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Frühjahrsangst
„Sommerlicher Frühlingsdunstkreis heute morgen um 10 Uhr gesichtet. Alle Betroffenen bitte umgehend im Auffanglager registrieren. Es ist noch nicht zu spät. Die Keller sind noch nicht bis zum letzten Platz belegt. Sonderangebote erwarten Sie. Gebt der Sonne keine Chance!“
Sie lief an dem Gewühl Mensch vorbei, hörte die Stimme aus den Lautsprechern auf die Straße platschen und sah gen Himmel. Jetzt schon, dachte sie. Es ist doch erst Januar. Jedes Jahr wird dieser Zirkus vorverlegt, kaum spürbar, immer um ein zwei Tage. Irgendwann sind die Keller nur noch besetzt. Stammkunden gibt es schon in Unmengen.
Wieder Pritsche 6, bitte.
Kein Problem Frau Meier, angenehmen Aufenthalt, wünsche ich.
Das war ihr Text, wenn die Saison angefangen hatte.
Sie bog um die Ecke. Ein Flugblatt klatschte an ihre Beine. Sie blieb stehen und hob es auf. Las kurz und überließ es wieder dem kalten Wind.
Sie verdiente nicht viel. Aber für einen Mantel, der warm hielt, reichte es allemal. Sie mochte den Winter trotzdem nicht und unter ihr, an ihrem Arbeitsplatz, war es ständig kalt und feucht. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Diese Hysterie, die mit dem Frühjahr verbunden war. Natürlich hatte Wärme auch ihre Nachteile. Sonne war in hohen Dosen sicherlich auch nicht allzu großartig für die Haut und die Gesundheit, sagte man ihr nach, doch deswegen in Kellern verschwinden, wie die Milch in Tetrapacks verschwunden war? Naja, sie wusste nicht, ob sie diese Erklärung befriedigte.
Nach ein paar weiteren Metern war sie am Eingang des Kellers angekommen. Die Schlange war lang, aber nicht unüberwindbar.
Einen Moment, bitte. Nicht drängeln, wir haben noch Plätze für sie alle. Keine Panik. Du bist zu spät, Kleines. Husch, Husch.
An dem Klumpen Mensch vorbei, hinein in den grauen Alltag des Jobs. Es gab nicht mehr viel Auswahl auf dem Arbeitsmarkt, also wozu beschweren. Hinein in die Uniform und an den Eingang stellen. Knips, da war das Lächeln.
Willkommen im Underworld Palace, was kann ich für sie tun? Einzelpritsche? Welches Stockwerk? Schauen wir mal. Ah ja, Flur 10 wäre noch möglich. Ja natürlich, besonders kühl und schattig. Hier Ihre Handtücher, wenn es Ihnen an etwas fehlt, klingeln. Und denken sie dran: Geben Sie der Sonne keine Chance!
In der Mittagspause nach unzähligen neuen Gästen verschwand sie nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei rauchte sie gar nicht. Aber falls sie jemand fragen sollte, was sie denn an der frischen Luft so dringend wollte, war das die Standardantwort. So hatte sie es auf der Berufsschule gelernt und es stand in der Einweisung vom Chef höchstpersönlich diktiert und abgesegnet.
Es war immer noch kalt, der Wind war noch stärker geworden und sie fror kurz. Bis sie die Augen schloss. Scheiß Job. Wirklich beschissen, schlecht bezahlt und sie hatte zweimal monatlich entweder eine Unterkühlung oder eine Blasenentzündung oder beides. Ihr Atem war zu sehen. Sie freute sich so sehr auf das Frühjahr. Gott, wie sie sich darauf freute von der Sonne ausgetrocknet zu werden und das ohne einem Klumpen Mensch zu begegnen.
Herrlich.