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Frau Jakobs und Frau Zeisig
Mein Name ist Michelle und bin ein 88er Jahrgang. Zum Glück hatten meine Eltern mir keinen für diese Zeit so typischen altdeutschen Retrovornamen, wie Katharina, Anna oder Sophia gegeben. Zusammen mit meiner Mutter wohne ich in dem trendigen Stadtteil Prenzlauer Berg. Mutti wohnte schon in dieser Gegend, als sie noch nicht so angesagt und durch Straßenstrich und Hausbesetzer in Verruf gekommen war. Damals waren die Mieten noch bezahlbar, aber meine Mutter wollte trotz Mieterhöhe nicht den Bezirk Mitte verlassen. Ich möchte auch gerne da wohnen bleiben, das ist auch mithin ein Grund, warum ich noch nicht von zu Hause ausgezogen bin. Bei meinem jetzigen Gehalt als Berufsanfängerin könnte ich mir höchstens eine Absteige in Lichterfelde oder Moabit leisten. Aber das soll sich bald ändern: Ich werde bei dem Architekturbüro "Kristall" anfangen, denn meine Bewerbung war erfolgreich. Yabbayabbaduh! Da werde ich so gut wie das Doppelte meines Gehaltes im Vergleich gegenüber meiner alten Arbeitsstelle verdienen.
Am Tag meines Vorstellungsgespräches verbrachte ich viel Zeit vor meinem Kleiderschrank. Letztendlich entschloss ich mich dann für ein schmalgeschnittenes Kostüm in Knielänge, das meine schmale Taille und meine Beine gut zur Geltung brachte. Zufrieden betrachtete ich mein Spiegelbild: Die blonden Haare die ich zur Banane hochgesteckt trug, harmonierten farblich perfekt mit meinen Goldkreolen. Schlicht aber edel.
"Mama Mia" prangte in großen Leuchtbuchstaben über dem Musicaltheater am Potsdamer Platz. Mama Mia, was war ich aufgeregt! Mit wachsendem Herzklopfen und einem Druck auf der Kehle, der mir das Atmen erschwerte, ging ich durch die Häuserschluchten an Sony-Center, Cinemax und dem imposanten Bundesbahnbürohaus vorbei zum neuen Arbeitsplatz.
Ich muss sagen, das Ambiente sagte mir zu. Die schöne Empfangshalle mit viel Glas und weichen Teppichböden, erinnerte mich ein wenig an das "Kerima Modehaus" aus der beliebten Seifenoper "Verliebt in Berlin". Unser Personalchef, Herr Hansen, groß, blond, mindestens eins neunzig groß und breitschultrig war auch nicht von schlechten Eltern. "Oh David, lass mich deine Lisa Plenske sein!" Leider hatte er einen goldenen Ring am Finger. Vielleicht war das besser so, denn in der Liebe hatte ich in den letzten Jahren immer wieder Pech gehabt. Meine letzte Beziehung mit Kevin, meiner großen Liebe, ging vor einiger Zeit in die Brüche, als seine Ex-Freundin, in der er noch immer verliebt war, überraschend wieder in sein Leben trat. Aber so ging es mir andauernd, immer musste ich mich in Männer verlieben, die irgendwie unerreichbar für mich waren. Vielleicht lag es daran, dass ich meinen Vater, der kurz nach meiner Geburt in den Westen floh, nie richtig kennengelernt hatte. Meine Mutter konnte den Kummer über ihn lange nicht verkraften. Als er uns nach der Wende besuchte, kam kein richtig enges Vater-Tochter-Verhältnis zwischen uns auf. Er zeigte uns für meinen Geschmack zu deutlich, dass er seiner neuen Familie in Charlottenburg den Vorrang gab.
"Das ist Michelle Zeisig, unsere neue Mitarbeiterin im Bereich Bürokommunikation", wurde ich förmlich der Belegschaft vorgestellt. Vierzig Augenpaare sahen mich neugierig an. Ich hielt den Blicken selbstbewusst stand und genoss die Bewunderung, die darin lag. Ich weiß, ich bin eine attraktive Frau, ich muss mich nicht verstecken.
"So, Frau Zeisig, nun führ ich Sie zu Ihrem künftigen Arbeitsplatz, und Sie werden Frau Nora Jakob kennen lernen", erklärte mir Herr Hansen. Aus der Menge löste sich eine plump wirkende Frau unbestimmten Alters mit graublonder, schulterlanger Dauerwellenfrisur. Bekleidet war sie mit einem aus blauem Glanzgarn gestrickten Pullover, der noch aus alten VEB-Beständen zu stammen schien. Dazu trug sie einen wadenlangen Rock und flache Loafers, die ihre Waden unförmig aussehen ließen. Dieses dickliche Etwas gab mir kurz ihre kalte Hand und sagte tonlos, ohne mich richtig anzusehen: "Willkommen! Ich bin Frau Jakobs."
"Scottie, beam me up!" Ich war so geschockt. Diese Frau passte doch gar nicht in dieses schicke Unternehmen. Sie würde besser als lebendes Relikt ins DDR Museum passen.
Ich betrat mein zukünftiges Büro. Sind wir denn in einem Teenagerzimmer gelandet? Da hängt doch tatsächlich ein Poster aus der "Bravo" mit George Clooney an der Wand!
Die dickliche Frau, namens Jakobs, sah auf ihre Armbanduhr und fragte: "Wollen wir erst mal frühstücken? Bis Herr Hansen kommt, um Sie einzuarbeiten, vergeht noch gut eine halbe Stunde."
Also Hunger hatte ich keinen, schon der Gedanke an ein Frühstücksbrot ließ mich würgen. Ich fragte nach einem Kaffeeautomaten. Als ich etwas später mit meinem dampfenden Becher Cappuccino zurück kam, schnitt Frau Jakobs andächtig langsam eine Scheibe Graubrot in Viertel und bestrich sie dick mit Quark. Dieses weiße, schwammige Gesicht überzogen mit Knubbeln und Unreinheiten, die nachtgespenstblonden, ausgefransten Dauerwellen und dazu dieser weiße Quark, den sie mümmelte, das erfüllte mich mit Abscheu.
"Frau Jakobs kommen Sie mal schnell, der Kopierer scheint wieder mal zu spinnen!" rief ein hektisch wirkender Mann mit einer dunkelrandigen Brille. Sieht fast so aus, als ob Frau Jakobs hier DVD sei - Depp vom Dienst.
Ich sah mich im Zimmer um, es wirkte trotz lächerlichem Poster und großblättriger Grünpflanze, kahl. Auf dem Aktenbock stand ein Radio. Ich wusste nicht, welchen Sender diese Frau eingestellt hat - Oper oder deutscher Schlager - und wählte Berlin Radio 88.8.
"Uschi, kommst du auch mit in den Frühstücksraum?" hörte ich eine junge Frauenstimme auf dem Flur fragen.
"Ja Gabi, ich komm gleich, ich schicke nur noch schnell die Mail weg."
Also gab es einen Raum, in dem sich die Mitarbeiter zum Frühstück trafen. Da werde ich mich auch mal blicken lassen. Zusammen mit dem weißen Gespenst namens Frau Jakobs zu frühstücken, hatte ich echt keine Lust.
Frau Jacobs kam genervt vom Kopierer zurück und sah stirnrunzelnd zum Radio, aus dem laut und fröhlich Shakira "Waka waka" sang.
"Ist es Ihnen zu laut?" fragte ich mit Unschuldsmiene. Sie verneinte. Offensichtlich hatte sie Angst, ihre Meinung zu äußern und gab lieber nach. Ich sah sie förmlich in sich zusammen kriechen.
Ich fühlte mich in ihrer Umgebung unwohl und unbehaglich. Eine Unterhaltung zwischen uns kam auch nicht zustande. Deswegen war ich sehr erleichtert, als Herr Hansen das Zimmer betrat und mich über die Arbeitsabläufe informierte.
Mit großer Erleichterung sah ich, dass Frau Jacobs ihren altmodischen Jackenmantel aus dem Kleiderspind holte und das Haus in der Mittagspause verließ.
"Möchten Sie auch mitkommen, Frau Zeisig?" fragte sie mich. "Einmal im Monat gehen wir richtig gut Essen. Diesmal besuchen wir den "Australier" im Sony-Center."
"Nein danke", antwortete ich. "Ich gehe nächstes Mal mit. Ich muss mich hier noch ein bisschen einarbeiten."
Dankbar alleine zu sein, genoss ich meinen Obstsalat mit Joghurt und blätterte in verschiedenen Zeitschriften.
Als Frau Jakobs zurückkam, sah sie recht verbiestert aus. Sie sprach auch kein Wort über diesen tollen "Australier" und vertiefte sich in ihre Arbeit. Vielleicht war ihr Krokodilsteak zäh gewesen.
Am nächsten Tag war ich zum ersten Mal mit dem Großteil meiner Mitarbeiter frühstücken. Inzwischen haben mir auch die meisten Leute das "Du" angeboten.
Interessant, was man da so alles im Nachhinein erfährt, was mir damals bei meinem Einstellungsgespräch verschwiegen wurde. Ich hatte nicht gewusst, dass das noble "Kristall" zurzeit in einem finanziellen Engpass steckte, weil ein lukrativer Großauftrag geplatzt war. Es war sogar die Rede davon, dass eventuell eine Kraft aus dem Bürokommunikationsbereich gestrichen werden sollte. Das hat mir gerade noch gefehlt!
Herr Sauer, dieser hektische, dünne Mann der Frau Jakobs zum Kopierer gehetzt hatte und mit Vornamen Dieter hieß, rückte seine Brille zurecht.
"Ja, in der heutigen Zeit bist du nirgendwo mehr sicher", sagte er und runzelte die Stirn. "Aber es bringt nichts, jetzt schon in Panik zu verfallen. Warten wir erst mal das nächste Meeting ab."
"Es wäre echt das letzte, wenn ich meinen Job, den ich hier gerade mal angefangen habe, gleich wieder verliere. Weswegen hat man mich eigentlich eingestellt?"
"Na hör mal Mädchen, es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird", sagte Dieter und blickte mich an, wie ein hungriges Hündchen sein Leckerli.
Ich hasse es, wenn ich merke, dass der Mann, mit dem ich mich die ganze Zeit über vernünftig unterhalten habe, plötzlich von dieser "Gier-Geifer-Phase" ergriffen wird. An meiner Kleidung konnte es nicht liegen, denn sie war büromäßig korrekt.
"Soweit ich weiß", mischte sich einer der technischen Zeichner ein, "sollen Leute aus dem Schreibbereich eingespart werden, und auch wir Zeichner sind nicht sicher, ob der Krug an uns noch einmal vorbei gehen wird, wie man so schön sagt."
"Wenn Jemand aus Kostengründen gehen muss, dann trifft es leider oft die Leute die ledig, ohne Kinder und noch nicht so lange dabei sind."
"Da treffe ich ja die besten Voraussetzungen", sagte ich resigniert.
"Leider ja", sagte Dieter. "Die meisten deiner Kolleginnen sind schon seit langer Zeit bei uns und haben Familie und Kinder. Einzig Frau Jakobs, die war noch nie verheiratet, sie hat daheim niemanden und Kinder hat sie eh nicht. Aber die ist jetzt schon so lange bei uns, die kann man - ich sage leider - nicht kündigen."
Das erklärte alles. Sie hat einfach eine altjüngferliche Art an sich. Warum in aller Welt, kann man ihr nicht kündigen?
Als ob Dieter meine Gedanken erraten hätte sagte er: "Mit Frau Jakobs haben viele hier Geduld - viel zu viel Geduld. Aber sowas gibt es leider in den meisten Betrieben. Da ist immer mal ein unfähiger Mitarbeiter dabei, der einfach so mit durchgezogen wird. Der Rest der Belegschaft darf sich dann ein bisschen mehr Arbeit aufhalsen."
"Oh, wie ungerecht", ging es durch meinen Kopf. "So was darf eigentlich nicht sein!"
"Kommst du eigentlich gut mit unserer Jakobine klar?" fragte mich Dieter grinsend. "Könnt ihr euch gut riechen?"
"Also wenn ich ehrlich bin", antwortete ich, "hat Frau Jakobs einen etwas eigenartigen Geruch an sich, so muffig, als ob ihre Klamotten aus einem Kleiderschrank voller Mottenkugeln kommen."
Die Belegschaft lachte laut. Die arme Frau Jakobs, ihre Ohren müssten mittlerweile klingeln, denn nun wurde sie das Hauptthema des Morgens. Sie war daran nicht unschuldig. Wenn ich ihre beiden befreundeten Kolleginnen Sylvia und Adele anschaue, die nicht viel jünger als Frau Jakobs sind, da sehe ich doch einen himmelhohen Unterschied. Sylvia war groß und schlank, Adele klein und mollig und beide zogen sich wesentlich jugendlicher und flotter an. Außerdem nahmen sie nicht alles so todernst und konnten auch über sich selbst lachen, wenn mal etwas schief gelaufen war.
Ich erfuhr von Sylvia, dass die meisten Mitleid mit Frau Jakobs hatten. Ihr selbst tat sie auch leid, weil sie so wenig aus sich machen konnte und so unbeholfen wirkte. Arbeiten würde sie ja sehr gründlich - aber so langsam! Alles musste sie drei bis viermal durchlesen und überprüfen, bevor sie es zur Unterschrift gab. Und trotzdem unterliefen ihr immer wieder Flüchtigkeitsfehler.
"Nora hatte es nie leicht gehabt", seufzte Adele. "Sie kündigte damals ihren guten Job bei einer Rechtsanwaltskanzlei, um ihre an Alzheimer erkrankten Mutter zu pflegen. Der Vater, der früh verstorben war, hatte ihr nur eine kleine Witwenrente überlassen und Mutter hatte nie gearbeitet. Nora musste sie alleine pflegen, denn für einen Pflegedienst reichte Mutters Witwenrente nicht aus und in die Geriateriestation wollte Nora ihre Mutter nicht abschieben. Sie hat zwar noch zwei Geschwister, einen Bruder und eine Schwester. Die kümmerten sich aber kaum um die Pflege ihrer Mutter und lebten mehr ihr eigenes Leben. Zu mindestens ließen sie Nora mietfrei im Elternhaus wohnen und unterstützen sie ab und zu mal finanziell. Und nun lebt sie alleine in diesem großen Haus. Zu ihren Geschwistern hat sie sehr wenig Kontakt. Einen Mann, außer ihrer Schwärmerei zu Filmstar George Clooney, hat es in ihrem Leben soweit ich weiß, noch nie gegeben. Als der letztes Jahr zu Dreharbeiten in Berlin war, da war sie ganz hippelig."
Frau Jakobs schien eine alte Schachtel zu sein, die einem amerikanischen Frauenschwarm hinterherläuft und ansonsten die Arbeit im Architekturbüro "Kristall" genießt, weil sie da mal unter Leute kommt. Mit ihrer alten Zimmergenossin, der Frau Schneider, die inzwischen in Rente war, hatte sie sich gut verstanden. Sie hatten immer zu zweit gefrühstückt, weil Frau Schneider das Frühstückszimmer zu unruhig fand.
"Und jetzt frühstückst sie auch nicht mit euch zusammen?" fragte ich.
"Sie kommt nicht dazu", antwortete Sylvia grinsend. "Unser Dieter nervt sie morgens gerne mit Faxen, die er sofort auf den Tisch haben will."
Aber sie ging mittags mit den Kollegen aus und blamierte diese in Grund und Boden. Ja, und den Vogel hatte sie abgeschossen, als sie letztens im Sony-Center dieses angesagte Restaurant besuchten. Mit Klamotten, die aus einer Altkleidersammlung zu stammen schienen, machte sie ihre Kollegen zum Gespött der Leute.
"Wenn wir das Fräulein Jakobs nicht hätten, hätten wir nicht mehr so viel zu lachen", quiekte Adele und ihr Stuppsnäschen zog sich unter den Sommersprossen kraus.
Dieser Meinung war ich nicht. Soll Adele sich doch Comedy-Sendungen und Real-Soaps im Fernsehen anschauen, wenn sie das Bedürfnis hat, sich amüsieren zu müssen.
Oh, was hätte ich dafür gegeben, wenn Frau Jakobs Urlaub gehabt hätte oder krank gewesen wäre, denn ich konnte ihre Gegenwart nach einem schlimmen Wochenende überhaupt nicht ertragen. Timo, der Freund meiner besten Freundin Nathalie, wollte mich wieder mal anbaggern. Angeblich hätten wir vor einiger Zeit ein Techtelmechtel in der Tiefgarage gehabt, nachdem er mich in den Morgenstunden aus einem Club aufgelesen hatte. Ich konnte mich an nichts erinnern und passe außerdem nicht in sein Beuteschema. Nathalie arbeitet als Modell. Sie ist zwar nicht so weltbekannt wie Claudia Schiffer, wird aber oft für Modeschauen gebucht und ab und zu erscheint sie auf den Modeseiten von Illustrierten. Timo hat ihr schon oft einen Grund zur Eifersucht gegeben. Dabei kann er sich glücklich schätzen, eine so tolle Frau zu haben.
Wenn nur dieser Mief hier im Zimmer nicht wäre! Mir kam es vor, als ob ich kopfüber in einem Altkleidercontainer steckte. Ich riss die Fenster auf und zog meine Wollblazer über mein Shirt.
Frau Jakobs betrat den Raum und beschwerte sich doch prompt, dass es ihr zu kalt wäre.
"Können Sie in dieser Luft arbeiten?" fragte ich sie. "Ich nicht! Mir ist schon die ganze Zeit über schlecht, ich könnte geradezu kotzen."
Sie sagte nichts mehr. Irgendwie schien sie Schiss vor mir zu haben, aber ihre bösen Blicke sagten mehr als Worte.
Vor der Frühstückspause hatte mich Sylvia angesprochen. Ihr war aufgefallen, dass ich so blass und abwesend wirkte. Ich mochte diese Frau, denn bei ihr hatte man das Gefühl, dass man ihr alles erzählen konnte. Wir setzten uns in das Frühstückzimmer und ich schilderte ihr mein Dilemma.
"Mach dir mal keinen Kopf", tröstete sie mich. "So wie es den Anschein hat, ist Timo ein großer Lügner."
Ich hätte mich gerne noch länger mit ihr über das Thema unterhalten, aber da füllte sich schon der Raum mit den anderen Mitarbeitern. Zu meinem Überdruss kam diesmal auch Frau Jakobs dazu. Die soll nur wegbleiben, ich bin froh, wenn ich sie für eine halbe Stunde am Tag mal nicht sehen muss!
Frau Jakobs quetsche sich mit ihrer ganzen Breite zwischen unseren kleinen, buckligen Buchhalter und den Aktenboten und saß die ganze Zeit stumm dabei. Die beiden Männer unterhielten sich über die Formel 1 und diskutierten eifrig darüber, ob Sebastian Vettel nach dem letzten Rennen der Saison, endlich mal Weltmeister werden könnte. Das Thema Rennsport sagte mir auch zu, aber Frau Jakobs konnte da nicht mitreden.
Plötzlich kam mir eine Idee. Die alte Kuh ist außer Zimmer und die wichtigen Telefaxe kommen in der Zwischenzeit an. Vorsichtig erhob ich mich von meinem Platz und sagte, dass ich mal kurz raus müsste. Ich hörte durch die Tür den Lärmpegel verschiedener Stimmen und lautes Lachen. Niemand rückte einen Stuhl beiseite oder stand auf, so schlich ich mich ungesehen an Noras Arbeitsplatz. Ah, da lagen sie, die Schreiben, frisch aus dem Gerät! Schnell packte ich sie, steckte sie in mein Schreibtischfach und schloss ab. Was war denn das? Da stand auf einem Notizzettel "Pottsau_1". Diese Frau war ja so dumm und ließ ihr Computerpassword einfach auf dem Schreibtisch liegen. Pottsau als Password, wie krank ist denn so was! Ich steckte den Zettel in meine Hosentasche. Dazu wird mir hoffentlich etwas Kreatives einfallen.
"Der Kaffee, ich hab eindeutig zu viel davon getrunken", log ich, als ich zurück in den Aufenthaltsraum kam.
Mit Sylvia und Adele unterhielt ich mich nach der Frühstückpause noch ein Weilchen. Sie fragten mich, wie ich mit Frau Jakobs auskomme. Ich hatte nicht gelogen und gesagt, was mich an ihr störte.
"Ach, die Frau Jakobs ist in Sachen Musik ein bisschen empfindlich", sagte Sylvia. "Sie kann sich bei lauter Popmusik nicht mehr so auf die Arbeit konzentrieren. Sie ist eher ein Klassikfan."
"Konzentrieren!" rief ich erstaunt. "Wann macht sie das denn! So wie ich mitbekomme, unterlaufen ihr doch Fehler an Fehler."
Das stimmte zwar nicht ganz, aber die beiden wurden hellhörig, was mir ganz recht war.
"Ja, da kannst du Recht haben", sagte Adele und legte ihr Stirn in nachdenkliche Falten. "Vor kurzem hat sich Herr Sauer über sie beschwert, weil er ein wichtiges Fax nicht zu Gesicht bekommen hat. Angeblich wäre es nicht angekommen. Aber wie ich die Sache sehe, denke ich eher, dass sie das Schreiben irgendwie verschusselt oder weggeschmissen hat."
Ich triumphierte innerlich. Die Idee, die Telefaxen verschwinden zu lassen, war goldrichtig gewesen. Hoffentlich werden die Leute bald erkennen, wie untragbar diese Frau für das Büro ist.
"Ob das an ihrem Alter liegt?" fragte ich und legte einen mitleidigen Unterton in meine Stimme.
"Nein, so alt, dass sie Alzheimer bekommt, ist sie noch nicht", lachte Sylvia.
"Alzheimer?" überlegte Adele. "Hatte nicht ihre Mutter zum Schluss an Alzheimer gelitten?"
"Tja", sagte ich. "Es gibt auch Fälle, bei in Anführungsstrichen jüngeren Menschen, die Alzheimer bekommen. In Muttis Büro war mal eine Angestellte beschäftigt, bei ihr fing es mit Mitte fünfzig an. Sie kam manchmal nicht zur Arbeit, weil sie dachte, es wäre schon Wochenende."
Mit betroffener Miene sagte Sylvia: "Nein, ist das schlimm!"
Die Reaktion auf die verschwundenen Faxen kam schnell. Dieter betrat an diesem Tag mindestens drei bis viermal das Zimmer und fragte, ob diese Schreiben nicht angekommen seien. Der Steuerberater hätte ihm gesagt, seine Sekretärin würde die Rechnung gleich losschicken. Frau Jakobs wurde im Laufe des Tages immer unruhiger. Zum Schluss lief sie wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Büro. Sie durchsuchte ihre Schreibtischschubladen, wühlte in ihrer Ablageschale, auf ihrem Aktenbock und schaute letztendlich sogar im Papierkorb nach. Ordnung scheint auch nicht ihre Stärke zu sein.
Adele betrat das Zimmer und fragte voller Mitleid:
"Nora, was hast du? Ist etwas nicht in Ordnung?"
"Es ist wie verhext!" stöhnte Frau Jakobs. "Herr Sauer nervt mich schon den ganzen Tag und ich könnte schwören, dass der Steuerberater uns heute noch kein einziges Fax geschickt hat."
"Nur die Ruhe", beruhigte Adele sie. "Vielleicht hat das Julchen wieder mal vergessen, die Rechnungen los zufaxen." Sie zwinkerte mir zu und erklärte:"Die Chefsekretärin des Anwalts, diese Superblondine, mag wohl eine Augenweide sein, aber sie ist total unzuverlässig."
Ich verstand absolut nicht, warum Adele sich auf Frau Jakobs Seite schlug. Später kamen dann die vermissten Faxen noch einmal nachträglich an. Das Steuerberatungsbüro entschuldigte sich, konnte sich aber beim besten Willen nicht erklären, warum es schiefgelaufen war.
"Ja, das Julchen", spottete Adele gutmütig. Ich denke, ich muss die gute Frau mal etwas aufklären, damit ihr endlich mal die Augen über ihre Kollegin geöffnet werden.
Frau Jakobs blieb in der nächsten Zeit dem gemeinsamen Frühstück fern. Auf das Faxgerät passte sie auf wie ein Adler. Mir gelang es auch nur einmal, ein Fax verschwinden zu lassen. Aber das verlief im Sande. Niemand schien die Kostennachfrage eines Kunden zu vermissen.
"Was ist mit meinem Computer los!" rief aufgebracht Frau Jakobs. Ich zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern und versuchte krampfhaft ein Grinsen zu unterdrücken.
"Ist Ihnen das Password entfallen?" fragte ich.
"Ich find den Zettel nicht mehr, auf dem ich das Password aufgeschrieben habe. Aber es war nicht schwierig zu merken und ich könnte schwören, dass ich es richtig eingegeben habe."
Nein, das konnte natürlich nicht funktionieren, wenn das Password statt "Pottsau_1" nun "Potssau-1" hieß!
Die arme Frau Jakobs wurde von Tag zu Tag nervöser. Ob sie wohl an sich selbst zweifelte oder Verdacht schöpfte, dass jemand dahinter steckte?
Die meisten Kollegen verhielten sich freundlich ihr gegenüber und schlugen vor, doch mal einen Entspannungsurlaub zu nehmen. Dieter war da noch eine löbliche Ausnahme. Er rannte durch das Treppenhaus – da gab es so einen schönen Hall - und äffte Frau Jakobs Stimme laut und hysterisch nach: "Nein, es ist nichts da! Ich kann es gar nicht haben, weil heute gar kein Fax ankam!"
Okay, einige Arbeitskollegen begannen dann zu lachen. Aber ich merke, ich muss noch etwas Geduld in Sachen Frau Jakobs haben.
In der Mittagspause wollte die Belegschaft zu dem "Italiener" nahe dem Martin-Gropius-Bau gehen. So wie ich mitbekommen habe, ist das eines von Frau Jakobs Lieblingslokalen. Ich wurde auch gefragt, ob ich mitgehen wollte. Aber ich hatte keine Lust, die Anwesenheit dieser Frau auch in der Freizeit zu ertragen. Außerdem wurde man in ihrem Beisein so komisch angeschaut. Darauf machte ich auch Sylvia und Adele aufmerksam.
"Es ist schon ein Jammer", gab Sylvia mir recht. "Wie diese Frau sich manchmal anzieht! Und Ihre Haare sind echt ein Drama! Letztens beim "Australier" hab ich mich so richtig fremdgeschämt, als ein junger Kerl so eine Bemerkung über ihr Outfit fallen ließ."
"Sie muss doch nicht überall mit dabei sein", sagte ich.
Ich muss sagen, meine Kollegen lernen mit der Zeit. Als Frau Jakobs verwundert, weil niemand sie abgeholt hatte, an der Eingangstreppe stand, log Sylvia ihr etwas von einer Geburtstagsfeier im Ristorante vor, und dass sie deswegen nur noch einen Tisch für fünf Personen zugeteilt bekommen hätten. Eine leichte Röte zog über ihr Gesicht. Also im Lügen war Sylvia nicht so geübt. Frau Jakobs blieb in ihrem schwarzen Mantel und den grauen Strümpfen auf den Stufen zurück und erinnerte mich an eine einsame Nebelkrähe.
An einem ungemütlichen Tag, Ende November wurde die Mitarbeiterbesprechung abgehalten. Wir gingen in den großen Sitzungsraum, mit einen dampfenden Becher Kaffee vor uns auf dem Tisch und großen Bammel davor, was wir nun erfahren werden.
Es kam, wie ich es befürchtet hatte. Nach einem einschläfernden Geschäftsbericht, der unser Controller, Herr Kowalski herunterleierte, ergriff Herr Hansen das Wort:
"Wie Sie aus Herrn Kowalskis Ausführungen ersehen können, stecken wir in einer große Klemme. Um unser Unternehmen aufrecht zu erhalten, werden wir in näherer Zukunft leider gezwungen sein, uns von Mitarbeitern zu trennen. Näheres kann ich Ihnen leider erst nächsten Monat bei unserem Jahres-Meeting sagen."
"Na super" lachte Sylvia bitter. "Genau zur Weihnachtszeit."
Ich nickte nur und war zu sehr geschockt, um zu antworten. Meine Stimmung war seit dem gestrigen Abend sowieso schon auf dem Nullpunkt, seit ich erfahren habe, dass meine beste Freundin Nathalie mit der neuen Flamme meines Ex-Freundes schon seit längerem befreundet war. Diese falsche Natter!
"Na Michelle, was grübelst du?" unterbrach mich Sylvia in meinem Gedankenfluss.
"Och nichts", sagte ich. "Ich bin total down. Dreimal dürft ihr raten, wer gehen darf."
"Ach komm, es ist noch nichts gesagt", tröstete mich Adele. "Du hast dich schnell bei uns eingearbeitet und dir unterlaufen selten mal Fehler. Es gibt andere, die es verdienen, auf die Straße gesetzt zu werden."
Ich weiß nicht, ob Adele dabei an Frau Jakobs dachte. Es stand fest, es musste etwas geschehen, die Zeit eilte.
"Mal ein anderes Thema", sprach ich energisch. "Letztes Jahr wurde doch dieser Film in Berlin gedreht, bei dem unter anderem Diana Krüger, Brad Pitt und George Clooney mitspielten. Wisst ihr, ob George Clooney immer noch von dieser deutschen Stalkerin belästigt wird?"
Ich schaute mich vorsichtig im Sitzungssaal um, Frau Jakobs war nicht in der Nähe.
"Hahaha!" ließ Adele ihr lautes Lachen ertönen. "Das wird doch nicht unsere Nora gewesen sein. Ihr George ist doch ihr ein und alles."
"Für den Schauspieler war das nicht zum Lachen", erklärte ich. "Der hatte regelrecht Angst vor ihr. Diese Person bekam dann eine gerichtliche Abmahnung und darf sich ihm nicht mehr als hundert Meter nähern."
Fast lautlos hatte sich Frau Jakobs von hinten angeschlichen. Ihr Mund war ein verkniffener Strich und ihre Augen schienen mich zu durchbohren.
"Ob sie das gewesen war?" flüsterte Adele. "George Clooneys Stalkerin."
Wir nahmen unsere Kaffeebecher und gingen zurück ins Büro. Frau Jakobs war als erstes an der Tür. Dummerweise erwartete ich, dass sie mir die Tür aufhielt, aber stattdessen wurde sie zugeschmissen.
"Aua! Was soll der Scheiß!" schrie ich voller Wut und rieb meine schmerzende Hand. Frau Jakobs stotterte etwas Unverständliches von einem Versehen, und dass sie mich nicht gesehen hätte. Das glaubte ich ihr nicht und ich ging zu Herrn Hansen, um den Vorfall zu melden. Mein Handrücken hatte sich in der Zwischenzeit rötlichblau verfärbt und war leicht angeschwollen. Wenn nun etwas gebrochen wäre? Das würde Frau Jakobs Arbeitsplatz beim "Kristall" kosten. Trotz meiner Schmerzen triumphierte ich. Herr Hansen hörte sich mein Anliegen mit ernster Miene an und zitierte dann Frau Jakobs in sein Büro. Nach einer halben Stunde kam sie zurück und hatte Tränen in den Augen.
Ich durfte früher meine Arbeit beenden. Mein Handgelenk war zum Glück nicht gebrochen, aber ich hatte eine schwere Prellung erlitten.
Als ich nach drei Tagen wieder arbeitsfähig war, stellte ich erfreut fest, Frau Jakobs war nicht da. Hatte sie vielleicht die fristlose Kündigung erhalten?
Ich fragte Dieter. Der verneinte und sagte ausweichend, dass es Schwierigkeiten gegeben hätte und Herr Hansen sich gerne mit mir und Frau Jakobs zusammen unterhalten wollte. Warum in aller Welt mit mir? Frau Jakobs ist doch diejenige, die Stress macht!
"Die Nora ist nicht da!" rief Adele bedauernd. "Das ist bei ihr ungewöhnlich. Normalerweise ruft sie immer an und meldet sich krank, wenn etwas sein sollte. Ich werde mal bei unserem Chef nachfragen, vielleicht, weiß der etwas."
Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und schaltete das Radio an.
"Und nun bei Berlin Radio 88.8 die Stadtnachrichten: Am gestrigen Abend, um 20.30 Uhr wurde eine Frau Höhe "Südkreuz" von der S-Bahn überrollt. Man spricht von Selbstmord. Die Leiche konnte noch nicht näher identifiziert werden."
Ich ließ meinen Kugelschreiber fallen. Die Haut spannte über meinen Wangenknochen, mein Herz pochte.
"Ob das Frau Jakobs war?", überlegte ich. "Sie hat den geplanten Rausschmiss aus dem "Kristall" nicht verkraftet und sich umgebracht."
Mir war kalt.
Es klopfte an der Tür und Adele trat ein. Ihr Blick war kühl und abweisend.
"Michelle, Herr Hansen möchte dich sofort sprechen."
"Warum?" fragte ich irritiert.
"Es sieht leider nicht so gut für dich aus" antwortete Adele und zog energisch die Tür hinter sich zu, als sie das Zimmer verließ.
Ich räumte meinen Schreibtisch und gab meinen Büroschlüssel beim Pförtner ab. Das Architekturbüro "Kristall" hat mir kein Glück gebracht.