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Früchte des Wartens
Früchte des Wartens
Wie viele Äonen sitze ich schon hier, in diesem Produkt aus einer glänzenden, kalten Substanz, deren minderwertiger Produktionsprozess aus ihr klagt wie ein vergessener Hund an eine Straßenlaterne, im Herzen von Berlin?
In runde Formen gepresst und übersäht mit unzähligen Narben, aus Schlachten mit den Hintern ebenso vieler Touristen, ist ihm seine Verzweiflung anzusehen.
Die Sitzfläche bildet ein Stoff der wohl an Holz erinnern soll, aber außer der Farbe gibt es dafür kein Indiz. Mein Gesäß jedenfalls, erträgt seine Berührungen schon lange nicht mehr.
In weiter Ferne befindet sich eine weitaus komfortablerer Bereich als jener in dem ich residiere, doch ich halte durch.
Wir kuscheln uns aneinander, wie zwei Fremde in der Tube von London. Voller Gefühl und Hingabe, immer mit der Erwartung im Hinterkopf, dass der Andere an der nächsten Station endlich aussteigt und man sich neben die hübsche Person, 2 Schritte weiter vorn, drängen kann.
Doch meist ist diese Hoffnung vergebens, denn an der nächsten Haltestelle steigen ein paar Leute aus und bevor man die Gelegenheit bekommt sich zu bewegen, presst ein unsichtbarer mechanischer Arm einen weiteren Schwall von Pendlern in die Eisenraupe und es geht weiter.
Mein Blick bleibt noch eine Weile lasziv an der wunderbaren Sofasitzecke hängen bevor ich durch einen Tritt gegen den Stuhl auf dem sich meine Beine ausruhen, in die Realität zurückbefördert werde.
„Attention“ brummt es mich von oben herab an.
Je peux prendre la chaise ou pas?
Mit Bedauern geben meine Beine das in diesen Stunden so wertvolle Gut „Sitzfläche“ frei.
Wortlos dreht sich die Gestalt um und verschwindet mit dem Stuhl an den nächsten Tisch. Hecktisch und ängstlich, wie so viele Verrückte denen ich in den letzten Tagen begegnete.
Seltsame Erinnerungen an heute morgen werden in mir wach.
Sonne, Strand und ein kleiner Kater vom Vortag waren meine einzigen Begleiter, an diesem klassischen Spätsommermorgen, in Nizza.
Nach einem Croissant und einem völlig überteuerten Kaffee schlenderte ich entlang der Strandpromenade. die „Promenade des anglais“.
Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter und stoppt meinen lauf.
Schön Sie zu sehen. Ich habe sie die ganze Zeit gesucht!
Ach ja?
Ja natürlich, wie geht’s Ihnen denn so?
Bis eben noch gut! Und bei Ihnen?
Ach, so als junger Mensch geht es einem doch immer gut...haha hihi!
Hätten Sie vielleicht Interesse daran zu...wir haben auch...und da können sie..!
Während sie so redete, fragte ich mich, ob ich eine oder nur eine halbe Sekunde gebraucht habe, um zu schnallen, dass sie irgendeine durchgeknallte Sektenoma ist.
Den Spaß, sie mit einer abgefahrenen perversen Meinung zu konfrontieren, wollte ich mir aber doch nicht durch die Lappen gehen lassen.
Nach ein paar Versen aus ihrer Spezialbibel und dem Übergang in Phase 2, in der der Verkäufer meist versucht das Vertrauen des Opfers zu gewinnen, fing ich dann doch an mich ernstlich zu langweilen.
Nachdem ich ihr erklärte, was ich von ihrem Gott und seiner Lehre halte, verlor sie die Beherrschung und belegte mich mit den exotischsten Flüchen.
Sie sagte ich werde zur Hölle fahren und ewig leiden.
Ich dachte mir, dass das auch nicht schlimmer als dieses Gezeter sein könnte und setzte meinen Weg fort.
Daraufhin folgte sie mir noch etwa 5 Minuten, bis sie aufgab und davonradelte. Ihrer großen Mission folgend und immer bereit eine Seele zu retten.
Es ist Sonntag!
In meiner Heimatstadt merkt man wann dieser Tag ist, auch ohne den Rat des Kalenders einzuholen.
Aber hier? Im Norden von Paris, der Stadt der Liebe, welche eher die Liebe für sich selbst zu sein scheint, am Flughafen Charles de Gaule, ist jeder Tag ein Mittwoch oder Montag oder kein Tag.
Um mich herum sind weitere billige Reihen von Alutischen angeordnet,
wie Monde um meinen kleinen Planeten. Und in den weiteren Tiefen des Terminal 3?
Man kann es in seinen häufigsten Aggregatzuständen kaum definieren. Manchmal scheint es eine große Gelatinemasse zu sein, die meistens aus Hawaiihemden, Anzughosen und bauchfreien Tops besteht.
Garniert mit Rollkoffern, die wie die treuesten Lebewesen der Welt an den Fersen ihrer Herrchen kleben und hin und wieder in sie hineinrasen, wenn Monsieur einen Hacken schlägt.
Doch diese nehmen es ihnen nicht übel und nach einer kurzen Rüge geht es weiter.
Weit mehr Stoff für eine gute Anekdote bieten die kurzen, aber intensiven Liebesbeziehungen dieser Geschöpfe. Einer mit dem Namen NUE-CDG, auf seinem grünen Namensschild, fällt eine kleine rosa Edition seiner eigenen Art an.
Er schlingt seine Trageschlaufe um ihren rechten Vorderreifen, stoppt ihre Fahrt und zwingt sie zu Boden. Das ganze erinnert an den unausgereiften Versuch eines Höhlenmenschen, im Schnellverfahren seine Auserwählte zu beglücken.
Soweit ich es erkennen kann, lautet ihr Name CDG-LOP. Eine ziemlich exotische Rasse in diesem Teil des Flughafens.
Sie scheint sich auf das Spiel einzulassen und folgt NUE-CDG ohne Widerrede. Doch nach Sekunden ist das junge Glück auch schon wieder vorbei. Rüde werden die Liebenden auseinander gerissen.
Bei dieser Aktion verliert CDG-LOP eine ihrer Rollen, welche sich ihr Verehrer als Souvenir gesichert hat.
Ohhhh putain, mon valise! Schreit eine Frauenstimme.
Sorry, I’ve no time! Schreit der Besitzer von NUE-CDG und verschwindet in den unendlichen Weiten der Halle.
Den Blick wieder nach oben, oder Links, aber eigentlich überallhin gerichtet, in dem verzweifelten Versuch eine Ordnung in dem Universum der Schilder und Anzeigen zu finden.
Hin und wieder teilt sich die Masse und gibt die Gelegenheit, einzelne Exemplare aus dem inneren beim Kampf um das eigene Überleben zu beobachten. Ich erhasche einen Blick auf David, der sich mit hochrotem Kopf in den Versuch verstrickt hat, Goliats Bauchtasche auf eine Transportvorrichtung zu wuchten.
Daneben, jemand der Krampfhaft und mit beachtlichem Erfolg gegen den Versuch ankämpft, nicht wie ein Tourist auszusehen.
Sein Ziel ist wahrscheinlich die nächste Air India Maschine nach Südostasien um irgendwie seine 3 Wochen Urlaub rumzukriegen. Vielleicht auch eines der anderen unzähligen Vergnügungszentren, die sich in den ärmeren Ländern wie ein zu enger Gürtel an den Küsten entwickeln.
Immer auf der Suche nach neuen Pauschaltouristen, die nach dem schnellen Kick suchen. Sommer, Sonne, und billige Preise sind ihr Motto.
Der moderne westliche Jäger und Sammler.
An seinem Bestimmungsort kennt man Ihn nicht doch man erwartet ihn bereits. Einen von Europas eigenen Terroristen, ohne Bart oder die Schmach von Karikaturen im Bauch.
Nein, eine unserer eigenen Entwicklungen.
Moderner Kolonialismus, mit dem die Menschen gleichzeitig das sauer verdiente Geld ins Ausland tragen und so dem Vater Staat noch mal kräftig in die Magengrube treten. Was er in den Meisten fällen auch verdient hat.
Kein Terrorist im klassischen Sinne, sondern einer dessen Tätigkeit erwünscht ist.
Vielleicht sollte man ihn Tourorist nennen, denn schon die Ähnlichkeit der beiden Wörter lässt mich erschaudern.
Die Gesichter an den Tischen wechseln weiter wie bei diesem Kindergarten- oder Partyspiel...Musik an, loslaufen! Musik aus, hinsetzen! Aber immer schön im Kreis.
Ich komme mir gerade älter vor als das Universum. Einer von diesen ganz alten Hasen, die glauben alles zu kennen. Die sich nicht im Entferntesten den Verlust ihres Herrschaftsgebietes vorstellen können.
Viele halten 10 Minuten durch, manche 15. Dann geht es weiter, nächste Kontrolle, nächste Rollbahn.
Ich dagegen, ach ihr kleinen dieser Welt. Ich sitze hier schon seit 3 Stunden. Weit über dem Durchschnitt, aber doch einer von vielen in denen kurz vor ihrer Abreise doch noch ein kleines Gefühl der Vertrautheit aufkeimt.
Am Ende gibt’s dann doch noch das ganz große Gefühl. 2, dem Slang nach Pariser girls, gestehen sich am Tisch neben mir ihre Liebe für einander.
Bei weitem nicht das Ungewöhnlichste was ich während meines 3-monatigen Aufenthaltes in Frankreich und dem Besuch von Paris, Montpellier, Marseille und Nizza, erlebt habe. Aber plötzlich ist am Tisch neben mir auch eine Lampe an.
Oder eher ein „Jazzabend-in-den-Straßen-von-New-Orleans-Scheinwerfer, im großen Dunkel zwischen 5 € Bier und Gelatine.
Zwei Inseln der Zeit, die das Rauschen der 1000 Stimmen verdrängen und eine Oase der Stille, im Wechsel der Welten, schaffen.
Ich beobachte diese Szene und wundere mich nur warum die Beiden, hier am Flughafen, weit außerhalb von Bewohnbarem Gebiet, ohne Taschen und Koffer ihre wahren Gefühle entdecken.
Aber das spielt in diesem Moment keine Rolle. Auch der Verlust meines Koffers, der noch in Nantes auf mich wartet, zusammen mit dem Großteil meines Geldes und den Geschenken für die Souvenirhungrigen Freunde und Verwandten, ist aus meiner Wahrnehmung zurückgewichen.
Doch ganz langsam erinnere ich mich wieder und meine eigene bedauernswerte Situation wird mir wieder bewusst. Mein letztes Geld habe ich für ein 6 € Sandwich und 2 Bier für je 5,50 € ausgegeben.
Der Alkohol zeigt seine Wirkung. Zum Glück, denn ich habe noch 2 Stunden, bis mein Flug startet, Verspätung nicht mit einberechnet.
Mein Blick schweift nach rechts und ich entdecke im Spiegel eine Gestalt. Schlaff sitzen, 3 Bier auf dem Tisch und einen Schreibblock in der Hand.
Doch ein paar Augenblicke später merke ich, dass es kein Spiegel, sondern ein anderer Tisch ist, an dem auch Jemand sein Dasein fristet.
Wir sehen uns an und entdecken wahrscheinlich im selben Moment eine Karikatur unserer selbst am anderen Tisch.
Sein Name ist Janssen und er kommt aus Norwegen, wie ich später feststelle.
Er ist vor einer halben Stunde angekommen und hat noch 5 weitere vor sich.
Nach einer kürzeren Unterhaltung mache ich mich auf den Weg zum
Check-in.
Mit dem freudigen Wissen, dass meine Tradition weiterlebt, besteige ich den Flieger Richtung Heimat.
Meine Erntesaison ist nun vorbei.