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Frau Süd hört zehn Minuten zu
Frau Süd hört zehn Minuten zu
Frau Süd steht in ihrem Bad und hört Geschrei. Das Summen ihrer elektrischen Zahnbürste kann die Geräusche aus der ersten Etage nicht verdrängen.
Es ist Dienstag, 23.30 Uhr und es sind Männerwutschreie.
Sie schaltet die Zahnbürste aus, legt den Kopf in den Nacken und staunt: Da über ihr tobt Wut.
„Du, du hast doch keine Ahnung wie die Leute sind! Was glaubst du denn eigentlich? Ja,ja,ja, unsere liebe Lorena läuft doof durch die Welt und haucht 'aber die Menschen sind doch so nett!' Du hast doch gar keinen Plan! Weißt du, wie das ist, wenn ständig Leute in meinem Büro sitzen und mich mit dummen Zeug vollquatschen?“
Frau Süd -mit der ausgeschalteten Zahnbürste noch in der Hand- steht bewegungslos vor ihrem Waschbecken.
Seit Monaten wohnt sie in diesem Haus und hat außer einem Staubsauger noch nie ein einziges Geräusch aus der Nachbarwohnung gehört. Jedes Wort kann sie jetzt verstehen, jedes verdammte Wutwort! Sie nimmt wahr, wie sich auf ihren Unterarmen die zarten Härchen aufstellen. Eine besondere Art der Musik kann so eine Reaktion auch bei ihr auslösen. Dann kribbelt es sie wonnig-wohlig überall auf der Haut, nur für einen kurzen Moment. Aber das Aufrichten der Haare in diesem Moment, das hat nichts mit dem Gefühl zu tun, das sie gut kennt. Das hier ist Entsetzen und es schießt ihr bis in die Haarspitzen.
„'Aber ich will doch nur alles richtig machen', sagt unsere sanfte Lorena!“ schreit er jetzt in einer Art, die Frau Süd an den bösen Wolf erinnert, der im Märchen Kreide frisst.
„Mach doch mal meinen Job! Aber nein, Du kannst ja immer nur fordern. Lorena will dies, Lorena will das! Du kotzt mich an, weißt du das! Ich habe die Schnauze derart voll von dir!"
Ohne Zweifel, Frau Süd ist gleichzeitig fasziniert und geängstigt von dem Geschehen über ihr. Sie hat jetzt die Wahl: Sie kann sich die Ohren zuhalten und ein Lied singen, ganz laut, so wie es kleine Kinder im Keller tun, die böse Geister vertreiben wollen. Sie kann sich ihren Kopfhörer aufsetzen und laute Musik hören, bis das Getöse verstummt.
Doch das Geschrei da oben zieht Frau Süd magnetisch durch ihre baugleiche Wohnung, von Zimmer zu Zimmer.
Jetzt läuft er vom Bad in den Flur, jetzt in die Küche, in das Wohnzimmer.
Seine Stimme überschlägt sich immer wieder, 'unglaublich, dass es da noch eine Steigerung gibt', denkt Frau Süd. Zwischendurch kann sie eine hellere, dünnere Stimme hören, doch sie versteht kein Wort. 'Seine Frau' denkt sie, 'immerhin antwortet sie ihm'. Wahrscheinlich schreit auch seine Frau, aber sie hat nicht so viel Kraft in ihrem Körper, denn erst vor drei Tagen wurde sie von einem Jungen entbunden. Der Säugling liegt auf der Intensivstation mit einer Infektion und sie ist gerade heute entlassen worden. Frau Süd hat sie heute nachmittag im Flur getroffen, als die große, dunkelhaarige Frau mit sehr blassem Gesicht eine schwere Tasche die Stufen zur ersten Etage hochschleppte. Ihre kleine, sechsjährige Tochter empfing sie still an der Tür.
„Ich bin abgehauen?ICH? ICH? ICH bin SCHULD?“ Jetzt ist er entfesselt. Läuft schneller durch die Räume. „Abgehauen!? Ha! Während du auf deinem fetten Hintern hier rumgesessen hast. Ich-abgehauen! Du hast sie nicht mehr alle. Immer nur SCHULD! Verpiss dich doch aus meinem Leben!“
Frau Süd hat jetzt Angst. Sie sorgt sich um die Frau über ihr und ist unschlüssig, was sie jetzt tun soll. Dieser Mann hat Gewalt in seiner Stimme und er ist stark. Sie stellt sich vor, wie er seine geschwächte Frau an eine Wand drängt. Sie stellt sich vor, dass er ein Messer aus der Schublade zieht. Sie stellt sich vor, dass er blindwütig zustößt. Frau Süd hat Phantasie.
Und dann das kleine Mädchen dort oben, von dem sie nichts hört. Kein Weinen, kein Rufen.
Frau Süd ahnt, was das Kind jetzt wahrscheinlich macht: Es liegt in einer selbstgebauten Bett-Höhle, kneift die Augen zu, summt ein Lied und dann wird dieser Sturm an ihr vorbeibrausen. Vielleicht denkt das Kind: „Lass Papa nicht hereinkommen, lass Papa bitte, bitte nicht so wütend hereinkommen!“
Er dort oben steigert hörbar sein Lauftempo, Frau Süd ebenso.
In der Küche : „Ich habe doch dieses Scheiß Baby nicht gewollt! Das hast du dir doch eingebrockt!“ Schlafzimmer: „ Weißt du eigentlich, wie hoch wir verschuldet sind? Wegen dir und deinen Scheiß Kindern, die du mir ins Nest gelegt hast?“ Flur: „Na und? JA, ich vögel sie ab und zu.“ Jetzt ihre Stimme, weinend, unverständlich. Dann wieder er: „Und weißt du was? Ich tue es leidenschaftlich gerne!“ Wohnzimmer. „Was glaubst du, was mir deine Meinung am Arsch vorbeigeht!“
Die hellere Stimme schluchzt jetzt heftig. Das kann Frau Süd deutlich hören und sie wird zu einem kurzatmigen Wesen aus Furcht, Wut, Erschrecken und Mut. Sie greift fast unbewusst ihren Schlüssel und als sie das kühle, klimpernde Metall in der Hand hält, beschließt sie dort oben zu klingeln.
Sie steht im Flur, das Geschrei dröhnt durch das Treppenhaus. Sie steigt die ersten sechs von dreißig Stufen nach oben. Plötzlich ist es still. Das Flurlicht verlöscht. Frau Süd steht auf der sechsten Stufe in Richtung Norden im nächtlichen, kalten, dunklen Treppenhaus. Sie steht in völliger Stille.