewig in Vergessenheit gerät. Lass diese Hölle keine Realität sein.
Bitte.
Im Schatten der Hütte verloren alle realen Konturen ihre Bestimmtheit. Alle Umrisse verschwammen, lösten sich auf zu einem bunten Gewühl, das sich jedem Versuch der Betrachtung entzog. Ich schloss meine Augen, versuchte es auszusperren, doch meine Lider nahmen diesselben Formen und Farben an. Alles drehte sich, ein Schwindelgefühl ergriff mich.
Dann trat ein dunkler Schatten aus der Mitte der Tür hervor. Der Hase.
Mit einem gewaltigen Adrenalinstoß erwachte ich. Noch immer drehte sich alles. Ich war schweißnass. Eine glutrote Sonne ging über dem Strand unter. Irritiert blickte ich neben mich.
Shirley war nicht da.
Mit einem Satz war ich aus der Hütte und blickte mich panisch um. Der Strand funkelte golden vor einem blauen Meer. Am Ende des Strandes stand eine Gestalt. Eine Aura strahlenden Lichts umgab ihn. Ich konnte ihn nur vage erkennen, aber das leuchtende Rosa machte ihn unverkennbar. Etwa auf der Hälfte der Strecke befand sich eine weitere Silhoutte, bei der sich ohne Zweifel um Shirley handelte. Ihre nackte Haut gläntze im Licht der untergehenden Sonne, völlig nackt und wie hypnotisiert schritt sie auf ihn zu.
Ich konnte sie unmöglich noch erreichen, egal wie schnell ich auch lief. Deswegen begann ich so laut zu schreien, wie ich konnte. Ich rief ihren Namen, rief sie sollte zurückkommen und belegte den Hasen mit allen Flüchen, die ich kannte. Doch alles war vergebens. Verzeifelt fiel ich auf die Knie und der brennend heiße Sand schmiegte sich um meine Beine. Der Schmerz durchlief meinen Körper und schenkte mir eine lang ausgebliebene Klarheit. Das wühlende Chaos in meinem Inneren, diese Verzweiflung und Niedergeschlagenheit, die mich beherrscht hatte, wich augenblicklich zurück.
Kurz bevor sie ihn erreichte, drehte ich mich um und ging in die Hütte zurück. Nun war ich alleine. Nun war ich ganz auf mich allein gestellt.
XI
Je länger man sich auf dieser Insel befindet, umso mehr wird man zwar in ihren Sog gezogen, doch gleichzeitig bietet sie einem auch eine Möglichkeit, sich ihr zu stellen. Eine unsichtbare Kraft versucht von einem Besitz zu ergreifen und jede Minute, in der man sie widerstandslos gewähren lässt, schreitet sie ungehindert voran.
Doch es gibt Mittel und Wege sie aufzuhalten. Einen davon habe ich entdeckt.
Den Schmerz.
Immer wenn ich spüre, dass meine Konzentration nachlässt oder eine Schwummrigkeit in mir wächst, ritzte ich mir mit einem scharfkantigen Stein den Arm auf. Für Sie mag sich das unzweifelhaft mit den Symptomen eines Wahnsinnigen decken, doch für mich stellt das die einzige Möglichkeit dar, dem einseitigen Pfad in den Irrsinn zu entgehen.
Zwei Tage lang verharrte ich im Inneren der Hütte und als ich danach wieder einmal nach draußen trat, weil mein Trinkwasser ausgegangen war, nahm mir die Helligkeit für einen Moment die Sicht.
Meine beiden Arme waren von getrocknetem Blut verkrustet und der Schmerz zog bis in meine Schulter hoch. Die Beine hatte ich noch unangetastet gelasssen, weil ich glaubte, nein, wusste, dass ich sie noch brauchen würde.
Da stand er also. An der selben Stelle, wo er vor zwei Tagen auch gestanden hatte. Doch diesmal war er wesentlich größer. Anscheinend war er in den vergangenen Tagen um einiges gewachsen, denn nun musste er gut drei bis vier Meter messen. Sein Pelz hatte das zarte Rosa verloren und erstrahlte nun in einem dunklen Blutrot. Sein Kopf erschien völlig überdimensioniert und stand in keinem Verhältnis zu seinem Körper. Selbst aus dieser Distanz ließen sich seine Gesichtszüge erkenen, die zu einem Bild des Schreckens verzerrt waren.
Zu seiner Rechten stand Alex, völlig nackt. Shirley lehnte ebenfalls unbekleidet zu seiner Linken und beide hatten eine Hand um seinen Körper gelegt. Eine gewisse Zärtlichkeit lässt sich nicht verleugnen. Sie sahen aus wie Kinder, die ihrem Vater huldigen.
Vor den Füßen des Hasen kniete Michelle und räkelte sich um seine Pfoten. Bei genauerem Hinsehen ließ sich das Glied von Alex erkennen, das extrem erregiert und angeschwollen war und feuerrot leuchtete.
Michelle kroch über den Boden zu ihm, umfasste sein Glied und fing ungeniert an, daran zu lecken. Die riesige Hand des Hasens umfasste ihren Po.
Dann erhob sich langsam zwischen den Beinen des Hasens ein kollosaler Penis, der in etwa einen Meter lang sein musste. Shirley ließ sich davor nieder und massierte ihn.
Ich konnte diesem Anblick eine gewisse Faszination nicht absprechen, so grotesk und abartig er auch anmutet. So sehr er mich auch anwiderte, in einem gewissen Maße zog er mich auch an, weckte ein Verlangen in mir, das mich zu verschlingen drohte, wenn ich es nicht schaffe, mich zu widersetzen.
"Komm zu uns. Wehr dich nicht. Lass es geschehen. Je länger du kämpft, desto schmerzhafter wird es. Gewinnen aber, kannst du nicht! Wir kriegen dich!", sagte die Stimme dieser Kreatur.
"Lass es geschehen, Kumpel! Ich weiß, dass es dir gefallen wird. Wir wissen doch, auf was du abfährst.", sagte Alex.
"Na komm schon, Süßer. Bitte enttäusch uns nicht! Wir warten auf dich! Na komm. Wir lutschen deinen Schwanz so oft du willst!, sagte Michelle und massierte dabei unaufhörlich den Penis von Alex.
"Ja, du kannst uns ficken, so oft du willst.", kreischte Shirley.
Diese Stimmen kamen aus meinem Kopf, nicht aus den Mündern der weit entfernten Personen.
Nun merkte ich erst, dass auch mein Glied bereits erregiert war.
Ich trat einen Schritt nach vorne.
Hinter mir schoben mich Hände. Vor mir zogen mich Hände.
Wie von alleine ging ich, ohne etwas dazutun zu müssen.
Die Fratze des Hasens war zu einem bestialischen Lachen verzogen, doch noch konnte ich ihn nicht gewinnen lassen. Noch spürte ich einen letzten Rest meines Verstandes in mir glimmen.
Ich riss mich von den unsichtbaren Klauen los, die an mir zerrten und rannte ohne mich umzusehen zur Hütte zurück. Noch immer tobten diese Bilder in meinem Kopf und noch immer spürte ich die Anziehungskraft dieser Perversion, die an mir zog und riss und zerrte.
Ich nahm den Stein, legte seine Kante an meinen Fußknöchel an und schlitze mein Bein bishin zum Knie auf. Sofort schoss warmes Blut aus der Wunde und floss mein Bein hinunter. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich der Sand unter mir rot gefärbt. Doch je mehr Blut meinen Körper verließ, je tiefer ich meine Finger in die Wunde grub, um so weniger verlockend erklang der Ruf des Hasens. Je schlimmer der Schmerz wurde, desto mehr konnte ich mich lossagen.
Das Bild erschlosch, die Stimme verklang.
Alles schwieg. Alles verschwand.
In mir war nur noch Schmerz und Klarheit.
XII
Soll es nun so enden? Sollen diese Bürden, diese Qualen der Widersetzung alle vergebens gewesen sein? Seit Tagen spüre und höre ich ihn rufen und ich fürchte, ihm nicht mehr lange widerstehen zu können.
Der Hase ruft mich und ich muss ihm folgen.
Ich bin am verhungern. Mein Körper ist von Schnittwunden übersät, die nicht verheilen. Nur der tiefe, bittere Schmerz lässt ihn schweigen. Doch auch dieses Mittel fruchtet nicht mehr. Immer kürzer werden die Zeiten, die der Schmerz ihn sprachlos macht, immer lauter wird seine Stimme in meinem Kopf.
Ich kann nicht mehr.
Am Ende des Strandes steht er. Ich werde seinem Ruf folgen. Noch nicht jetzt. Aber bald.
ENDE DER AUFZEICHNUNG