Mitglied
- Beitritt
- 04.11.2002
- Beiträge
- 61
Flucht
Sie schloss die Augen, um besser auf die Geräusche um sich herum lauschen zu können. Außer Vögeln, die ihre Lieder von den Bäumen herab sangen konnte sie ein Rascheln ganz in der Nähe ausmachen und kurz darauf hörte sie das Knacken von Ästen. Ein modriger Waldgeruch stieg ihr in die Nase. Verängstigt öffnete Katrin die Augen wieder. Eine fast völlige Dunkelheit schloss das Mädchen ein, sie konnte gerade mal die Umrisse der Bäume erkennen, die sie umgaben. Hier stand sie nun, alleine und völlig verloren. Katrin wusste nicht mal, wie sie hier hergekommen war. Sie vernahm das Geräusch von Schritten irgendwo hinter ihrem Rücken. Erschrocken drehte sie sich um, doch sie konnte nichts erkennen, es war einfach zu dunkel. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass da wirklich nichts war, setzte sie sich langsam und vorsichtig in Bewegung, wie ein Kätzchen, das versuchte unentdeckt zu bleiben, schlich das Mädchen durchs Unterholz des unbekannten Waldes.
Angestrengt starrte sie ins Dunkel der Nacht. Plötzlich sah sie zwei rote Punkte vor sich in der Finsternis auftauchen. Katrin blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Herz raste, ihr Atem wurde schneller. Die roten Punkte kamen unaufhaltsam auf sie zu. Was war das? Um Himmels Willen, was passierte hier, wo war sie? Jetzt waren die unheimlich leuchtenden Punkte nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Aus der gleichen Richtung vernahm sie Schritte. Es waren schwere, langsame Schritte. Plötzlich war alles still. Zu still. Kein Vogel sang, kein Wind wehte. Die leuchtend roten Punkte bewegten sich nicht mehr, sie schienen sie zu fixieren. Wie ein Reh, das von den Scheinwerfern eines nahenden Autos geblendet wurde, blickte sie erschrocken in Richtung der etwa wallnussgroßen Punkte. Nun, da sie nah genug dran war, konnte sie auch mehr erkennen. Sie sah die plumpe, füllige Silhouette eines aufrecht stehenden Wesens. Die roten Punkte mussten die Augen der Gestalt sein. Eindringlich und böse starrten sie Katrin an. Unfreiwillig trat sie einen Schritt zurück, da bemerkte sie eine kaum wahrnehmbare Bewegung des Wesens.
Wie von selbst ergriffen ihre Beine die Flucht. Weg, einfach weg! Schnell! Katrin wusste nicht wohin sie lief, geschweige denn wovor sie weglief, doch ein innerer Instinkt sagte ihr, dass es besser war einfach nur zu rennen, so schnell es ging. Obwohl sie sich nicht umdrehte, spürte sie, dass ihr die große, kräftige Gestalt folgte. Es kam ihr vor, als fühle sie den kalten Atem des Wesens in ihrem Nacken. Dieser Gedanke ließ sie noch schneller laufen. Da die Nacht sie aber immer noch umgab, wie ein schwarzer Schleier und sie nichts sehen konnte, stolperte sie und fiel hin. Sie schlug mit ihrer linken Schulter auf einem harten Gegenstand auf und ein unerwartet starkes Stechen durchzog unverzüglich ihren Arm. Tränen der Angst und des Schmerzes sammelten sich in ihren Augen, liefen über ihre Wangen und fielen dann auf den ohnehin feuchten Waldboden. Ohne den Schmerz in ihrer Schulter zu beachten stand sie sofort wieder auf und rannte panisch weiter. Durch den Sturz hatte ihr Verfolger einige Schritte aufgeholt.
Vor Katrin erschien plötzlich eine Lichtung. Hier warf der Mond ein fahles, blaues Licht auf die weite Flur. Als sie den mit Gras bedeckten Boden unter ihren Füßen spürte merkte sie, wie ihr allmählich die Puste ausging. Ihre Beine schienen ihr langsam, aber sicher den Dienst zu versagen. In der Mitte der Lichtung auf einer kleinen Anhöhe, erblickte Katrin eine Hütte. Es war ein kleines Holzhäuschen und im Inneren brannte Licht. Rettung. Hoffnung flammte in ihr auf und bestärkte sie, die Strecke bis zu der Hütte zu schaffen. Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter, auch ihr Verfolger hatte die Lichtung erreicht und setzte seinen Weg bestimmt, wie eine Maschine, die ihrer Programmierung folgte, fort. Katrin musste das Häuschen erreichen. Außer dem Wald, der die Lichtung umgab, hatte sie eh keine Möglichkeiten. Sekunden später hatte das Mädchen die rettende Hütte erreicht. Ihre Beine fühlten sich schwer wie Blei an und sie bekam kaum Luft. Die Anstrengung hatte sie komplett ausgelaugt. Doch noch war sie nicht in Sicherheit.
Eilig riss Katrin die schwere Holztür auf so weit es ging. Sie ließ sich nur einen Spalt breit öffnen, doch das reichte, um ihren schlanken Körper hindurchzuzwängen. Dann ließ sie die Tür wieder zufallen, schob den Riegel vor und stemmte sich mit aller Kraft gegen das dicke Holz. Sie hielt für einige Sekunden den Atem an, um zu hören, ob das Wesen noch hinter ihr her war, doch ihre Lunge rang sofort wieder nach Luft. Auf einmal traf ein harter Stoß die Tür, als hätte sich jemand mit voller Kraft dagegen geworfen. Nach einigen Momenten knackte das Holz erneut unter einem schweren Schlag. Dann war alles ruhig. Sie konnte hören, wie das Wesen auf der anderen Seite der Holztür schnüffelte, als wolle es ihre Witterung aufnehmen, bevor wieder völlige Stille herrschte.
Katrin schloss die Augen, drehte sich um, so dass sie mit dem Rücken gegen die Tür lehnte und ließ sich langsam und erschöpft auf den Fußboden sinken. Nachdem sie ein paar mal tief Luft geholt hatte, öffnete sie die Augen. Auf der gegenüberliegenden Seite des, bis auf eine nackte, von der Decke hängenden Glühbirne, total leeren Holzhäuschens, blickte sie durch ein Fenster ohne Scheibe in zwei rote, leuchtende Augen.