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Flynn
Schwarze Wasser in den Gewölben, Stege führen darüber hinweg, verbinden die unterirdischen Hallen miteinander. Im Wasser Schrottberge, die einst zu einem Raumschiff gehörten. Die Menschen, angeführt von den Geschwistern Kai und Jessica, haben sich Unterkünfte errichtet, sich eingelebt. Was treiben sie dort, warum gehen sie nicht zurück?
Die Gedanken wuchern, blenden die Realität aus. Ich verpasse vor lauter Tagträumereien fast die Station. Erstmal Zettel raus, aufschreiben.
Sie können nicht zurück, weil der Zugang eingestürzt ist. Aber irgendjemand wird sie vermissen und nach ihnen suchen. Sie haben niemandem gesagt, wo sie hingehen. Sie wollten eine abgelegene, unbekannte Höhle erkunden. Aber das wäre leichtsinnig? Ja, es war Jessicas Aufgabe, jemanden über ihre Expedition zu informieren, doch sie hat es nicht getan. Kai ist sauer auf sie, spricht nicht mit ihr.
Ich drücke den Knopf neben dem Klingelschild. Eine angenehme, männliche Stimme antwortet. Ich muss mich zusammenreißen. Kaum höre ich den Türöffner, drifte ich wieder ab.
Wie kommen die Raumschiffteile in das schwarze Wasser? Es ist abgestürzt. Aber so ordentlich zu Bergen aufgetürmt, die aus dem Wasser ragen? Das muss jemand absichtlich gemacht haben, die gleichen Leute, die die Hallen errichtet haben. Wo sind sie hin? Sind sie noch da? Sind es Monster, die im schwarzen Wasser leben und nach und nach die Expeditionsteilnehmer umbringen? Ich könnte Horror draus machen.
"Hallo", begrüße ich Flynn, der die Wohnungstür öffnet. Der große Mann lässt mich mit einer charmanten Handbewegung eintreten. Ich krame in meinen Gedanken, dem Hirnareal, das sich mit der Realität beschäftigen soll, nach Handlungsanweisungen. Bevor ich es vergesse, ziehe ich eine Schachtel Pralinen in Herzform hervor. "Für dich. Danke für die Einladung." Wie peinlich. Sowas will eine Schriftstellerin sein und bringt nur 08/15-Sätze zustande.
"Danke." Ich schmelze unter seinem Lächeln dahin. Nein, ich werde keine Bestseller-reifen Sätze unter diesem Blick zustande bringen. "Essen dauert noch eine Weile." Er gibt mir einen flüchtigen Kuss, den ich kaum wahrnehme, verschwindet in der Küche und ich höre ihn beschäftigt herumhantieren, während ich ablege.
Er ist beschäftigt. Das ist meine Chance. "Hast du was dagegen, wenn ich solange schreibe?"
"Schreiben?", höre ich seine verwunderte Stimme durch eine Pause zwischen den Küchengeräuschen. Habe ich ihm von meinem Hobby nicht erzählt? Oder war ich zu sehr in Gedanken versunken, dass ich es nur in den endlosen Dialogen mit ihm in meinem Kopf erwähnt habe und nie in der Wirklichkeit?
"Ja, mir schwirrt da so eine Geschichte durch den Kopf. Die muss ich unbedingt aufschreiben."
Ich entdecke das Wohnzimmer und richte mich dort ein. Schreibblock und Stift, die Werkzeuge meines Handwerks, wenn ich analog unterwegs bin. Außerdem hatte ich erwartet, dass ich bei dem Besuch besseres zu tun habe, sonst hätte ich meinen Laptop mitgenommen.
Jessica kam von einem Erkundungstrip zu den Wohnhöhlen in der Wand zurück. Wie kommen die eigentlich dahin, haben die Leute sie dort reingegraben? In den Felsen, die sie nicht wegräumen können, seit sie den Zugang verschüttet haben? Was ist das überhaupt für ein Zufall, dass der einzige Eingang in dem Augenblick einstürzt, als sie sich alle im Inneren aufhalten? Vielleicht ist dort einer umgekommen. Vielleicht ist es eine Falle der Monster, die dort wohnen.
Eine Bewegung im Blickfeld. Ein Geräusch. Ich sehe auf. Flynns Augen durchbohren mich. Hat er mich was gefragt, wartet er auf eine Antwort?
"Wie bitte?", frage ich verwirrt. Ich bin hier, nicht in einer mysteriösen, abgelegenen Höhle in einem Berg. Warum eigentlich ein Berg, warum nicht unter der Erde? Wie komme ich auf 'Berg'?
"Du bist wirklich schwer beschäftigt, nicht wahr?"
Ich lächle entschuldigend. Mein Gehirn analysiert die letzten Sekunden retrospektiv. Was möchtest du trinken. "Limo, bitte." Und drifte sofort wieder ab.
Die Leute standen dort und starrten Jessica an. "Was ist?", fragte sie. Eine Frau trat vor - nicht wieder ein Mann, ich brauche mehr starke Frauen in meinen Geschichten: "Da du Schuld an unserer Situation bist, haben wir beschlossen, dir deine Position abzuerkennen. Ich bin jetzt die Anführerin." Ich werde mir ein andernmal einen Namen, besondere Merkmale und eine Hintergrundgeschichte für sie ausdenken.
Jessica zuckte mit den Schultern. "Okay?" Ich habe ein Bild von Jessica Alba im Kopf aus der Serie Dark Angel, eine toughe Frau in schwarzen Ledersachen.
Kälte explodiert an meiner Schulter. Ich springe auf, halte den Block hoch. Was ist geschehen? Klebrige Nässe, Flynn entschuldigt sich. "Ich bin so ein Tollpatsch."
Ich denke daran, einfach weiter zu schreiben und den Fleck zu ignorieren. Langsam kommt mir in den Sinn, dass dies ein bedeutendes Problem in der Realität ist, um das ich mich kümmern sollte. Die klebrige Limo durchtränkt das Oberteil und sickert durch die Hose. Aber ich habe keine Wechselsachen dabei. Ich kann damit nicht nachher in die Bahn steigen.
"Wenn du möchtest, wasche ich sie schnell. Bis zu deiner Abreise sind sie wieder trocken, versprochen." Er hält mir die offene Hand hin.
Eine bessere Idee habe ich auch nicht. Mit leichtem Unbehagen entledige ich mich meines Oberteils und meiner Hose, die ich ihm reiche und stehe da in Unterwäsche. Flynn pfeift bei dem Anblick. Ich verkrümle mich schüchtern auf die Couch, dränge mich in die Ecke, wo mich das Polster teilweise abschirmt. Bedecke meinen Schoß mit einem kleinen Sofaissen. Dann greife ich zum Block.
Ich brauche eine Einführung in die Situation. Muss es dem Leser glaubhaft machen. Jessica und jemand aus der Truppe kommen am eingestürzten Zugang vorbei. Warum können sie den Zugang nicht freiräumen? Sie haben sich durch eine schmale Spalte etliche Meter durch den Berg gezwängt, nun hat sich ein riesiger Felsen verschoben und blockiert den Gang. Das können sie mit ihren kleinen Werkzeugen nicht beseitigen. Ich stelle mir eine Klettertruppe vor wie in Abgrund des Grauens.
"Warum hast du keinem gesagt, wo wir hingehen?", fragte die andere Person.
"Woher sollte ich wissen, dass sowas passiert?", verteidigte sich Jessica. "Wir wussten nicht, was wir hier finden. Vielleicht hätte uns jemand den Schatz streitig gemacht."
Halb nackt hier zu sitzen lässt mich frösteln. Hat Flynn gelüftet, während ich mit meiner Geschichte beschäftigt war? Ich stehe auf, ein Sofakissen an mich gepresst und will die Heizung aufdrehen, doch sie klemmt.
"Die Heizung ist kaputt", ruft Flynn, der mich durch zwei offene Türen sieht. "Im Schlafzimmer ist eine Decke."
Na gut, dann die Decke aus dem Schlafzimmer holen. Doch Flynns riesiges Bett ist mit einer genauso breiten Decke bestückt, die recht schwer ist. Mir erscheint das als viel unnötigen Aufwand, sie extra ins Wohnzimmer zu schleppen. Ich kann genauso gut hier schreiben.
Hey, das ist witzig, vielleicht verfasse ich mal eine Geschichte darüber. Wie bekommt man eine Frau ins Bett? Man macht das Bett zum einzig gemütlichen Ort in einer kalten Wohnung.
Ich schlüpfe zwischen die Federn. Der Stoff fühlt sich unglaublich bequem auf meiner Haut an, himmlisch.
Kai sprach nicht mehr mit Jessica und auch sonst tat er wenig, um sich in die Gemeinschaft einzubringen, zumindest hatte das anfangs den Anschein. Oft war er stundenlang unterwegs, um die Hallen zu erkunden. Sie hätte nicht gedacht, dass es viel zu erkunden gäbe, sahen die Hallen doch alle gleich aus, die sie bisher gesehen hatte. Doch als sie ihn aufsuchen wollte, um mit ihm zu reden, um sich zu entschuldigen, fand sie ihn in einem kleinen Raum in einem der Schrottberge wieder.
Auf den Wänden betrachtete er schwarze Symbole. "Komm her", winkte er sie aufgeregt heran, als er sie bemerkte. "Siehst du das?" Er erleuchtete die Wand mit einer Fackel. Sie hatten bald herausgefunden, was das Wasser schwarz färbte: Öl. Sie hatten darüber diskutiert, ob es klug wäre, Feuer zu entzünden, das mit ihnen um Sauerstoff konkurrierte, doch leichte Luftzüge sagten ihnen, dass es nach wie vor einen Luftaustausch mit der Oberfläche gab.
Jessica trat neben ihren Bruder. "Was ist das?", fragte sie, bevor sie sich um einen Sinn bemühte. Sie erkannte menschliche Umrisse in den dicken, schwarzen Strichen, eine männliche und eine weibliche, Adam und Eva. Aber auch etwas anderes: Unförmige Monster aus einem Knäuel von Tentakeln wie Spaghetti. Über der Szenerie: Ein Raumschiff.
"Das ist der Beweis", verkündete er.
"Wir sind nicht alleine im Universum."
"Und niemand wird es je erfahren." Er drehte sich zu ihr, erinnerte sich an ihren Fehlschlag und raufte sich wutentbrannt die Haare. "Das ist deine Schuld!"
Flynn trägt zwei Teller heran und setzt sich ans Bett. Die beiden Pizzen duften knusprig und triefen vor fruchtiger Tomatensoße, die unter dem cremigen Käse hervorquillt.
"Das sieht wunderbar aus. Die hast du selbst gebacken, oder?" Ich werfe den Schreibblock beiseite und nehme hungrig meinen Teller entgegen.
"Das Besteck ist leider schmutzig", enschuldigt Flynn mit einem wölfischen Grinsen. "Wir müssen mit den Fingern essen."
Kein Problem, denke ich im ersten Moment. Doch das Gemisch aus Fett, Käse und Tomaten ist schwer zu bändigen. Ich beuge mich über den Teller, damit es darauf kleckert anstatt auf das Laken und der Saft rinnt mir über die Finger.
Nach der köstlichen Mahlzeit schaue ich mich nach einer Serviette um. Oder ich müsste erst den Teller akrobatisch von mir herunterschleudern, um nicht die Decke einzusauen. Da sitze ich nun mit erhobenen Händen und merke, dass ich gefangen bin.
"Ich mache das." Flynn greift sanft nach meiner Hand. Führt sie zum Mund. Seine Zunge erscheint am äußeren Ansatz meines kleinen Fingers, schlängelt sich darum nach oben, nimmt sämtliche Tomatensoße mit. Wandert auf der anderen Seite herunter, neckt mich zwischen den Fingern.
"Das ist ... kreativ." Die Schriftstellerin in mir verfolgt gespannt die Szene. Mein Geist ist zurück, um sich mit der Realität zu befassen. Die Zunge wandert am Ringfinger hoch. Es kribbelt in meinem Bauch.
"Du hast mir das Getränk absichtlich übergegossen." Nebenan rattert die Waschmaschine. Flynns Blick bannt mich, während er fortfährt, meine Finger wie beiläufig sauber zu lecken. Er bewegt sich langsam, genießt es, achtet genau auf meine Reaktion. Ich bin nicht hier, das ist nicht meine Hand. Alleine von dem Anblick steigt Hitze in mir auf.
"Du hast die Heizung blockiert, damit ich mich in dein Bett lege."
"Ist das so?", fragt er schelmisch. Nimmt meinen Daumen in den Mund, lutscht Tomatensoße runter. Ich reiche ihm die andere Hand, um zu sehen, ob er wirklich tut, was ich denke.
"Dein Besteck ist nicht wirklich schmutzig, oder?"
Er nimmt alle Finger auf einmal in den Mund und saugt genüsslich daran. Ich wünsche, er würde woanders saugen.
"Möchtest du eine Rückenmassage?", frage ich so unschuldig, wie es mir in der Situation möglich ist. "Aber dafür musst du dein Oberteil ausziehen."
Er streift lächelnd das Oberteil ab und kriecht zu mir unter die Decke.