Frühling im Café
Die schönste Zeit des Jahres ist wieder da. Von einem Tag auf den anderen wird die Welt bunter. Blumen beginnen zu blühen und die Kleider der Damen werden farbenfroher. Die warmen Nachmittagsstunden bieten sich an, einen Capuccino in einem der einladenden Gastgärten zu genießen, und zu spüren wie die ersten Sonnenstrahlen Haut und Seele erwärmen. Dabei ist es spannend, die Leute zu beobachten und sich zum einen oder anderen eine Geschichte auszumalen.
So wie dieser Hektiker, der sich während eines augenscheinlich wichtigen Telefonats die Lippen am frischen Espresso verbrennt. Ich glaube er würde ohne den Kalender seines Taschencomputers gar nicht bemerken, dass der Frühling bereits begonnen hat. Genau so grau wie sein Anzug dürfte auch sein Alltag sein.
Bunt, vielleicht zu bunt, präsentiert sich dagegen die rothaarige Frau, die zu Ihrem Prosecco ein Lachsbrötchen verspeist. Sie freut sich sichtlich auf die sommerlichen Monate, um ihre breite Sonnenbrillenkollektion und ihre gebräunten Beine zu präsentieren. Ob sie ihren Pudel in einen Pullover gesteckt hat, weil sie befürchtet ihm könnte bei den herrschenden 20 Grad zu kalt werden, oder will sie einfach nur, dass der Hund optisch zum kopierten Louis-Vitton-Täschchen, das sie fest in ihrer rechten Hand hält, passt? Unsicher tupft sie mit der kleinen weißen Papierserviette ihren Mund ab um gleich darauf ihre Lippen wieder rot anzumalen. Kein kussechter Lippenstift, wie der farbige Rand an ihrem Proseccoglas beweist. Bestimmt ist sie frischgebackener Single. Da sie bereits auf die vierzig zugeht, ist sie jetzt auf der Suche nach einem erfolgreichen Mann, der genug Geld am Konto und gewisses Ansehen in der Gesellschaft hat. Ihre biologische Uhr tickt, und mit ihrem Gehalt als Sekretärin will sie nicht länger auskommen müssen.
Der Mann im grauen Anzug hat sich inzwischen ein Glas Wein bestellt. Das gekühlte Glas lindert bestimmt die Schmerzen von seiner kleinen Espresso-Verbrennung. Nach dem zweiten großen Schluck macht sich sichtlich Entspannung in seinem Gesicht breit. Womöglich kann er heute zum ersten Mal loslassen, und der Stress vom Meeting am Vormittag fällt langsam von ihm ab. Vielleicht ist er aber auch gar kein Geschäftsmann, möglicherweise ist das der einzige teure Anzug den er besitzt, und für das Notebook bezahlt er monatlich seine Raten an das Versandhaus. Manche Männer meinen ja, sie würden durch Äußerlichkeiten bei den Damen punkten. Selbst ich bin schon mal auf einen falschen Reichen reingefallen – ich erkenne solche Typen an der Nasenspitze.
Ich glaube sogar, dass die Sekretärin im bunten Kleid bereits ein Auge auf ihn geworfen hat. Bin mal gespannt, ob sich da noch was tut.
Der Mann mit dem Zeichenblock, der im hintersten Eck Platz genommen hat, sieht schon die ganze Zeit zu mir herüber. Er will offensichtlich den Alltag im Caféhaus malerisch festhalten. Warum hat er gerade mich dafür ausgesucht? Vielleicht fällt das Licht auf mich besonders gut. Ich werde später zu ihm rüber gehen, und ihn fragen, ob ich das Bild sehen kann, falls es was geworden ist. Wer weiß, womöglich finde ich mich irgendwann in einer großen Galerie wieder. Irgendwie sieht er aus wie ein bedeutender Künstler, der etwas ungepflegte Bart, und die zu langen Haare. Auf Äußerlichkeiten legt er sichtlich keinen Wert, er lebt eindeutig für seine Kunst.
Aha, die goldene Uhr am Handgelenk des vermeintlichen Business-Mannes hat bereits Wirkung auf die Frau im bunten Kleid gezeigt. Sie hat sich jetzt auch für ein Glas Weißwein entschieden, damit will sie ihm ihr Interesse zeigen. Das beruht aber nicht auf Gegenseitigkeit. Der feine Herr nimmt gar keine Notiz von ihr. Bestimmt hasst er Hunde. Vielleicht hat er sogar eine Allergie.
Bei all meinen Beobachtungen habe ich total auf meinen Capuccino vergessen. Jetzt ist er kalt. Ich bestelle mir einen neuen, schließlich muss das Kunstwerk, das gerade von mir entsteht noch vollendet werden. Ich fühle mich ein Bisschen wie eine Muse.
Der Kellner serviert mir den Capuccino. Er bittet mich gleich zu bezahlen, da seine Schicht nun endet. Jetzt arbeitet seine Kollegin weiter. Sie scheint etwas genervt zu sein, die Arbeit hier macht ihr keinen Spaß, das merken auch die Gäste. Die Stimmung verändert sich plötzlich. Die Leute mochten die zuvorkommende und lustige, aber diskrete Art des Kellners. Sein italienischer Akzent macht ihn sehr sympathisch und verleiht der Umgebung den zusätzlichen Hauch von Sommerstimmung.
Die Frau mit dem gefälschten Louis-Vitton-Täschchen trinkt den letzten Schluck Wein aus und packt ihr weißes Handy mit den funkelnden Steinchen ein. Anscheinend will sie nicht länger vom Herrn mit der goldenen Uhr ignoriert werden. Sie steht auf, nimmt ihren Hund auf den Arm und geht zur Tür, die den Gastraum mit dem Gastgarten verbindet. Der italienische Kellner wartet auf sie, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und die beiden verlassen das Lokal. „Ciao, bis morgen“ verabschiedet sich der Kellner von seiner Kollegin.
Ok, auch ich als absolute Menschenkennerin kann mich mal irren. Dann sind die zwei eben ein Paar, der Kellner hat sich ja sehr diskret ihr gegenüber verhalten. Wahrscheinlich ist es von der Firmenleitung nicht gewünscht, dass Privatgespräche während der Arbeit geführt werden.
Es wird langsam kühl. Anscheinend ist der Künstler fertig mit meinem Portrait, er beobachtet schon die nächsten Leute. Ich werde austrinken und zu ihm rübergehen. Ist ja nichts dabei, wenn ich mir das Bild ansehe, schließlich bin ich Modell gesessen.
Als ich auf ihn zugehe, ist wieder vertieft in seine Zeichnerei, in kurzen Abständen hebt er den Kopf und senkt seinen Blick sofort wieder auf das Papier, das nächste Bild ist an der Reihe. „Guten Tag. Ich wollte fragen, ob ich mir das Bild ansehen darf“ sage ich freundlich zu ihm. „Wie bitte“, fragt er mich und sieht mich leicht erschrocken an. „Sie haben mich ja die ganze Zeit gezeichnet, jetzt wollte ich mir das Kunstwerk ansehen.“ Er schüttelt den Kopf und hält mir den Block unter die Nase. Eine Tabelle und Unmengen von Zahlen kann ich erkennen. In der Kopfzeile lese ich „Marktforschungsinstitut – Statistische Werte“. Ich spüre wie ich rot werde, wortlos drehe ich mich auf meinem Absatz um und gehe in das Café, um schnellstmöglich zum Ausgang zu gelangen. Wie peinlich war das denn, der von mir zum Künstler ernannte Mann arbeitet für ein Marketinginstitut und notiert irgendwelche Beobachtungen. Heute ist nicht mein Tag. Schnell gehe ich durch das Café und raus auf die Straße. Ich nehme mir vor, künftig meine zusammengereimten Geschichten für mich zu behalten, und mich im Stillen daran zu erfreuen. Als ich um die Ecke biege, sehe ich den Mann in dem grauen Anzug mit der goldenen Uhr. Er begrüßt gerade Frau und Kind und steigt in seinen Rolls-Royce.