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Fragen zum neutralen Erzähler

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07.04.2016
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Fragen zum neutralen Erzähler

Hallo Wortkrieger,

ich hoffe, ich stelle diese Fragen hier an der richtigen Stelle:
Ist es legitim, dass ein neutraler Erzähler Vermutungen anstellt, also Sätze beginnt, die mit "Vielleicht ..." oder "Wahrscheinlich ..." beginnen?
Inwieweit darf er über Dinge urteilen und Kommentare abgeben?

Beispiel:
Neutraler Erzähler: Adam sah Eva lange an.
Personaler Erzähler: Adam sah Eva verliebt an.
"Mein" Erzähler: Adam sah Eva lange an. Offenbar war er verliebt.

Welche Wirkung hat das auf den Leser? Fällt euch eine Kurzgeschichte oder ein Roman ein, die so geschrieben wurde? Inwiefern muss man bei einer solchen Erzählung die Kommentare durch entsprechende Wörter (vielleicht, offenbar) kennzeichnen? Ist ein Hin- und Herspringen zwischen auktorialem Erzähler und neutralem Erzähler problematisch, wenn man beispielsweise "vergisst", ein entsprechendes Wort einzufügen?

Kurz zum Hintergrund: Ich schreibe eine Kurzgeschichte über ein schrulliges Pärchen. Ich möchte bewusst dem Leser überlassen, was das Pärchen denkt und fühlt. Einen passiven Charakter, der als personaler Erzähler dient, möchte ich nicht einfügen. Demzufolge bin ich wohl mit dem neutralen Erzähler am besten aufgehoben. Dieser wird aber in der Theorie als sachlich beschrieben. Einen sachlichen, "langweiligen" Ton möchte ich aber auch nicht anschlagen. Deshalb kam ich auf die Idee, Thesen und Vermutungen des neutralen Erzählers einzufügen, die aber nicht zwangsläufig stimmen müssen: Als ob jemand einen Film sieht, und diesen in Echtzeit am Telefon nacherzählt.

Über Ratschläge und Erfahrungsberichte bin ich dankbar!

 

Deshalb kam ich auf die Idee, Thesen und Vermutungen des neutralen Erzählers einzufügen, die aber nicht zwangsläufig stimmen müssen:

Dann ist das kein neutraler Erzähler, sondern ein unzuverlässiger, der vielleicht sogar im Geschehen selbst auftaucht, es aber nicht muss. Neutral bedeutet immer die Kamera. Nur was das Auge sieht. Keine Vermutungen, keine Wertungen, nur beschreibend. Du kannst es so machen, dass das schrullige Paar von jemandem erzählt wird, der sie kennt, ein Nachbar etc. Dann kann er Vergleiche ziehen oder Fragen stellen. Da musst du aber genau wissen, über welches Wissen der Nachbar verfügt und wie er da rangekommen ist. Oder eben er spekuliert nur. Raymond Carver hat oft mit einem sehr neutralen, objektiven Erzähler gearbeitet. Amy Hempel macht das oft, die ganze Autoren des dirty realism im Grunde mehr oder weniger.

Gruss Jimmy

 
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Zur Klassifikation: Ich denke, das, was dir vorschwebt, ist kein neutraler Erzähler, sondern ein auktorialer Erzähler mit eingeschränktem Wissen. Beim neutralen Erzählen tritt der Erzähler maximal in den Hintergrund (erzählerloses Erzählen). Vermutungen ("vielleicht" / "wahrscheinlich") lassen den Erzähler aber in den Vordergrund treten.

Zur Frage, ob das Sinn macht: Ich bin skeptisch. Der Beispielsatz, den du formulierst, würde für mich, glaube ich, nur in eine Geschichte mit Rahmenerzählung passen. Der Grossvater setzte sich vor den Kamin und begann zu erzählen: "Adam sah Eva lange an. Offenbar war er verliebt." "Meinst du?", fragte der Enkel.

Zur Begründung: Der Autor schliesst mit dem Leser einen Vertrag, was den Erzähler betrifft. Der Leser möchte hier eine gewisse Sicherheit, so dass er sich dem Inhalt widmen kann. Die Frage: "Wer erzählt das eigentlich?" sollte nicht im Kopf des Lesers herumschwirren. Natürlich kann ein Erzähler unzuverlässig sein, so dass sich der Leser zu einem bestimmten Punkt fragt, ob er angelogen wird, das kann sehr spannend sein. Aber so wie du dein Projekt vorstellst, würde ich mich als Leser wahrscheinlich ständig fragen: "Wer erzählt mir das überhaupt?".
Beim allwissenden auktorialen Erzähler akzeptiert man einen gewissermassen anonymen Erzähler, weil der eben alles weiss, sich selbst maximal ins Spiel bringt, und gerade dadurch wieder aus dem Spiel verschwindet. Wenn der Erzähler aber angibt, dass er nicht über maximales Wissen verfügt, wird die Erzählsituation sofort fragil und problematisch, der Erzähler erscheint als Figur im Spiel und drängt sich ein Stück weit auch in den Vordergrund. Beim Ich-Erzähler ist das am deutlichsten, aber hier ist die Situation von Beginn weg klar, der Erzähler ist offiziell Teil des Spiels, der Leser ist informiert.

Einen passiven Charakter, der als personaler Erzähler dient, möchte ich nicht einfügen. Demzufolge bin ich wohl mit dem neutralen Erzähler am besten aufgehoben. Dieser wird aber in der Theorie als sachlich beschrieben. Einen sachlichen, "langweiligen" Ton möchte ich aber auch nicht anschlagen.

Du kannst die Situation personal aus der Perspektive der einen oder anderen Hälfte des Pärchens beschreiben, du brauchst keine dritte Figur. Dabei kannst du auch die Perspektive innerhalb des Textes wechseln. Adam sah Eva lange an. Ihre Nase, die wohlgeformten Augen. Wie schön sie war!

Und sachlich ist nicht gleich langweilig. Eva nahm das Messer und hielt es Adam an die Kehle. "Zu lange schon starrst du mich an. Damit ist jetzt Schluss", sagte sie. Du kannst also die Emotion in die Dialoge legen.

[Edit: Hat sich mit Jimmys Antwort überschnitten]

 

Das ist super ergänzt bzw vervollständigt, Peeperkorn. Mir fällt ein sehr bekanntes Werk ein, welches in einem ähnlichen Erzählrahmen abläuft, wie hier angestrebt, und das ist "Der große Gatsby" von Fitzgerald. Es geht immer um Gatsby, erzählt wird es aber von jemand anderem, von Carraway in der Ich-Form erzählt, und diese Figur wertet natürlich auch (das Verhalten anderer) und schreibt sich somit selbst in die Geschichte Gatsbys ein.

 
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Hallo Ephraim Escher,

ich denk schon, dass Du

wohl die richtige Anlaufstelle gefunden
hast, ich z. B. tob mich hier gelegentlich aus.

Und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!

Neutraler Erzähler: Adam sah Eva lange an.
Personaler Erzähler: Adam sah Eva verliebt an.
"Mein" Erzähler: Adam sah Eva lange an. Offenbar war er verliebt.

Der "neutrale" Erzähler verliert schon seine Neutralität in der Wahl der Worte (Dein nickname hat's ja auch in sich, wobei ich hoffe, dass Du der Fantasie eines M. C. Escher.s nahe kommst.)

Gegenüber den Beispielen wirkt das biblische Original sicherlich neutraler, ohne neutral zu sein. Wo heute 500 Seiten vergossen werden heißt es biblisch kurz: Und X erkannte sein Weib y. Und zum Voyeurismus heißt es nach der Sintflut schlicht, dass ein Sohn Noahs Blöße gesehen habe. Dafür wurd der Sohn verflucht.

Kürzer als ein Polizeibericht.

Tschüss und viel Spaß hierselbst!

Friedel

 

Vielen Dank für die Kommentare, die mir gezeigt haben, dass ich die bisher gewählte Erzählperspektive überarbeiten muss.

Meine Charaktere verhalten sich recht merkwürdig und lächerlich, daher kam ich auf die Idee meiner "Kinosessel-Erzählperspektive". Man sieht, was passiert, und man stellt Vermutungen an, warum. Dennoch kann und soll man sich nicht mit den Charakteren identifizieren, sondern als Zuschauer über deren Gehabe amüsieren. Auch ich habe mich zwischendurch gefragt, wer der Erzähler genau ist und ob so eine Perspektive beim Leser Akzeptanz findet. Anscheinend tut sie das nicht. Wenn ich schon beim Schreiben über meine eigenen Erzählbeine stolpere und mich genötigt fühle, hier darüber ein Thema zu eröffnen, wird vermutlich der Leser vielleicht erst recht über die etwaige Unentschlossenheit des vermuteten Erzählers eventuell stolpern - aber das weiß keiner so genau.

Sobald ich die Geschichte beendet habe, schreibe ich hier gerne nochmal einen kurzen Hinweis.
DANKESCHÖN!

 

Könnte ein neutraler Erzähler folgenden Satz schreiben:
Der Sohn hört seltsame Geräusche aus dem Schlafzimmer der Eltern.
mit dem Adjektiv seltsam verlässt du die neutrale Perspektive, darin steckt Wertung, ein komplett neutraler Erzähler verhält sich wie eine Kamera, die auf das Geschehen blickt. Da muss man sehr diszipliniert prüfen und überarbeiten, denke ich. Was versprichst du dir von der Übung?

 

Was du meinst, ist das "erzählerlose Erzählen." Nehme ich mal stark an. Bedeutet, der Erzähler tritt nie wirklich zu Tage, er mischt sich nicht ein, in den USA nennt man das intrusive author, der mal mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Er erläutert die Narrative, auch wenn er das nur an bestimmten Stellen macht, er wertet, erklärt, und berichtet auch aus der Innenperspektive der Figuren. Wenn das geschickt gemacht ist, fällt das nicht auf. Wenn es nicht geschickt gemacht ist, liest sich das wie info dump.

Stell dir im Grunde eine Kamera vor. Texte die so geschrieben sind, wie du es vorhast, klingen immer filmisch, weil sie nah am Szenischen sind. Kamera drauf, und zeig nur was die Figuren sehen und hören. Wenn du dich mit diesen Perspektiven beschäftigten willst, würde ich dir mal Raymond Carver empfehlen, der hat auch oft einen solchen Tonfall, auch wenn er nicht immer total neutral ist, aber eben oft.

Gruss, Jimmy

 

Was ist relevant, um gezeigt zu werden?

Das ist aber was anderes, als eine Meinung zu intendieren. Dann könnte man auch fragen, warum überhaupt erzählen. Ich entschließe mich eine Geschichte zu schreiben. Ich erfinde Charaktere, einen Plot, eine Handlung. Ich beschreibe diese Handlung wie mit der Kamera. Keine Innenperspektive. Keine Einmischung des Autoren. Ich lasse nur die Figuren agieren. Bueno. Wir können jetzt diskutieren, warum welche Plotpunkte wichtig sind oder eben nicht. Aber das kann man immer umdrehen und sagen: Na ja, du lenkst den Leser entweder dorthin oder eben woanders hin. Das ist ja auch die postmoderne Haltung: was wird alles nicht erzählt? Diese Diskussion verläuft immer im Sande, weil das immer in zwei Hälften zerfällt. Was du zeigst und was eben nicht. Das kann ich übrigens auch bei allen anderen Perspektiven fragen. Warum wird mir das gezeigt? Werde ich hier manipuliert? Wo beginnt die Manipulation? Beginnt die nicht schon, wenn ich ein Buch aufschlage und den ersten Satz lese?

Ich glaube, was Ronja einfach erreichen möchte, ist ein Tool mehr in ihrem Set.

 
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Gude in die Runde,

ich habe dasselbe oder zumindest ein sehr ähnliches Experiment letztes Jahr mal in einem Kurs für Kreatives Schreiben versucht und dabei etwas Feedback erhalten, das zum Schluss ganz kleinteilig wurde
Am Beispiel:

Der Sohn hört seltsame Geräusche aus dem Schlafzimmer der Eltern.
Die Zuschreibungen "seltsam" wurde ja schon von meinen Vorrednern rausgestrichen, ich würde auch "der Sohn hört" streichen. Woher weiß denn eine Kamera, ob jemand etwas hört; also für sich bewusst rezipiert? Vielleicht eher: "Der Sohn hebt den Kopf und richtet die Augen in Richtung der Wand, durch die Geräusche dringen." Dann reagiert er, wahrscheinlich weil er etwas hört, aber sicher sein kann man sich dessen nicht.
Aber dieses lustige Spiel kann man noch weitertreiben: "Der Sohn". Woher weiß eine Kamera wie der Verwandtschaftsgrad der Personen ist? ;) Hier müsste man, nach dem Kamera-Motiv, von einem Kleinkind reden usw. - damals hatten wir an meinem Versuch auch überlegt, sämtliche Personennamen rauszustreichen; Namen fallen also nur in wörtlicher Rede.

Meine Erfahrung war, dass das hier zutrifft:

M.E. schult diese Perspektive das Bewusstsein und zwingt mich, jedes Wort genau anzuschauen, ob es nicht doch eine Wertung beinhaltet und manipulativ ist.
Man merkt, insbesondere wenn man es bis zum Exitus betreibt, dass in unglaublich vielen Wörtern eine Deutung oder eine Interpretation mitschwingt (siehe "hören").

Allerdings:

„Holzhammer“ auf die Schliche zu kommen.
Edit: Ich musste hier grad mal aufräumen, da ich das ziemlich widersprüchlich formuliert habe.
Was ich im Kern sagen will: Allein damit kommt man dem Holzhammer nicht auf die Schliche (ist aber durchaus eine Hilfe), denn m.E. auch durch eine reine Kameraperspektive etwas überdeutlich präsentiert werden; bei Filmen gibt es dafür ja u.a. den Begriff Over-Acting, was überzeichnetes Schauspielen wäre; in einer KG dann unnormale Sprechsequenzen, die überdeutlich Motivationen preisgeben usw.

In jedem Fall ein interessantes Schreibexperiment, das mir beim Schreiben auch Spaß gemacht hat. Ob ich so etwas lesen wollen würde, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es wohl ganze Romane gibt, die sich dessen in Extremform (z.B. aus Sicht einer Sicherheitskamera) bedienen.

P.S.: Wenn man das Kind rauswirft, müsste man analog auch die Eltern rausschmeißen.

 

Ich denke, du gehst zu sehr von der Kamera als Vorrichtung aus. Erzählerloses Erzählen will sich einem Film annähern.
Das stimmt, ich hatte allerdings auch nicht das Erzählerlose Erzählen als feste Struktur im Kopf, sondern wollte nur mal beispielhaft zeigen, in welche Extreme man prinzipiell "neutrales" Berichten entführen kann.

 

Selbst in einer gefilmten Dokumentation, wo ich die Leute nur reden lasse, ohne Off-Kommentar.

Ist eine interessante Diskussion. Ich würde sagen, setzte jemanden vor die Kamera und lasse ihn erzählen, und cutte nichts heraus, wird dabei sicher eine naturalistisches, im Sinne von nicht durch die äußeren Umstände (Autor, Skript etc) beeinflusstes Ergebnis herauskommen.

Natürlich kann man schon beim Sujet beginnen. Warum erzähle ich das? Das ist aber eine Frage, die auf alle Perspektiven zutrifft. Ich denke, man sollte das etwas auf der Metaebene denken. Es gibt viel Gegenwartsliteratur, die im Kern eine Botschaft verhandelt. Wo mir gesagt wird: Das ist gut. DAS ist nicht gut. Flüchtlingen helfen = immer gut. AfD wählen = immer schlecht. Mal ein blödes Beispiel. In einem Text kann ich erwarten, dass der Leser eben durch die fehlende Führung, durch den fehlenden moralischen Kompass, sehr verstört wird. Ich hatte hier mal einen Text, der über eine Vergewaltigung ging, drei Typen, und es gab nur die Kamera, es wurde nur gezeigt, was passiert, keine Katharsis, keine Auflösung, keine Moral. Unter dem Thread war einiges los, kann ich dir sagen. Du wirfst ja die Entscheidung, die Ethik, auf den Leser zurück. Das ist, glaube ich, was Ronja bezwecken möchte, dass der Leser sich über das Lesen hinaus Gedanken machen muss.

Ich glaube, man muss es nicht ins Extrem treiben, aber der Grundgedanke, die Perspektive der Kamera zu wählen, ist oft hilfreich. Natürlich ist das auch ein Effekt, die Distanz lässt alles total kalt erscheinen, der Leser ist nur auf die Figuren zurückgeworfen, und wenn der Autor da nicht wirklich wasserdicht ist, fällt das sofort auf. Ohne Führung, ohne Erklärung wird der Autor eher mehr gefordert, wie ich finde.

Gruss, Jimmy

 

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