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Flieger Jab
Flieger Jab
Es war etwa halb drei Uhr früh, als ich das Buch beiseite legte und die kleine Tischlampe ausschalten wollte. Doch plötzlich erstarrte ich vor Schreck.
„Hey, Jab!“ Ich blickte angespannt zum Fenster, denn aus dieser Richtung kam die unerwartete Stimme.
„Komm doch mal rüber zu mir! Ich möchte dir etwas zeigen. Komm!“ Ich konnte es nicht fassen. Einerseits war ich aufgeschreckt, andererseits hatte ich aber keine richtige Angst. Der Mann musste sich hinter der Gardine verstecken.
Ich schlug die Bettdecke zurück und richtete mich vorsichtig zum Sitzen auf. Im Liegen hatte ich keine Chance, mich zu verteidigen. Wie kam plötzlich eine Person in das Zimmer? Okay, es war eine heiße Sommernacht und ich hatte wie gewöhnlich das Fenster aufgelassen, aber ich wohnte im dritten Stockwerk und es musste recht schwierig sein, den gesamten Weg hinaufzuklettern.
„Wer immer du bist: was willst du und wie kommst du in meine Wohnung?“ Während ich sprach tastete ich vorsichtig unter das Bett, um die kleine Eisenstange zu finden, die ich für den Notfall dort bereithielt.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Jab. Ich bin hier!“ Die Gardine wurde zur Seite geschlagen und ein kleiner schwarzhaariger Mann von höchstens 20 Jahren kam zum Vorschein. In diesem Moment hatte ich die Eisenstange ergriffen und hielt sie schützend vor meine Brust.
„Wer bist du? Was willst du? Ich rufe gleich die Polizei.“
„Ich heiße Midusi und ich möchte dir zeigen, wie man fliegen kann.“ Das war natürlich eine klare Antwort, doch sie ließ mich am Verstand meines Gegenüber zweifeln.
„Du willst mir zeigen, wie man fliegen kann? Sag mal, bist du irgendwo aus einer Anstalt entflohen?“
„Aber Jab, du wolltest doch immer schon mal selbst fliegen können, einfach so und völlig frei, oder nicht?“ Woher kannte dieser Knabe meinen Namen und woher wusste er von meinen Träumen vom Fliegen?
„Woher willst du wissen, was ich möchte? Am besten, ich rufe jetzt die Polizei. Immerhin bist du in meine Wohnung eingedrungen.“
„Pass einmal auf!“ Er kletterte auf das Fensterbrett, ging in die Hocke und breitete die Arme weit aus, dann ließ er sich fallen. Ich stürzte zum Fenster.
„Hey, warte! Warum machst du das?!“ Ich blickte nach unten auf den Gehweg, doch nur ein oder zwei Meter unter mir schwebte in der freien Luft dieser Bursche, auf dem Rücken ‘liegend’, die Hände hinter dem Kopf gekreuzt und mich frech anlächelnd.
„Wenn du möchtest, zeige ich auch dir, wie man fliegt. Du hast doch die ganzen Jahre deines Lebens davon geträumt. Dies ist jetzt deine Chance, deine Träume wahr zu machen.“
„Ja, genau, das ist nur einer dieser seltsamen Träume, die vom Fliegen handeln.“
Midusi drehte sich zornig um seine Längsachse und stemmte wütend die Fäuste in die Hüften.
„Ich bitte dich, Jab, du weißt genau, dass dies kein Traum ist.“ Er flog zu mir heran und klatschte mir kräftig ins Gesicht, so kräftig, dass meine Wange brannte.
„Na, tut weh, nicht?“ Es tat wirklich weh. Ich war aber nicht wütend über den Schlag, sondern eher überrascht. Wie sollte ich diesen realen Schmerz empfinden, wenn ich träumte?
„Und schaue deine Freundin an! Sie liegt wie immer friedlich in ihrem Bett. Ein Traum?“ Tatsächlich lag Jolie auf ihrer Bettseite, den Mund weit geöffnet und laut schnarchend.
„Gut. Nehmen wir einmal an, dies ist kein Traum - wieso kannst du fliegen?“ Ich wusste eigentlich gar nicht, was ich sagen sollte, die gesamte Situation war ziemlich abgefahren.
„Wieso kannst du genau das, wovon die gesamte Menschheit seit Jahrtausenden träumt. Warum?“ Midusi zog seine Augenbrauen nach oben und blickte mich an, als sei ich verrückt geworden.
„Weißt du Jab, du hast ja recht. Die Menschen versuchen tatsächlich seit jeher selbständig zu fliegen. Ja, und nun hat es eben einer von ihnen geschafft. Ich, Midusi!“ Er sprach mit einer Selbstverständlichkeit, die mich beinahe überzeugte, dass nicht fliegen zu können, etwas Peinliches sein musste.
„Nun ja, es klingt, wie in einer billigen Fabel“, begann Midusi zu erklären, „aber ich habe einen Stein gefunden, der offenbar vermag, die Schwerkraft unter sich aufzuheben. Wenn man ihn in die Hand nimmt und sich konzentriert, fängt man plötzlich an zu schweben; durch seine Vorstellungskraft steuert man seine Bewegungen.“ Midusi untermalte seine Beschreibungen mit heftigen Bewegungen seiner Arme.
„Und du glaubst also, wenn ich diesen Stein in die Hand nehme, fange ich plötzlich an zu schweben?“
„Ja, genau wie ich. Nur musst du dich dabei konzentrieren, ich meine, auf das, was du vorhast. Du musst es wollen und daran glauben, dann funktioniert es.“
Ich war plötzlich überzeugt, dass es stimmte, denn ich nahm meine gesamte Umgebung sehr reell wahr. Der leichte Wind in meinem Gesicht, die helle Stimme von Midusi, Jolies Schnarchen, einfach alles.
„Okay, dann gib mir den Stein, ich werde es ausprobieren.“ Midusi war sichtlich erfreut.
„Gerne, Jab. Aber du musst ihn mir wiedergeben, weil ich nur diesen einen Stein habe. Ich wollte in den nächsten Tagen einen weiteren Stein dieser Art suchen, aber du kannst dir ja vorstellen, wie schwierig das ist.“ Midusi machte einen doppelten Salto nach vorne und landete gekonnt auf dem Fenstersims. Er gab mir den Stein in die Hand. Er war glatt, schwarz und rund und hatte etwa die Größe einer Pflaume.
„Hey, Jab, du weißt doch, dass ich dir vertraue, oder?“
Ich drückte den Stein, schloss die Augen und sagte mit fester Stimme:
„Ich fliege. Ich fliege.“ Midusi fiel mir ins Wort.
„Oh nein, Jab! Du hast es nicht verstanden.“ In der Tat hatte ich mich keinen Zentimeter in die Luft bewegt. Midusi schlug sich kräftig aufs Herz.
„Hier! Es muss von Innen kommen! Das hat nichts mit fest drücken und Selbstsuggestion zu tun.“ Nun blickte Midusi mir lächelnd ins Gesicht. Er hatte große runde Augen und ein ebenso rundes Gesicht.
„Nimm den Stein leicht in die Hand, schließe die Augen, konzentriere dich und habe einen sanften aber starken Willen, zu fliegen.“
Ich nahm wieder den Stein und konzentrierte mich. Tatsächlich schwebte ich prompt unter der Decke. Die veränderte Perspektive und das Gefühl der Schwerelosigkeit begeisterten mich.
„Ich kann fliegen!“, rief ich und fiel dadurch sofort wieder auf den Boden.
„Mach nicht so´n Lärm, Jab. Komm ins Bett!“ Jolie war kaum zu verstehen, da sie vollkommen schlaftrunken sprach. Midusi zog seine Schultern nach oben und blickte mich mit ausgebreiteten Armen fragend an, als wollte er mir die Entscheidung überlassen, Jolie einzuweihen. Sie lag zur Hälfte auf meiner Bettseite und hatte die Augen geschlossen. Ich hielt die Luft an, um kurz abzuwarten, was passieren würde. Nach ein paar Sekunden atmete Jolie wieder tief und regelmäßig, war also wieder eingeschlafen. Spätestens jetzt wusste ich, dass ich nicht träumte.
Ich richtete mich wieder auf und blickte Midusi entschlossen an.
„Weiter!“
„Gut, Jab. Also, du hast es jetzt geschafft, aber vorhin als du das gerufen hattest, hast du deine Konzentration verloren und bist dadurch abgestürzt.“
„Ja, ich weiß, aber das macht nichts, ich habe es nun verstanden.“ Mein rechtes Knie schmerzte, ich musste darauf gelandet sein.
„Na gut, Jab“, sagte Midusi ernst, „dann kannst du jetzt versuchen, sanft aus dem Fenster zu schweben. Denke in der Luft die Bewegungen, die du ausführen möchtest und du wirst sie ausführen und bleibst in der Luft.“ Ich atmete tief durch, denn ich war sehr aufgeregt.
„Meinst du nicht, ich brauche doch noch etwas Übung, hier auf dem Trockenen?“
„Du brauchst keine Übungen mehr, Jab. Dein Wille zu fliegen und deine Konzentration sind stärker als meine. Genieße deine Zeit! Jetzt!“ Midusi schien ungeduldig, nahm meinen Arm und führte mich zum Fenster. Neben dem Fenster stand das Bett, in dem Jolie wieder sehr fest schlief.
„Komm, tritt auf das Sims und fange an, dich zu konzentrieren.“ Ich hockte nun im offenen Fenster und spürte die frische Luft der Nacht. Ich breitete die Arme aus; einige Regentropfen eines heraufziehenden Sommergewitters kamen auf meine Hände.
„Es regnet. Macht das nichts aus?“
„Keine Rede. Regen hat keine Wirkung. I’m singing in the Rain, just singing and dancing and laughing in the Rain“ sang Midusi plötzlich in der bekannten Melodie.
„Kennst du nicht dieses Lied? Jeder kennt es! Es ist von Nat King Cole.“
„Nein“, rief ich laut und dreht mich zu Midusi um, „es ist von...“ Midusi war nicht mehr zu sehen.
„Midusi, wo zum Teufel...“ ich drehte mich weiter und verlor dabei das Gleichgewicht. Mit einem lauten Rums fiel ich direkt neben das Bett auf den Boden.
„Komm wieder rein, du bist aus dem Bett gefallen!“ Jolies müder Kopf hing direkt über mir.
„Jolie, hast du diesen Midusi gesehen, er war...“
„Jab, jetzt komm ins Bett, du hast einfach nur schlecht geträumt und bist dabei aus dem Bett gefallen.“ Ich kroch unter die Bettdecke und nahm Jolie in den Arm.
„Jolie, ich bin eben geflogen; ich habe über dem Boden geschwebt. Ich weiß es genau.“ Jolie lachte kurz auf und murmelte etwas, was ich nicht verstand. Kurz darauf schlief sie wieder ein.
Ich streckte mich aus und versuchte den Kopf leer zu bekommen, um einschlafen zu können, aber mein rechtes Knie schmerzte und hinderte mich daran. Ich wusste nicht, was geschehen war. Im Schimmer der Straßenlaterne sah ich einen kleinen schwarzen Stein auf dem Fußboden liegen.