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Flucht
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Kjaska und Svenna wissen, dass sie nicht länger davon laufen können. Sie laufen um ihr Leben, seit Svenna ihre Freundin heimlich aus dem Heiligtum geschmuggelt hat. Ohne Fragen zu stellen, sie ist eine treue Seele.
Fieberhaft suchen sie zwischen den leuchtenden Schneeverwehungen nach einem Versteck, als sich etwas anbahnt. Zuerst fühlen sie es wie leichte Druckwellen auf der Haut. Ein scharfes Sirren wie eisige Kristalle erfüllt die Luft im winterlichen Wald. Kjaska spürt Svenna zittern, und bemerkt, dass ihrer Beider Atem plötzlich keine verräterischen Dampfwölkchen mehr in die frostige Luft stößt. Atemlos kauern sie sich hinter die dichten Ranken, die plötzlich von allen Bäumen fallen wie grüne Banner. Gemeinsam mit dem unheimlichen Sirren und den Ranken kommt eine trockene, angenehme Wärme. Der glitzernde Reif auf den Blättern und Zweigen um sie herum verdunstet wabernd, die Schneeverwehungen auf den Baumwipfeln schmelzen dahin und tropfen funkelnd zu Boden. Das schrille Sirren verebbt nach und nach, und weicht einem tiefen, klaren Klang, der wie eine Woge Sommerluft über die Ebene flutet.
Endlich treten die Geschöpfe, deren Präsenz die jungen Frauen schon die ganze Zeit erahnt haben, auf die Lichtung, schwebend leicht und doch kraftvoll, hochgewachsen und geschmeidig, raubtierhaft.
„Cajuun“ haucht Svenna, halb entzückt, halb entsetzt. „Tempelwächter.“ Kjaska lächelt schuldbewusst über Svennas Verehrung. Svenna ist doch ein Unschuldslamm, denkt sie sich reuig. Wenn sie die Wahrheit über mich erfährt, wird sie mich verachten. Sie wird mich verlassen. Sie bewundert die Cajuun.
Die sieben, in weite Mäntel gewandeten Gestalten positionieren sich in unregelmäßigen, aber offensichtlich genau bezeichneten Abständen um den enormen, in Granit gefassten Mondstein in Mitten der Lichtung und stimmen einen ruhigen, melodiösen Gesang an, der mal auf, mal absteigt, ohne je auch nur die kleinste Lücke im Klang zu lassen. Kjaska kennt diesen Gesang. Frustriert stöhnt sie auf: Sie ist auf ihrer Flucht direkt zum Suchstein gerannt. Die Cajuun werden versuchen, die Seele der Hohepriesterin zu lokalisieren, wie immer, wenn ihr Körper gestorben ist.
Was, wenn es mir nicht gelungen ist die Seele der Hohepriesterin zu vernichten, nachdem sie endlich gestorben ist? Habe ich die Anweisungen des Fremden mit den unheimlichen goldenen Augen genau ausgeführt? ,denkt sie und fühlt Angst in sich aufsteigen.
Der geschliffene Mondstein beginnt zu glühen, sanft erst und kaum sichtbar, doch mit zunehmender Intensität. Plötzlich tritt einer der Cajuun aus dem Kreis hervor und stellt sich direkt vor den Altar. Sein ganzer Körper scheint bis zum Zerreißen gespannt. Er legt den Kopf in den Nacken und aus seiner Kehle erhebt sich ein unbeschreiblicher Ton, den Kjaska in jedem ihrer Knochen, in jeder Zelle spüren kann. Sie hat das Gefühl, gewaltsam auseinander gerissen zu werden und sich gleichzeitig ganz leise aufzulösen. Gerade als sie glaubt, es nicht länger ertragen zu können, bricht der Ton ab. In dem Moment der absoluten Stille, die folgt, wirft Kjaska einen Blick auf Svenna, die seltsam verkrümmt an einen Baumstamm gesunken ist. Sie will die Hand nach ihr ausstrecken, doch in diesem Moment schießt mit einem Geräusch, das wie eine tausendfache Verstärkung absoluter Stille klingt, ein schmaler, silberner Strahl aus dem Mondstein, hoch und höher, bis er direkt auf den Mond zu treffen scheint. Dort explodiert der Strahl bevor er sich auflöst, und aus ihm entsteht eine schimmernde Aura, die sich langsam zu den wartenden, erstarrten Gestalten hinunter senkt.
Kjaska presst sich gespannt die geballten Fäuste in den Mund. Ihr Herz rast und sämtlicher Speichel zieht sich aus ihrem Mund zurück Sie weiß, dass diese Aura seit Jahrhunderten die Seele der Hohepriesterin umschließt, doch sie ist leer. Natürlich. Angestrengt starrt sie in das wabernde, silberne Gebilde, wohl wissend dass da nichts ist, nicht mehr. Dafür habe ich gesorgt, denkt sie. Ihr Mund verzieht sich zu einem erleichterten Grinsen, ihre Angst ist wie weggeblasen.
Die Cajuun reagieren entsetzt: sie alle treten näher an den Altar heran, über dem die Aura zum Halt gekommen ist, als ob sie hofften, auf die geringere Entfernung doch etwas zu finden, das ihnen vorher verborgen geblieben ist. Ergebnislos: Das Leuchten und Wabern verblasst zusehends und verschwindet schließlich ganz, der Mondstein glüht noch einen Moment nach, dann erstirbt er wieder zu stumpfen, leblosen Glanz. Wie betäubt steht derjenige der Cajuun, der den Mondstrahl ausgelöst hat, vor dem stillen, leeren Altar. Dann dreht er sich um und sagt, scheinbar zu niemandem im Besonderen: „Es ist also wahr. Wir haben die Hohepriesterin verloren.“
Kjaska zuckt zusammen: Sein Gewand weist ihn als den Ersten Siegelwahrer der Hohepriesterin. Und seine schrägen, goldenen Raubtieraugen sehen aufmerksam und wissend in die ihren, bevor er sich abwendet und die Anderen von der Lichtung führt.
Kjaska weiß jetzt, in wessen Auftrag sie die Seele der Hohepriesterin vernichtet hat. Nur so kann man sie vollständig auslöschen, hatte der Fremde in der Taverne betont, als er ihr den Beutel mit Goldstücken und den Anweisungen zur Vernichtung der Seele überreicht hatte.
Die Assassinin dreht sich lächelnd zu ihrer Begleiterin um. Gut, dass sie bewusstlos ist. Sie wird die Wahrheit über mich nicht erfahren müssen, denkt sie zufrieden.
Bald werde ich sie wecken. Dann ziehen wir weiter - gemeinsam.
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