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Frau Weiler
Frau Weiler
Die Morgensonne ließ den Tau auf den Wiesen glitzern, als hätte Gott aus vollen Händen Edelsteine übers Land gestreut. Eine kaum spürbare Brise spielte mit den Blättern der hohen Bäume. Es würde wieder ein warmer Herbsttag werden.
Klaus Weirich hatte seinen Wagen am Rande der schmalen Landstraße im Schatten einer Buschreihe geparkt und beobachtete das Anwesen. Stolz lag das alte Herrenhaus am Ende der imposanten Zufahrt. Obwohl es schon bessere Zeiten gesehen hatte, ließ es noch immer seine besondere Bedeutung in der Vergangenheit erahnen.
Weirich sah das nicht. Für ihn waren die Preise pro Quadratmeter wichtig, Vermarktung und Baugenehmigungen. Hier würde er seinen großen Wurf landen. Ein paar kleinere Geschäfte hatte er schon mit Erfolg abgewickelt. Seine Devise lautete: Konsequente Planung und hartes Vorgehen! Das waren die Schlüssel zum Erfolg und derer würde er sich hier bedienen. In der Stadt hatte er Bebauungspläne eingesehen, mit Beamten gesprochen, war in den Kneipen aufgetaucht in denen die führenden Persönlichkeiten der örtlichen Wirtschaft verkehrten und hatte dabei interessante Kontakte geknüpft. Aber das Wichtigste war, dass er Informationen erhielt, die im Rathaus unter striktem Verschluss lagen. Das alte Herrenhaus hier außerhalb des Ortes war begehrt, das wusste jeder. Dass es aber bereits konkrete Pläne gab, war nicht allgemein bekannt und genau da wollte er mitspielen.
Jedesmal, wenn er herkam und das Haus betrachtete, drängte seine Phantasie die Realität in den Hintergrund und alles erstrahlte in noblem Schein. Die Anlage vor dem Haus mit den mächtigen blühenden Hecken war einem Parkplatz gewichen, auf dem teuerste Karossen standen. Die mächtigen Bäume waren fort und ließen den Blick frei auf weite, gepflegte Ebenen, grüne Hügel und sandige Flächen. Da waren Stangen mit Wimpeln und hier und da, fast verloren, auch Menschen, die ihre Caddies zogen oder sich auf den nächsten Schlag vorbereiteten.
Das Problem war nur, dass die alte Frau, der hier alles gehörte, nicht die Absicht hatte, zu verkaufen. Dieser Gedanke holte den Geschäftsmann wieder in die Wirklichkeit zurück. Einen Besuch hatte er schon gemacht und war auf Granit gestoßen. Heute wollte er den zweiten Versuch starten und den weiteren Verlauf vorbereiten. Sie würde verkaufen! Mit sattem Brummen startete der Motor und der schwere Wagen rollte langsam über die Zufahrt auf das Haus zu. Seitlich von der breiten Eingangstreppe parkte er und stieg die Stufen zur schweren, hölzernen Eingangstür hinauf. Bevor er läutete, prüfte er noch einmal den korrekten Sitz seiner Kleidung. Der Anzug war dunkel und teuer und spannte sich perfekt über die muskulösen Schultern. In den Glasscheiben der Tür spiegelte sich sein breites Gesicht mit den tief liegenden Augen. Eitel strich er über sein streng gescheiteltes Haar und war zufrieden. Weirich zog an einem eisernen Griff, dessen Gestänge am Torbogen hinauf und in das Gebäude führte. Von innen hörte er den entfernten Schlag einer Glocke. Nach einer geraumen Weile wurde unter leisem Quietschen einer der beiden, schweren Türflügel aufgezogen.
Die alte Frau war geblendet vom hellen Licht der Morgensonne und kniff die Augen zusammen. Charlotte Schlicht war eine kleine, zierliche Person, der man die fünfundsiebzig Jahre durchaus ansah. Trotz alledem wirkte sie nicht gebrechlich, sondern auf eine besonders freundliche Weise lebhaft und wachsam. „Sind Sie nicht der junge Mann, der neulich schon einmal hier war?“ Sie lächelte wohlwollend zu dem Mann hinauf, der vor ihr stand wie ein Riese vor seinem Opfer. „Genau, wir hatten über Ihr Haus gesprochen und ich hatte Ihnen ein Angebot gemacht, das sie leider zunächst ausgeschlagen haben.“ „Richtig.“ Charlotte Schlicht lächelte immer noch zu dem Hünen hinauf. „Einen alten Baum verpflanzt man ja nicht mehr. Was kann ich also für Sie tun?“ „Ich weiß und ich habe auch nicht vor, Sie zu bedrängen.“ Auch Weirich lächelte, doch statt Freundlichkeit strahlte er eine bösartige Gewissheit aus. „Ich wollte Sie nur von Entwicklungen in Kenntnis setzen, die Ihre Entscheidung beeinflussen werden.“ Frau Schlicht hob neugierig die Augenbrauen und war gespannt. „Man hat beschlossen, hier in der Nähe ein Heim für Kriminelle zu bauen. Menschen, die vorzeitig aus dem Knast entlassen werden und die man hier wieder in die Gesellschaft eingliedern will.“ Auf dem alten Gesicht zeigten sich nun doch leichte Sorgenfalten. „Wann soll das geschehen und wo?“ „Unmittelbar hier in der Nähe ist ein Bauplatz ausgewiesen worden. Wann mit dem Bau begonnen wird, weiß ich nicht aber man hat bereits einige dieser Leute im Ort untergebracht.“ Weirich machte eine kleine Pause und fügte in theatralischem Ton fort: „Ich an Ihrer Stelle würde mich hier nicht mehr sicher fühlen.“ Für Sekunden herrschte Schweigen.
Weirich wartete gespannt auf eine Reaktion. Jede besorgte Regung seines Gegenübers nahm er mit heimlichem Triumph zur Kenntnis. Doch dann schien in der alten Frau urplötzlich eine Veränderung vorzugehen. Die alten Schultern strafften sich und stolz hob sie den Kopf. „Nein. ich werde diese Menschen nicht vorverurteilen. Sie sollen eine Chance bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir etwas passieren könnte.“ Sie wirkte jetzt fast trotzig. „Ich bin ja nicht allein. Frau Weiler ist ja auch noch da und schon allein ihretwegen kann ich hier nicht weg. Sie würde es nicht verstehen.“ Hinter der Frau, im Schatten der Diele, nahm Weirich eine Bewegung wahr. Aus dem Dunkel trat eine Frau mittleren Alters. Sie hielt eine Plastikschüssel in den Händen und trug ein Handtuch über der Schulter. Einen Augenblick blieb sie stehen und musterte den fremden Mann mit ernstem Blick. Als sie von der Hausherrin bemerkt wurde, wandte sie sich ab und verschwand wieder im Dunkel.
Weirich nahm das Gespräch wieder auf: „Ich hoffe für Sie, dass Sie Recht behalten. Auf alle Fälle werde ich mich in den nächsten Tagen wieder bei Ihnen melden.“ Er wandte sich zum Gehen und blieb auf der untersten Stufe kurz stehen. Doch bevor er etwas sagen konnte, kam ihm die alte Frau zuvor und erklärte, fast als wolle sie um Verständnis bitten: „Wissen Sie. Frau Weiler ist stumm. Ihre Stimmbänder, verstehen Sie? Wir sind eben zwei, mit denen man nicht mehr viel anfangen kann. Aber hier sind wir glücklich.“ Weirich nickte grinsend. „Wissen Sie, Frau Schlicht. Die Menschen sind nicht gut. Denken Sie darüber nach.“
Charlotte Schlicht sah mit ernster Miene zu, wie die schwere Limousine das Grundstück verließ und in Richtung Stadt davonfuhr. Nachdenklich ließ die alte Frau ihre Blicke über die weite Landschaft schweifen, die sie so sehr liebte. Abgeerntete Getreidefelder lagen in goldenem Schein hinter wilden Buschreihen, grüne Felder und in der Ferne der dichte Wald. Nie würde sie fortgehen.
Durch ein Geräusch aufmerksam geworden, wandte sie sich um. Die andere Frau war an die Eingangstür herangetreten. Sie hielt eine große Tasche in der Hand und wirkte sehr ernst. „Ich habe Teile Ihres Gespräches mit angehört. Sie sollten diesem Typen nicht trauen. Ich komme in ein paar Tagen wieder. Seien sie bis dahin bitte vorsichtig.“ Danach stieg sie die Eingangstreppen hinunter und verschwand seitlich hinter dem Haus. Kurz darauf knatterte ein Kleinwagen mit der Aufschrift eines Pflegedienstes vom Grundstück und fuhr davon.
Zwei Tage später stand Weirichs Wagen wieder in der Nähe des Landhauses. Es war bereits nach zwanzig Uhr und die Sonne senkte sich langsam hinter die Hügel. Vor wenigen Minuten war ein Taxi zum Eingang des Hauses gefahren und hielt dort. Weitere Einzelheiten konnte er aus der Entfernung nicht erkennen. Es dauerte nicht lange und der Wagen verließ das Anwesen wieder.
Weirich war zufrieden. Alles lief wie geplant. Die Frauen hatten anscheinend die Einladung einer Seniorenorganisation, die es in Wirklichkeit gar nicht gab, angenommen.
Das Haus stand jetzt still und verlassen da. Um sicher zu gehen, dass sie es sich nicht noch einmal überlegten, blieb er noch eine Weile sitzen. Dann machte er sich zu Fuß auf den Weg. Er hatte sich verändert. An Stelle seines teuren Anzuges trug er jetzt dunkle Jeans, Turnschuhe und eine kurze, schwarze Jacke. Er bewegte sich in den Schatten der Sträucher. Als er die Grundstückszufahrt erreicht hatte, hielt er inne und beobachtete das Haus. In den dunklen Fenstern spiegelte sich die Landschaft mit dem Restlicht des Tages. Nichts rührte sich. Alles war still. Obwohl niemand da war, der ihn hätte hören können, setzte er jeden Schritt äußerst vorsichtig. Leise knirschte der Kies unter seinen Sohlen. Bevor er aus der Deckung der hohen Hecken hervor und zur Eingangstür trat, beobachtete er erneut die Umgebung. Geräusche irritierten ihn. Es war nicht vollkommen still. Ständig vernahm er Rascheln. Zweige schienen unter leisen Schritten zu brechen. Da war Flüstern, Zischen und leises Rufen. Es waren die normalen Geräusche der hereinbrechenden Nacht. Er wusste das, doch seine Nerven waren zu angespannt, als dass er es einfach hätte ignorieren können.
Das Schloss der Tür war alt, doch unerwartet stabil und wohl recht gut gesichert. Zunächst versuchte er, es mit einem Schraubenzieher aufzubrechen, aber nach wenigen Augenblicken gab er auf. Er stieg die Eingangstreppe wieder hinunter, schlich an der Vorderfront des Gebäudes entlang und prüfte jedes Fenster. Alle waren verschlossen.
Er bog um die Ecke und erstarrte augenblicklich. Eine Bewegung, die er nur flüchtig wahrgenommen hatte, ließ sein Herz bis in den Hals hinauf schlagen. Alles war ruhig. Dann war da wieder diese Bewegung und er entspannte sich. Ein Kaninchen hoppelte zwischen den Beeten umher und verschwand im Garten.
Auch an dieser Gebäudeseite fand Weirich kein offen stehendes Fenster, aber das machte nichts. Diese Hausseite lag im Dunkeln. Von der Straße würde niemand so schnell ein zerschlagenes Fenster entdecken. Er wollte schnell hinein, die übliche Unordnung eines Einbruchs anrichten, ein paar Wertgegenstände mitgehen lassen und wieder verschwinden.
Von einem nahen Beet holte er sich einen großen Stein, der dort zur Umrandung gehörte, holte aus und warf.
Den Krach des splitternden Glases und das Poltern im Haus hatte er sich nicht so laut vorgestellt. Der Schall wurde in der Nacht weit getragen und die nervliche Anspannung zog ihm mit Macht durch die Glieder. Er wollte schnell wieder weg. Es war kein Problem, auf das Fenstersims zu klettern, von innen die Verriegelung zu lösen und den leeren Rahmen mit den Scherbenresten aufzustoßen. Der Raum lag in völligem Dunkel. Für einen kurzen Moment irritierte ihn der sonderbare Geruch, der ihm entgegen schlug. Nach wenigen Atemzügen gelang es ihm die Aromen zu trennen. Würziger Kuchenduft mischte sich mit dem, frischen Gemüses und herzhaftem Braten, eingehüllt in die scharfe Würze von Essig. Es war also die Küche die vor ihm lag.
Mit einem Satz sprang er vom Sims in den Raum, kam unglücklich auf und stürzte, begleitet von lautem Scheppern, auf den Boden. Den Schmerz, der urplötzlich durch sein Bein schoss, nahm er kaum wahr, denn da war ein Geräusch, das nicht aus diesem Raum kam.
Er versuchte, wieder aufzuspringen, drehte sich und erkannte einen Napf, auf dem er ausgerutscht war. Auf dem Boden verstreut lagen Fleischstücke. Die unsagbare Panik, die jedes Handeln lähmte und Geist und Körper zu einer tauben, willenlosen Einheit verschmelzen ließ, kam in diesem winzigen Augenblick, in dem er mit dem letzten Dämmerlicht die Aufschrift auf dem Napf erkannte, das Poltern der auffliegenden Tür den Boden erzittern ließ, und sich ein mächtiger Schatten mit sonderbar leisem Gurren aber gewaltigen, schnappenden Kiefern auf ihn stürzte.
Frau Weiler.