Früher waren die Ratten...
Gerade verlies die Putzfrau das Zimmer. Sie hatte heute übergründlich alles sauber gemacht, war unter den Tisch und unters Bett gekrochen, um den wallenden Staub zu entfernen und hatte sich sogar dazu erbarmt, die Toilette zu säubern. Nun eben hatte sie sich die Schweißperlen von der Stirn gewischt und ihm den Rücken zugedreht. Doch in der Tür drehte sie sich nocheinmal herum, ging auf das verstaubte zweite Bett im Zimmer zu und schüttelte die Tagesdecke kräftig aus. Er hustete, was sie veranlasste, den alten Mann anzusehen.
„Man braucht das Bett. Ab heute sind Sie nicht mehr allein im Zimmer, Hans.“ sagte sie und bevor er noch etwas erwidern konnte, verschwand sie nun endgültig aus dem Raum.
Langsam richtete er sich ein Stück auf und blickte sich um. Seit 10 Jahren bewohnte er dieses Zimmer nun schon allein. An seinen 75. Geburtstag hatten sie ihn hier her gebracht. Er war noch erstaunlich rüstig für sein Alter – aber wo sollte ein alter Mann sonst auch hin?
Er kannste die Putzfrau. Sie war eine Freundin seiner Tochter gewesen war dann für einige Monate mit seinem Sohn zusammen gewesen, hatte ihn wegen eines feinen Mannes, der sich später als gewalttätiger Alkoholiker entpuppte verlassen und war nach der Scheidung zuerst auf der Straße gelandet. Nun putzte sie bereits seit fünf Jahren zweimal in der Woche sein Zimmer.
Er hatte keine wirklich Lust, sich das Zimmer mit einem anderen zu teilen. Zu sehr hatte er sich an das Alleinsein gewöhnt. Nach dem Tod seiner Frau war sein Sohn ins Ausland gegangen und seine Tochter meldete sich seit ihrer Hochzeit kaum noch. Seine Enkelkinder hatte er erst wenige Male gesehen und all das war ihm lieb so. Er war sein Leben lang nie allein gewesen, die letzten 15 Jahre hatten ihm gut getan...
Es vergingen einige Tage, in denen er kaum mit seinem neuen Zimmergenossen sprach. Er beobachtete ihn jedoch stets aus dem Augenwinkel heraus. Ein großgewachsener Mann mit dichten grauen Haaren, stets korrekt gekleidet und ganze 3 Jahre jünger als er. Er sprach nicht viel und verbrachte den Großteil des Tages damit, auf seinem Bett oder einem der Stühle zu sitzen und dicke verstaubte Bücher zu lesen.
Hans hatte sich gerade einen Tee aufgesetzt und an dem kleinen Runden Tisch neben der Tür zum Badezimmer Platz genommen. Da stand der Neue auf, setzte sich dreist zu ihm und bat ebenfalls um eine Tasse Tee. Ein wenig verärgert über diese Dreistigkeit ging Hans zum Schrank, nahm eine zweite Tasse und brachte sie zusammen mit der Teekanne an den Tisch.
Er setzte sich und sie schlürften ohne einen Wortwechsel ihren Tee. Hans genoss die Ruhe, bis der Neue plötzlich wieder begann zu reden: „Sie sind ein sehr ruhiger Mann, ich habe das Gefühl, es passt Ihnen nicht so richtig, dass wir dieses Zimmer von nun an teilen müssen.“
„Ihr Gefühl täuscht Sie nicht, ich war 10 Jahre hier allein und es ist ungewohnt und unangenehm für mich.“ erwiderte Hans.
Der Neue guckte skeptisch, ließ das Gespräch jedoch, ungeachtet der Bemerkung von Hans, weiter gehen: „Mein Name ist übrigens Gerd.“ Sein Blick fiel auf ein Foto auf dem Tisch, wie schon so oft in den letzten Tagen: „Sagen Sie, Hans, der alte Herr auf Ihrem Bild hier... Ich habe immer wieder das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben...“
Ein wenig genervt durch den, der seine schöne Ruhe hier störte, erwiderte Hans: „Das mag sein. Vielleicht haben Sie ihn als Junge in einem Ihrer Schulbücher gesehen. Er ist mein Urgroßvater, wenn Sie sich noch einiges Ur’s dazwischen denken möchten. Er war Forscher, früher... Vor einigen hundert Jahren. So erzählte es mir meine Mutter immer. Sie sagte, er solle niemals in Vergessenheit geraten, obgleich sie selbst nicht einmal mehr wusste, warum.“
Gerd nickte und beließ es dabei. Er hatte bemerkt, wie unfreundlich Hans’ Rede klang. Er wollte sich niemandem aufdrängen. Und so begab er sich zurück zu seinem Bett, wo die Putzfrau ihm die Tageszeitung hingelegt hatte. Doch gerade als er es sich bequem gemacht hatte, fiel sein Blick auf Hans’ Arm und seine Neugierde veranlasste ihn dazu, doch noch etwas zu fragen: „Hans, auch auf die Gefahr hin, dass ich Ihnen fürchterlich auf die Nerven falle – Was um Himmels Willen haben Sie da am Arm?“
„Das ist gar nichts weiter. Nur eine... nennen wir es Erinnerung, an meine Zeit im Labor.“
„Oh, ich habe auch in einem Labor gearbeitet, in welchem...“ Bevor Gerd aussprechen konnte, wurde die Tür geöffnet und eine der Pflegerinnen betrat den Raum: „So, die Herren, es ist Zeit für die Tabletten.“
Gerd schielte zu Hans hinüber. Er bekam andere Medikamente, also hatte er wohl auch in einem anderen Labor oder zumindest Forschungsabschnitt gearbeitet. ‚Warum sie uns nicht einfach eingehen lassen... Wozu brauchen sie uns denn noch...’ dachte Gerd und schluckte seine Tabletten. Eine war gegen den Krebs, eine andere gegen die lästigen Hautausschläge. Wogegen die dritte war, wusste er nicht und wollte er auch gar nicht wirklich wissen.
Die Pflegerin holte einen Block mit Protokollpapieren: „Geht es Ihnen beiden gut, heute? Gibt es irgendwelche Probleme? Sind Mutationen aufgetreten?“
Hans deutete auf seinen Arm: „Mein Ohr schmerzt heute wieder.“
Sie schrieb auf und nickte: „Ich werde es den Ärzten melden, spätestens morgen früh kommt jemand und sieht es sich an. Möchten sie ein Schmerzmittel bis dahin?“
„Nein, nein. Es ist noch erträglich.“ Hans hatte einfach nur Angst, dass es sich wieder entzünden könnte.
Die Pflegerin nickte noch einmal, kratzte sich hinter dem Ohr und schrieb weiter. Ihr langer Schwanz schleifte auf dem Boden hin und her. Sie piepste einmal kurz und verließ anschließend das Zimmer wieder.
Gerd griff erneut zu seiner Zeitung, schlug die erste Seite auf und las sehr erstaunt eine Weile, bis er wieder zu Hans hinüber blickte: „Hans?“
„Was denn nun schonwieder?“ gab Hans angenervt zurück.
„Was ist das da für eine Kiste unter Ihrem Bett? Entschuldigen Sie bitte meine Neugierde, aber sie sieht so verriegelt aus.“
„Sie ist von eben diesem Urgroßvater auf dem Foto hier.“
„Haben Sie sie schon einmal geöffnet? Hier in der Zeitung steht ein Bericht über Ihren Urgroßvater.“
„Was?“ Hans nahm Gerd die Zeitung aus der Hand und las. Ein wirrer Professor glaubte entdeckt zu haben, dass die Ratten früher kleine possierliche Nager gewesen seien und dass der Mensch sie in Laboren zu Forschungszwecken gehalten haben soll. Hans’ Urgroßvater solle derjenige gewesen sein, der ein Gift aus der Luft über die Erde gestreut habe. Die Ratten seien mutiert und die Erinnerungen der Menschen an ihre Herrschaft über den Planeten sei gelöscht wurden... „Was für ein Irrer schreibt solche Berichte und zieht damit noch den Ruf meines Urgroßvaters in den Dreck?“ schimpfte Hans laut vor sich hin.
„Haben Sie die Kiste schon einmal geöffnet, Hans?“ wiederholte Gerd und bekam Kopfschütteln als Antwort.
Gleich darauf holte Hans die Kiste unter seinem Bett hervor, suchte in seinem Nachtschränkchen nach dem Schlüssel für das alte Schloss und öffnete es anschließend. Neugierig stand Gerd hinter ihm und blickte, ihm über die Schulter, in die Kiste hinein. Ein Foto lag ganz oben. Es zeigte Hans’ Urgroßvater mit einem kleinen Nager auf dem Arm.
„Der ‚Irre’, wie Sie ihn nannten, hat ein Buch veröffentlich,“ sagte Gerd. „Es heisst ‚Früher waren die Ratten...’“