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Fortuna
Die Stimmung war bedrückt. Die meisten Leute um mich herum hatten in den letzten Minuten nur verloren. Ich trat in den Saal und obwohl die Tatsache weiter bestand hatte, dass wir alle unser Geld verlieren würden, freute sich doch ein jeder mich in diesem Wettbüro wieder zu sehen. Die Gemeinschaft innerhalb dieser bestehenden Gruppe blieb von den offenen Rechnungen unbeeindruckt, wobei das auch das hervorstechende Element dieser Vereinigung war.
Die Möglichkeit aus seinen Missverhältnissen und Verpflichtungen heraus zu kommen, dabei aber die wirkliche Gewinnchance verachtend, kamen all die verzweifelten Seelen ständig in das Etablissement zurück, in der Hoffnung ihr bereits Tage zuvor verspieltes Geld, wieder zu gewinnen; davon profitierte jedoch nur einer, der Buchmacher.
Auch wenn er gelegentlich nicht zu missachtende Ausgaben hatte, so blieb ihm doch durch die stetige Wiederkehr der Abhängigen somit die entscheidende Tatsache, sie alle kehren zurück und haben neue Ideen, die bei weitem nicht den Gewinn deckten, was klar machen soll, dass in der Regel jeder Zocker mehr einzahlt als das er verdient; wobei der Buchmacher nur von den Einnahmen der Leute lebt, die treudoof der möglichen Chance hinterhechten aus ihren Verhältnissen heraus zu treten, und dabei ihr Glück suchen, ohne wirklich zu wissen, dass die Ausgaben auch hier deutlich höher waren als die Einnahmen.
All diese Leute hatten ein schwieriges Leben und waren natürlich durch ihre Spielsucht ein leichtes Opfer für diese Art der Hinrichtung und obwohl für jeden die eventuelle Chance bestand aus der sinnlosen Befangenheit ihres Lebens heraus zu treten, überlebte nur der Inhaber des Wettbüros. Vielleicht konnte der ein oder andere mit Plus nach hause gehen, aber die Masse der Spieler verlor ihr Geld.
Ich setzte mich gleich an den ersten Tisch, denn hier waren mir die Teilnehmer bekannt und ohne das ich eine Wette tätigte wurde ich auch sofort gefragt, ob ich denn heute genug Geld dabei hätte, zumindest genug Geld um meine Schulden zu begleichen. Ich war jedoch zu dieser Zeit arbeitslos und die Arbeitslosenquote stieg in dieser Zeit enorm an, was mit den wirtschaftlichen und auch mit den globalen Verhältnissen zu tun hatte; in denen wir alle steckten, unter denen wir auch alle litten, vor allem die in wechselnden Berufen tätig waren, denn während der Währungsreform und dem Zusammenschluss Europas, wurde verpasst die nötigen Arbeitsplätze zu schaffen, stattdessen legte man politisch besonderen Wert auf den neuen stabilen Euro, wobei in dem Maastrichter Abkommen, die Neu- bzw. Bruttoverschuldung einen starken Stellenwert der Mitgliedstaaten einnahm und Deutschland gezwungen war die Staatsausgaben auf ein Minimum zu reduzieren. Folglich war ein Anstieg der tatsächlichen Arbeitslosenzahlen auch mit konjunkturell bedingten Wirtschaftswachstum nicht vermeidlich.
Den daraus resultierenden Druck verspürte man in der Bevölkerung deutlich. Viele waren darauf aus den finanziellen Ruin durch geschickte Spekulationen an der Börse abzuwenden, was natürlich nur die Vermögenden betraf, aber selbst diejenigen die in der Hoffnung des wirtschaftlichen Imperium Europas investierten, wurden in Folge des Angriffs auf die USA und ihren gleichbedeutenden Kursabfall an den internationalen Märkten bestraft.
Von alledem waren die Spieler nicht wirklich geschockt, doch zeichnete sich auch an dem Umsatz der Pferderennen und lokalen Spielhallen eine stark sinkende Tendenz ab; immer weniger Menschen beteiligten sich an den Veranstaltungen, bloß eine geringe Anzahl an Zuversichtlichen blieb bestehen.
Die Gesichter der Menschen waren verbraucht und verblasst. Gespräche wurden zwischen den einzelnen Rennen, denn diese Wettannahmestelle nahm praktisch nur Pferdewetten entgegen, eigentlich ausschließlich über die Pferde und deren Fahrer bzw. Reiter geführt. Man saß da trank sein Bier oder manchmal auch Wein und beschränkte sich auf das Ausfüllen von Wettscheinen. Das verlorene Geld gab größtenteils Anlass zum Fluchen und die einzige Erheiterung brachte die ironische, fast schon alles zerfressende Selbstdarstellung des Schicksals.
Es gab auch eine schillernde Figur im Laden, die fortwährend über das eigene, aber auch über andere Leute Leben klagte. Der Zynismus in seiner Stimme und die Art wie er seine Reden gestaltete, machte allein die Stunden amüsant. Dabei schonte er niemals auch nur irgend eine Person, sondern war zu jedem und vor allem zu sich selbst lautstark hart im Gericht. Dieses Schauspiel war zu allen Zeiten ein willkommenes Geschenk, denn die eigene Belastung und der Frust spiegelte sich in uns allen wieder, er nur machte das Ganze sichtbar, ohne nur ein Detail zu vergessen.
Man traf hier Menschen mit verschiedener Herkunft, Asiaten und Afrikaner, Türken und Araber, Polen und Deutsche, Tschechen und Russen, wenn man ein Querschnitt der Berliner Bevölkerung erstellen wollte, so konnte man das am besten im Wettbüro machen. Ähnlich verhielt sich das Ganze auch mit den Berufen der Leute. Es gab Ärzte, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Gärtner, Maler, Maurer, Scheckbetrüger, Angestellte beim Staat, im Lebensmittelhandel, Obstverkäufer, Drogendealer, Verkäufer, Versicherungsangestellte, Schwarzarbeiter und Sozialarbeiter, eben Lohnabhängige aus allen Spaten und Berufschichten; und alle hatten dasselbe Ziel, sie alle wollten aus ihrer Misere entfliehen, ein bisschen Geld nebenher verdienen, in der Hoffnung dem Alltag zu entrinnen, damit ihr Zustand vielleicht die entscheidende Wendung nimmt und das Leben erträglicher wird.
Ich setzte mich an den Tisch und begann die Rennzeitung zu studieren. In meiner Tasche hatte ich gerade mal einen Fünfer, was exakt für zwei kleine Wetten reichte. Um mich herum schien die Stimmung auf den Nullpunkt gesunken. Die Gespräche über die gute alte Zeit und ihrer Vorteile vor allem hinsichtlich der Kaufkraft des Geldes wütete schon bedächtige Minuten. Ich öffnete mein mitgebrachtes Bier nahm einen kräftigen Schluck und lehnte mich in meinem Stuhl zurück.
Das erste Rennen was mir in Auge stach, war ein Rennen, wo die Amateure im Sulky saßen. Ich hatte seit geraumer Zeit kein Glück mehr mit den Einlaufwetten und hatte daher mein System auf Sieg und Platzwetten umgestellt. Das Pferd „Mystere Hanover“ hatte ein halbes Jahr Pause hinter sich und war durch ein Probelauf empfohlen. Solche Probeläufe sind reine Routinesache und deshalb nicht wirklich aussagekräftig. Aber mir waren die starken Vorstellungen des letzten Jahres noch in Erinnerung gewesen, wo der Hengst 5 von 10 Rennen zu seinen Gunsten entschieden hatte. Er eröffnete am Toto mit 12/1 und pendelte sich kurz vor Beginn des Rennens auf 11/1 ein. Ich überlegte kurz, sah mir mein Barvermögen nochmals an und ließ das Rennen ohne mein zutun abgehen.
„Mystere Hanover“ ging sofort in die Spitzenposition und konnte das Rennen anschließend bei ruhigem Tempo in Führung bestimmen. Eingangs des letzten Bogens kam der Favorit dann aus vorletzter Position immer besser ins Laufen und legte sich neben den führenden Hengst. „Mystere Hanover“ konnte sich trotz langer Pause gegen den Angriffen des Favorits erwehren, löste sich auf den letzten Metern dann um zwei Längen und gewann sehr souverän. Ich schaute zum Toto hoch und erkannte 12/1 für den Gewinner und ärgerte mich ziemlich über meine verpasste Chance.
Direkt im Anschluss wurde eine sehr offene Partie ausgetragen, wobei es keinen eindeutigen Favoriten gab. Nachdem ich dachte, ich hätte eine durchaus ansprechende Form im Erkennen der Sieger, setzte ich mein Geld auf ein Pferd, das vermeidlich eine entscheidende Rolle spielen würde. Doch weit gefehlt. Es war natürlich gleich das erste Pferd, das wegen unsauberer Gangart disqualifiziert wurde.
Tja, da saß ich nun und war frustriert. Das einzige was noch schmeckte, war das Bier, das sehr schnell auszugehen drohte. Meine Wettkameraden hatten jedoch mehr Glück als ich, daher versuchte ich vorhandene Schulden nochmals aufzustocken, was auch glücklicherweise funktionierte. Immer wenn jemand dieser Kameraden eine gewinnbringende Wette durchbrachte, standen auch schon die Leute bei ihm, in der Absicht etwas Geld zu schnorren, was bei den meisten auch nicht abgewiesen wurde. Wenn aber alles bemühen vergebens war, so gab es sich doch häufig, dass eine neue Runde geordert wurde und sich jemand auf den Weg zur Tankstelle machte und neues Bier heran karrte. Durch diese Tatsache konnte man eigentlich nicht recht vorankommen und sich genug Geld beiseite schaffen, ohne dass nicht einer der Jungs das mitbekam. So verteilte sich das Geld ständig, und manche hatten schon eine wirkliche hohe Summe an Schulden zusammen, die sich auf mehrere Leute verteilte, was Grund zum häufigen wegbleiben verursachte.
Meine Außenstände wuchsen in dieser Zeit unermesslich an, dennoch war man hier stets mit neuen Mute dabei. Vielleicht konnte ich dieses Pfund endlich profitabel investieren. Und bevor ich die mir neuerlich gebotenen Möglichkeiten wirklich wahrnehmen konnte, war ich selbst schon unter reichlichen Bittreden auf den Weg zur Tankstelle. Hauptsache es gab frisches Bier, und außerdem erschien mir ein Aufstand als sehr sinnloses Unterfangen, denn ich hatte kurz zuvor ja einen weiteren Kredit bekommen. Der Tankwart kannte uns, speziell mich bereits, gab mir ein zynisches Grinsen mit auf den Weg und wusste genau, wie der weitere Abend wohl sein würde.
Als ich wieder zurück kam, nahm ich zunächst einen kräftigen Schluck aus dem Bier. Die Meute freute sich, und ein jeder bekam ein Bier, war froh, setzte sich, und begann die Wettzeitung in sich auf zu nehmen. Es blieb mir nur noch wenig Zeit um die entsprechende Wette zu tätigen, dennoch sah ich einen Außenseiter, der durch viele Platzierungen glänzte und nun in dieser Klasse erste Chance besaß. Für mich war dieser Wallach mehr als nur die bloßen Quoten, ich sah ihn bereits siegreich auf der Parade, dachte an das Geld und setzte einen Fünfer. Im Zuge des wachsenden Alkoholkonsum wurde das Geld merklich lockerer im Portemonnaie, und während die Pferde dort draußen irgendwo ihre Runden drehten, wurde der Zweckoptimismus und das Vertrauen größer. Meine Auswahl an möglichen Siegern schien dennoch grenzenlos, doch die Realität holte mich ständig am Rennende ein.
Diese leeren Dosen und Flaschen ließen die Papierkörbe überquellen, es schien fast als seinen sie die einzigen Gegenstände, die sich füllten, anstatt die mageren Geldbeutel der Zocker. Auch ich saß mehr oder weniger unbeholfen in diesem Wahnsinn, dass sich Leben schimpfte, war ein Zuschauer in einer verrückt gewordenen Welt, wo nur der reiche und mächtige Mann seine Chance auf ein Stück Paradies wahren konnte, selber war man ein Rädchen in der Maschine, ohne Zukunft, ohne Gewinn und schrecklicher weise auch ohne Hoffnung auf Besserung. Ich erspähte eine angefangene Flasche Wein, trank einen kräftigen Schluck, hob den Kopf, spürte meine Betrunkenheit, kippte den Wein in meinen unendlichen Schlund hinein, und wankte völlig pleite in die dunkle und kalte Nacht hinaus.