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Frühlingsgefühle
Die Sonne strahlte, die wenigen Wolken, die am Himmel zu sehen waren, schienen ihr freiwillig aus dem Weg zu gehen, und die Vögel zwitscherten. Es war ein wunderbarer Sonntagnachmittag im Frühling. Er spazierte durch die Straßen, schlug den Kragen hoch und vergrub seine Hände anschließend wieder in den Jackentaschen. Ihn fröstelte. Bei 15 Grad Celsius. Die meisten Tage waren ihm ein Grauen, sonntags war es oft am schlimmsten, und dies war ein außerordentlich schlimmer Sonntag. Es hatte ihn voll erwischt.
„Gott, ist das alles zum Kotzen“, murmelte er vor sich hin. Diesmal hatte es ihn ganz besonders übel erwischt.
Es konnte doch nur eine miese Laune des Schicksals, ein jämmerlicher Irrtum gewesen sein, dass er je diese Welt betreten musste. Als Mensch. Als ein Exemplar der widerlichsten Gattung, die jemals in diesem Dreckloch namens Erde existiert hatte und jemals existieren würde. Nein, kein Dreckloch – „Eine Kloschüssel ist das alles hier“, sagte er hörbar laut zu sich selbst. Eine verdammte Kloschüssel, in die jeder hineingeschissen wird. Jeder. Einige wenige konnten halt schwimmen, die meisten soffen ab und rauschten den Abfluss runter. Und dann gab es noch diejenigen, die sich halbwegs über Wasser hielten, weil sie immer wieder welche fanden, die sie untertauchen, die sie als Rettungsboje benutzen konnten. Und von denen gab es auch mehr als genug. Menschen. Ein einziger schlechter Witz. Die Krone der Schöpfung? Er musste sich zusammenreißen, nicht laut aufzulachen. Oh, mein Gott. Die Krone der Schöpfung. Ein Evolutionsfehler nimmt für sich in Anspruch, die Krone der Schöpfung zu sein. Es war eigentlich zu komisch. Menschen waren Müll. Schlicht und ergreifend. Müll, Dreck, Abfall. An diesem Sonntagnachmittag im Frühling erschien ihm dies klarer noch als je zuvor.
Was Menschen einander antaten, war schon schrecklich genug. Aber noch schrecklicher war diese ständige, allgegenwärtige Ignoranz. Dieser grenzenlose Egoismus. Es kratzte doch keinen, was anderen zustieß. Jeder kümmerte sich nur um sich selbst und einen Scheißdreck um irgendwen sonst. Und versuchte man, daran etwas zu ändern, wurde man nur ausgelacht. Wenn man Glück hatte. Wenn nicht, wurde man erst ausgenutzt und dann ausgelacht. Was für ein mieses Spiel. Ja, sicher, er konnte sich eigentlich nicht wirklich beklagen: Er war halbwegs gesund, hatte ein Dach über dem Kopf, meist einen vollen Kühlschrank, regelmäßigen Stuhlgang, eine relativ erträgliche Arbeit und ab und an sogar eine Frau. Aber das machte es auch nicht besser – im Gegenteil, zu wissen, es eben nicht zu ignorieren, mit solch einer bescheidenen Existenz noch vergleichsweise gut bedient zu sein, ließ ihm alles nur noch hoffnungsloser erscheinen.
Er schlug seinen Kragen erneut hoch. Ihn fröstelte nicht mehr – ihn fror. „Ich könnte hier, genau hier, sterbend umfallen, und keinen würde es interessieren“, schoss es ihm durch den Kopf, „keinen!“. Vielleicht würde jemand seine Kamera holen und das Ganze in Bildern festhalten, in der Hoffnung auf ein paar Scheine von dieser Zeitung mit den großen Buchstaben oder so, ja, aber sich um ihn kümmern, ihm helfen? Oh nein. Die doch nicht. Nie ...
Rasierklingen? Nein – irgendwie schauderte ihm schon bei der Vorstellung, kalten Stahl auf respektive in der Haut zu spüren. Eine Knarre? Die musste man erst mal organisieren. Na gut, das war vielleicht gar nicht mal so ein großes Problem - aber er hatte vor einiger Zeit eine Reportage gesehen über einen Typen, der es mit einer Pistole durchziehen wollte, es sich aber im letzten Moment anders überlegt hatte und deshalb kurz vor dem Abdrücken mit dem Lauf abgerutscht war. So hatte der Kerl sich nicht das Hirn, sondern den Unterkiefer weggeschossen. Er hatte es überlebt und machte trotzdem einen nicht gerade glücklichen Eindruck. Schlimm. Vor allem das Aussehen von dem Mann. Wenn es bei ihm nun genauso ablaufen würde? Er sah jetzt schon nicht überragend aus ... Sich totsaufen? Das hatte er schon ein paar Mal zu versuchen versucht und es hatte nicht geklappt, es würde in Zukunft wohl auch nicht hinhauen. Darauf hoffen, dass irgendwann ein gnädiger Mühlstein vom Himmel fallen möge? Schwachsinn! Da konnte er ja gleich darauf warten, dass diese große blaue Kloschüssel endlich von der Sonne verschluckt werden würde. Und dann blieb außerdem immer noch die Frage nach dem Danach im Raum. Wer konnte ihm denn garantieren, dass es auf der anderen Seite nicht noch fürchterlicher zugeht? Es war einfach alles ...
Da schreckte er hoch. Was war das? Geräusche hatten plötzlich die Stille seines inneren Monologes zerrissen. Er blickte unwillkürlich in die Richtung, aus der die akustischen Störsignale gekommen waren, und sah ein offenes Fenster im ersten Stock einer Mietskaserne, wie sie selbst in diesem Kaff vielfach die Umgebung verschandelten.
„Du mieser kleiner Bastard! Du...“
„Nein! Nein! Hör auf!“
Er brauchte eine kurze Zeit, dann hatte er begriffen: Da ging ein großer Krawall ab.
„Du pass auf! Dir werd` ich...“
„Bitte, Papi! AUA!!!“
Da verdrosch ein Mann ein Kind! Er blickte sich um – niemand zu sehen. Niemand! Keine Menschenseele weit und breit. Er zögerte erneut kurz, dann rannte er zum Hauseingang. Tatsächlich, er war offen. Er stürmte rein und hetzte die Treppe zum ersten Stock hinauf. Dort hielt er kurz inne: Wohnungstür neben Wohnungstür. Der Krach war hier noch unmöglicher zu überhören als unten auf der Straße. Verdammt, warum rührte sich denn da kein Aas? Nicht einer, der die Tür auch nur einen Spalt geöffnet hatte. Die mussten das doch alle mitkriegen!
„Bleib hier, du verdammter...“
„Nein, bitte! Hör auf! BITTE!“
Er trabte den Flur entlang, bis er die Tür geortet hatte, hinter der das Spektakel unzweifelhaft stattfand. Er holte kurz Luft, dann trat er mit Anlauf dagegen. Das Schloss splitterte, laut krachend knallte sie auf. Danach ging alles blitzschnell: Er ließ einen kurzen Flur hinter sich, dann befand er sich in einem Wohnzimmer. Da waren ein fetter Kerl und ein Junge. Der Junge schien Blut im Gesicht zu haben. Der Kerl und der Junge schauten beide recht verdutzt, registrierte er gerade noch, bevor er auf den Dicken losging. Er lief auf ihn zu, drosch ihm seine rechte Faust ins Gesicht, und der Schmerbauch torkelte nach hinten. Unmittelbar darauf sprang er den Dickwanst an, packte ihn am Kragen, verpasste ihm einen Kopfstoß gegen den Kiefer und rammte ihm schließlich sein rechtes Knie in die Genitalien. Der Dicke gab ein grunzendes Geräusch von sich und knickte ein. Dann wurde er mit Händen und Füßen behandelt, bis er am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Er war einfach zu kalt erwischt worden, um reelle Gegenwehr leisten zu können ...
Er ließ von dem fetten Schwein ab und drehte sich um. Sah in ein paar junge Augen, die Erstaunen und Angst widerspiegelten. Vor allem Angst. Der Kleine war vielleicht elf, zwölf Jahre alt, hatte zerzauste Haare. Und tatsächlich, da war Blut in seinem Gesicht. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, und über dem rechten Auge hatte er eine ziemlich große, sehr hässliche Schramme. Diese Angst. Der Junge zitterte. Versuchte offensichtlich, etwas zu sagen, schaffte es aber einfach nicht. Diese unfassliche, stumme Angst ...
Er drehte seinen Kopf über die linke Schulter nach hinten, sah, wie der Dicke sich immer noch völlig regungslos auf dem Boden breitmachte. Er hatte ihm verdammt gut eingeschenkt. „Du Scheißkerl,“ keuchte er, von seinem Einsatz noch ziemlich außer Atem, „macht dir das Spaß, ja? Wehrlose Kinder zu schlagen?“ Er schaute wieder nach vorne, sah wieder das Gesicht des Jungen, merkte, dass der Kleine immer noch nicht fähig war zu reden. Irgendetwas zu äußern.
Er blickte erneut in die Augen des Kleinen. Etwas länger, etwas intensiver diesmal. Zu lange, zu intensiv. Denn plötzlich fiel es ihm auf: dass diese Augen noch etwas widerspiegelten. Etwas, das er nicht sehen wollte. Das er überwunden, tot und begraben geglaubt hatte. Doch jetzt kam alles zurück, brutal, gnadenlos, innerhalb von Sekunden. Zu schnell, zu viel – viel zu viel – auf einmal ...
Er sah sich die Nachrichten an. Das Übliche. Hier ein Krieg, dort eine Überschwemmung. Dazwischen internationale Spannungen, ein Mord an einem kleinen Jungen und dessen Vater, ein korrupter Politiker, der sich keiner Korruption bewusst sein wollte ... Als einzelner war man hilflos. So gottverdammt hilflos. Rasierklingen? Ach nee ...
Er griff nach der Programmzeitschrift. Blätterte darin rum und sah schließlich, dass für 22 Uhr ein Softporno angekündigt war. „Frühlingsgefühle“. Den hatte er zwar bereits gesehen, aber diesen Streifen konnte man sich ruhig ein zweites Mal antun. Allein schon wegen der unglaublich geilen Hauptdarstellerin ...
Bis 22 Uhr war noch Zeit. Er stand auf, ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, griff sich eine kühle Flasche Bier heraus, machte sie auf und setzte sich mit ihr an den Wohnzimmertisch. Die Vögel draußen zwitscherten nicht mehr. Sie hatten Feierabend. Morgen würden sie wieder genug zu tun zu tun haben. Sonntag oder Montag, ihnen war das vollkommen egal. Solange nur das Wetter halbwegs mitspielte. Der Meteologe im Fernsehen hatte was von Temperaturen um die 13 Grad gesagt. Von Sonnenschein und nur geringfügiger, örtlicher Bewölkung am späten Nachmittag.