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Flucht
»Und wenn mir der Himmel auf die Rübe kracht, ich gehe nicht zurück« erwiderte Frank. »Zu Hause ...« dachte er schon während der Antwort - wo ist das eigentlich? Fast hatte er vergessen, was der Begriff bedeutet. Sein Gesprächspartner stellte sich als Silvano vor, aus der Toscana. »Frank, aus dem Nirgendwo« entgegnete er.
Sie begegneten sich in einer Bar im Hafen von Valletta. Man saß hier am klebrigen Tresen oder stand vor der Tür mit Zigarette und nem Pint in der Hand. Im Inneren langweilte Graubraun von der Art, wie hundertjährige Holzdielen aussehen. Wenige Bilder mit vergilbten Whiskeylabels verschandelten die Wände. Es roch nach Bier, Pissrinne und Bratfett.
Eigentlich hatte Frank gehofft, am Nachmittag das Spiel seiner Bayern auf einem der drei großen Bildschirme sehen zu können. Auch Silvano war aus diesem Grund gekommen, jedoch nicht der deutschen Mannschaft wegen. Er drückte dem AC Florenz die Daumen. Enttäuscht mussten beide feststellen, dass Sky-Sport sich heute mehr den spanischen und englischen Ligen widmete. Also blieb ihnen keine andere Wahl, als sich mit den Zusammenfassungen zu begnügen und im Schnelldurchlauf zu erleben, wie ihre Teams es vergeigten. »Scheiße« schrie Frank laut und in seiner Muttersprache durch die Bar.
Silvano torkelte schon ein wenig. Er hatte den Tedesco, vor der Tür beim Rauchen angesprochen. Der Italiener war klein, einssechzig vielleicht. Frank mit seinen fast zwei Metern musste sich leicht nach unten beugen, um mit dem Kurzen zu reden. Auch den starken italienischen Akzent verstand er nur mit Mühe. Darum begann die Unterhaltung holprig. Nach drei gemeinsamen Bier in der typischen Barhaltung, die alle Unterschiede beseitigt, verschwanden die Probleme jedoch. Trotz der noch frischen Bekanntschaft empfand man so etwas wie Sympathie füreinander.
Beide um die vierzig und Flüchtlinge - irgendwie zumindest. Frank war aus Deutschland abgehauen, als sein Unternehmen den Bach runter ging. Silvano wurde von seiner Frau verlassen, vor mehr als zwei Jahren und flüchtete vor der Reue in eine neue Einsamkeit. Dann erzählte er von »la Mama« und ihren Kochkünsten, von der kleinen Bar Cinque Stelle am Dorfplatz und von Carla, seiner schönen Carla. Sehnsucht tropfte aus seinen Worten.
Frank hatte gelogen, genau wie so viele Male vorher. Tatsächlich trug er die Verantwortung, als seine Firma zusammenbrach. Immer noch kam ihm das Kotzen, sobald er versuchte über sein Versagen zu reden. Daher bezeichnete er seinen Drang nach »Freiheit« als Grund für die lange Reise. Und Freiheit war es in der Tat die er suchte, jedoch nicht die, die man auf einem Berggipfel empfindet. Langsam dämmerte ihm, dass keine Flucht ihn von bohrenden Gedanken, von Angst und Selbstvorwürfen zu befreien vermochte.
Damals nach dem Schock brach er auf. Der Moment, als er in Taipeh aus dem Flugzeug stieg, prägte sich in seine Erinnerung ein. Gefühlte fünfzig Grad und so feuchte Luft, wie in der Waschküche seiner Großmutter am Waschtag. Abstand gewinnen, auf die Füße kommen, lautete sein Ziel.
»Warum Taiwan?« wollte Silvano wissen.
»Keine Ahnung - billiger Flug, mich zog es einfach weg. So schnell als möglich. Und so weit wie möglich.«
»Wie war‘s dort?«
»Wie überall. Eigentlich hatte ich vor, ne Weile zu bleiben, aber es brachte mir nichts. Hektik, egal wo man hinkam. Ich suchte das Gegenteil.«
»Wie war‘s bei dir?« fragte Frank.
»Seit fast zwei Jahren bin ich umhergereist, so wie ich vor dir stehe. Meist am Mittelmeer entlang.« In der Türkei sei er überfallen worden, zusammengeschlagen, ausgeraubt und im Krankenhaus gelandet, berichtete er.
»Koma, Infusionen und Unmengen Mull und Binden am ganzen Körper. Ich brauchte Wochen, bis ich ohne Schmerzen laufen konnte. Die Polizei fasste die Typen und ich sollte sie identifizieren. Aber am Abend vorher bekam ich Besuch. Die freundlichen Herren mit den Baseballschlägern empfahlen mir abzuhauen. Was tun, dachte ich und rannte los. Wenn du keine Wurzel hast, hält dich auch nichts.«
Silvano erzählte weiter: «Das dickste Ding erlebte ich in Israel. Ich arbeitete in einem Kibutz. Die Palästinenser waren nach langer Zeit wieder mal ernsthaft sauer und feuerten Raketen über den Zaun. Ein kurzer Zisch und dann knallte es, dass man glaubte, im Augenblick irrsinnig zu werden. Ich befand mich mitten drin in einem der Angriffe und schiss mir vor Angst in die Hosen. Menschen schrien, man spürte, dass es welche erwischte. Verletzte würde es geben, mindestens - Tote vielleicht. So dachte ich inmitten des Chaos. Später fragte ich mich, ob eine der Explosionen für mich bestimmt war. Ich meine, ich war da, ich hätte es okay gefunden zu sterben.« Silvano verstummte. Tränen rannen seine Wangen hinab und tropften vom Kinn.
»Was ist weiter passiert?« wollte Frank nach einer Weile wissen und stellte ihm ein frisches Bier hin.
»Die Schwarzhaarige, weißt du« fuhr er fort, »sie lag fünf Meter von mir entfernt. Sie war jung, Anfang zwanzig vielleicht. Zuerst sah ich nur ihr hübsches Gesicht. Sie lächelte schwach. Erst als wir die Trümmer, die über ihr lagen wegrissen, sah man die Verletzung. Hast du schon mal gesehen, wenn der Inhalt eines Bauchs sich im Dreck verteilt?« Wieder versagte ihm die Stimme für einen Moment »Ich war wie gelähmt. Warum sie und nicht ich?«
Frank schwieg. Silvanos Schilderungen riefen Erinnerungen wach. Auf der Fähre zwischen Malaysia und Sumatra, als ein Höllensturm aufkam. »Ich stand auf dem obersten Passagierdeck und machte mich bereit, als auf dem Kahn die Lichter ausgingen« erzählte er. »Die meisten Passagiere weinten vor Angst, manche schrien. Ich war ganz ruhig und nur erschrocken, wie leicht ich mich vom Leben verabschiedete. Als wir später doch in den Hafen von Pekanbaru einliefen, war die Erleichterung buchstäblich greifbar. Die Einheimischen sangen oder beteten. Zurück an Land fühlte ich mich nur leer.«
»Und was machst du?« fragte Frank.
»Ich bin ...« stockte er, »Ich war Tenor und habe die großen Rollen gesungen, Verdi und Mozart. Ich ging auf Tourneen nach Sydney, New York, in die Berliner Staatsoper, die Scala in Mailand.« zählte er die Stationen seiner Kariere auf. »Unsagbar viel Zeit verbrachte ich auf Reisen, mit Proben, Plattenaufnahmen und Konzerten. Seit meine Frau weg ist, stand ich nicht wieder auf der Bühne.«
»Bei mir war es ähnlich.« erzählte Frank, »Ich glaubte, meinen Job gern zu tun, dachte, ich sei Spitze. Hab gearbeitet, eigentlich nur. Zuerst krachte es in meiner Ehe. Später brachen sogar meine Kinder den Kontakt zu mir ab. Ist lange her. Und ich hab weitergearbeitet. Es fühlte sich an wie eine Sucht. Schneller, weiter, höher, immer mehr. Irgendwann war‘s vorbei.«
Beide holten sich noch ein Bier beim verschlafenen Barkeeper und schlenderten den Pier hinunter. Hinter einer Kurve blickte man hinaus aufs Meer. Sie setzten sich auf die Kaimauer. Silvano fing an vor sich hinzusummen - leise, dann lauter und plötzlich erklang ein Lied. Er sang den Klassiker von Otis Redding. Schon die erste Textzeile passte: »Sitting in the morning sun« - die Sonne würde jeden Moment am Horizont auftauchen. Ein hellgrauer Streifen über dem Wasser ließ bereits eine Ahnung davon aufkommen. Der Italiener hatte eine wunderbare Stimme, weich und trotzdem kraftvoll. Als er fertig war, klatschte Frank begeistert und musste mehrmals blinzeln. Der Song klang völlig anders als das Original, aber unglaublich gut. Der Typ war ein Künstler, so viel war klar.
»Und warum hat dich deine Frau verlassen?«, wollte Frank wissen.
»Sie ist mit einem Freund abgehauen. Es zog sie nach Florenz, von Anfang an. Ich hab das nicht ernst genommen, war wohl zu beschäftigt. So kam es zum Bruch, als ein Kerl kam, der ihr genau das bot. Erst nach ihrer Flucht fing ich an zu begreifen. Es gab keinen Streit. Sie verschwand einfach, ganz still. Ich weiß nicht, was mehr weh tat, dass sie ging oder die Art, wie sie es tat.« Trauer schnürte ihm bei den letzten Worten den Hals zu.
»Die Zeit heilt alle Wunden« sagte Frank. Aber sechzehn Monate waren anscheinend noch keine Zeit. Vielleicht stimmte der Spruch, dem er seit Reisebeginn vertraute, ja nicht. Silvano war schon zwei Jahre unterwegs. Auch das schien noch keine Zeit zu sein.
Jetzt saßen beide im Licht der Morgensonne, die eben aus dem Meer auftauchte. Sie blickten in das schwarze Wasser und auf einen Horizont, der in herrlichem Orange erstrahlte. Einige zarte Wolken verstärkten das Farbenspiel. Die Stadt schlief noch und von dem Trubel, der hier bald herrschen würde, war nichts zu spüren.
»Ich genoss es, wenn das Publikum jubelte. Erfolg ist wie eine Sucht.« sage Silvano.
»Ich weiß«, erwiderte Frank. »Und was hat‘s dir gebracht? Du sitzt morgens um halb vier am Hafen einer Scheißinsel im Mittelmeer, mit viel Bier im Bauch und erzählst mir du wärst lieber tot. Was für eine Scheiße?«
Silvano richtete sich auf. »Aber - was soll ich tun?« fragte er.
»Keine Ahnung, was du tust. Du könntest es ja mal bei deinen Wurzeln probieren. Ich jedenfalls nehme den nächsten Flieger und zische ab - nach Hause. Vielleicht kann ich meine Kinder überreden, einen Sonnenaufgang mit mir anzuschauen.«