Flussgeschichte
Wenn dir die Welt wie aus körnigem Sand zusammengesetzt scheint, dann weißt du, dass es nichts Wirkliches gibt und alles möglich ist in der Nacht.
Du schwingst dir den leichten Schal um den Hals, den du aus einem Märchen des Morgenlandes gezogen hast, und ziehst deine Schuhe aus. Leise öffnest du die Tür und gehst hindurch wie ein Geist, die Tür fällt ins Schloss und du hast keinen Schlüssel mit.
Draußen huschst du über die Straße, lässt das letzte Auto hinter dir vorbei fahren und versuchst, nicht in den Schein der Straßenlaternen zu treten, doch sie fangen dich und machen eine grelle Puppe aus dir, das bist nicht du.
In den Häusern brennt Licht über Stille, flackernde Bilder tanzen von den Fernsehern an den Wänden, warum küssen sie sich nicht?
Wie ein scheues Wild suchst du das menschenleere Gebiet wo kein Jäger mehr lauert. Noch unter den Schienen hindurch, es ist so hell, dass dich niemand vergewaltigt, und dann hast du's fast geschafft. An den Bierbänken vorbei, da sitzen sie bei ihren großen Gläsern um zu lärmen, und du fühlst dich allein gegen sie.
Die Luft wird kühler und der Wind füllt deine Lungen frisch auf. Ein Mann steht in den Brombeeren und isst die dunklen, ach, es ist schon an der Zeit, denk ich, und lächle ihm zu.
Neben dir lärmt noch die Autobahn, sie spannt etwas in dir an und deine Gedanken schwimmen noch in Fetzen.
Endlich bist du am Fluss und beschließt diesseits zu bleiben, auch wenn es eine Brücke gibt und ein Feuer auf der anderen Seite brennt, bei dem Funken sprühen und Schatten lachen.
Du schaust zum Fluss und hinter dir, der Fernsehturm mit seinem rosa Licht, die Bankentürme in ihren Abendlichtern sind weg und da ist nur noch das Wasser, Schilf und Bäume, deren Blätter im Wind rieseln wie kleine Steinchen.
Die Nacht ist warm und kühl, auf dem sandigen Weg hörst du deine Schritte und am Himmel wetterleuchtet es hin und wieder, Blitze malen Sekundenbilder, die niemand deuten muss.
Du läufst in der Stille und dein Kopf wird weit, die Gedanken fließen und am Wegesrand die grünleuchtenden Punkte sind Glückskäfer. Grillen begleiten dich zu beiden Seiten, schwellen an und ab, der Grundton der Nacht.
Der Baum den du suchst, ist weiter als du denkst, doch am Fluss geht nichts verloren. Du gehst den Hang hinab und schaust durch die Zweige auf die andere Seite, ein gelbes Rechteck leuchtet da – Fenster sind still in der Nacht wie geöffnete Augen, die wohlwollend schauen.
Dein Herz klopft ein bisschen, langsam setzt du einen Fuß auf den Stamm und ziehst dich hoch, wenn du fällst, dann fällst du nur ins Wasser, der Fluss ist ein Umschmeichelnder.
Wie eine Wendeltreppe sind die Äste und oben sitzt ein schwarzer Schatten, und du wunderst dich gar nicht, dass oben einer sitzt.
Neben ihn gleitest du so leise, dass er's gar nicht bemerkt. Unten im Fluss laufen Kreise davon, vielleicht ein Frosch oder ein kleiner Drache. Im Schilf raschelt es und dann ist's ruhig.
Als hätte er etwas geraucht liegt noch ein süßlicher Geruch in der Luft, ich sitze und nehme die Nacht mit mehr Sinnen auf als ich habe.
Es ist eine Trauerweide, die sich hängen lässt weil sie zum Fluss will und doch hört sie wenige Millimeter über der Wasseroberfläche auf, ob ihr das genügt?
Der Wind fährt mir mit den Zweigen über die Wange, ich lächle, und drehe meinen Kopf –
Er wendet sich zur gleichen Zeit mir zu, unsere Nasenspitzen berühren sich und da ist's nur noch eine Nase, und als unsere Lippen sich küssen ist mir so wohl, dass ich weine.
Wir schmelzen an unserer Wärme und leuchten in der Nacht wie ein Irrlicht das sich zur Ruhe gesetzt hat auf dem Ast.
„Du bist ich“ flüstre ich und merke den Unterschied nicht mehr. Das viereckige Auge ist schlafen gegangen – es ist still, ich fließe und da ist nichts mehr was hält.
Der Wind fährt in die Bäume und lässt die Blätter rieseln wie grobkörnigen Sand, ich küsse mich.