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Freche Gören

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02.09.2010
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Freche Gören

Im Jahr 1940, so berichtet es meine Mutter, brach die Familie nach Mekka auf, denn erstmals hatte man reichlich zu essen und genug des Geldes für die Reise. Jedenfalls bis Aleppo. Dort lebte ein Bruder meiner Großmama, welcher eine Handvoll Kamele besaß. Bis Syrien rutschte die Familie, samt Hühnern, Ziegen und anderem Proviant, auf der Lade des Lastwagens herum. Großmutter war damals sechzig und rief bei jeder Mulde, derer es reichlich gab, ‘Allah, Allah’. Sie ahnte nicht, was noch kommen würde! Drei Monate schaukelte sie auf dem Kamel durch flimmernde Hitze. Mekka schien ihr so fern wie das Paradies dem Halunken. Großmutters Ankunft in Mekka möge ihm Hoffnung geben!
Als es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren, fiel die Großmutter auf die Knie, schrie und tobte, sie wolle in Mekka bleiben. ‘Aber Mama’, sagte meine Mutter, ‘das geht doch nicht, wovon willst du denn hier leben, wir haben kein Geld, das wir dir schicken könnten.’ Das arme Weib gab zur Antwort: ‘Lieber verhungere ich, als diese Strapazen noch einmal zu ertragen, ich werde die Böden der Moscheen schrubben, den Alten und Dicken die Füße waschen und von Almosen mein Dasein fristen. Alles besser als zu reisen!’ Stellt euch vor, sie mussten ihr die Hände binden, sie schnallten sie mit Gewalt auf das Kamel!

Meine Töchter werden schon zimperlich, wenn sie die Stadt durchqueren sollen. Dann erzähle ich diese Geschichte. Und was antworten die frechen Gören?
“Vater, wie du redest! Kein Mensch spricht mehr wie du! Dein Türkisch stammt aus dem vorletzten Jahrhundert!” Und dann hacken sie auf ihre Geräte ein, als wären es widerspenstige Klaviere.
“Unter dicke Bäuche gebeugt, schmutzigen Füßen geduldig und glücklich dienend”, sage ich trotzig.
Niemand hört es, sie haben wieder diese Stöpsel im Ohr.
Schon gut, ich halte das Maul.

 

Hallo hula hoop,

ist das die türkische Variante von "Damals hatten wir es viel schlechter" oder "Ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr es habt"? Das sind doch die Geschichten, die schon uns als Kinder genervt haben, als könnten wir etwas dafür, dass die Oma auf dem Kamel beschwerlich nach Mekka reisen musste.
Oder ist es die andere Klage, die über die Jugend von heute, die immer nur vor dem Monitor /der Mattscheibe sitzt, ihren Stöpsel im Ohr hat und von uns Alten nichts mehr wissen will?
Die Wertung steht natürlich schon vorher fest, natürlich müssen die Gören, die sich für derlei Gewäsch nicht interessieren, frech sein. Und damit man es ja auch so empfindet, schreibt es der Titel zur Sicherheit vor.
Stilistisch ist ja zu dem Text wenig zu sagen, alle Klischees von den Kamelen über die Hühner bis zur wortreichen Klage kommen vor und fangen das ein, was wir Europäer uns unter dem Klima der arabischen Welt vorstellen.
Aber inhaltlich haut hier nicht nur eine Moralkeule sondern gleich ein ganzer Moralbrückenpfeiler zu. Wie schade, denn du kannst doch schreiben.

Liebe Grüße
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Sim! Ich gebe zu, die Geschichte ist nicht ganz meinem Kopf entsprungen. Mir wurde das gestern hier (in der Tuerkei, was sonst: beim Tee) erzaehlt, ich fand es lustig und hab's schnell aufgeschrieben (mit Genehmigung des Erzaehlers - und der heisst auch noch Mustafa und sieht auch noch so aus!) Manchmal sind Klischees einfach wahr, auf Einzelne oder Augenblicke bezogen. Dennoch oder gerade deshalb ist dein Eindruck nicht unberechtigt. Was nutzt dem Verfasser die Behauptung, er schreibe ueber Laender, die er nicht mal eben schnell als Tourist bereiste, sondern wo er jahrelang gelebt. Oh ja, die Tuerkei-Tuerken (womit ich nichts ueber im Ausland /Deutschland lebende sagen will, nur, die kenne ich nicht besonders) sind ganz anders als der arrogante Mitteleuropaer sich das so vorstellt. Nein, man traegt an der Uni kein Kopftuch und es gibt viel mehr Professorinnen als bei "uns" ... Liste kann fortgesetzt werden. Doch leiden hier manche (und das sind nicht wenig)- wie ueberall daran - , dass in den Familien das Erzaehlen nicht mehr so geschaetzt und gepflegt wird wie frueher (denn die Orientalen reden gern! Keinen Tratsch und Gehetze wie bei uns Deutschen, jaja). Und spaetestens seit Atatuerks Sprachreform fuehlen die Alten und die, die noch von den Alten lernten, die Entfremdung von ihrer Sprache. Das ist mit der Sprachgeschichte der Deutschen nicht zu vergleichen. - Das Osmanische nachahmen, ja, das kann ich nicht. Das ist auch furchtbar schwer und war der Anspruch nicht und uebersteigt meine bescheidenen Mittel. Keinesfalls aber wollte ich moralisieren. Der Titel "Freche Goeren" schreibt nichts vor, er ist ironisch. Mustafas Problem nehm ich hingegen ernst.

 

Hallo hula hoop,

ich seh die Geschichte im Gegensatz zu sim als ein Ironisierung des Volksmundes, der da behauptet, früher wäre alles besser gewesen. Da hatten wir noch einen Kaiser, der heftig für Frieden sorgte und man konnte noch im Dunkeln auf die Straße gehn ...

Bisschen Kleinkram:

..., fiel die Großmutter auf die Kniee,
"auf die Knie", "knieen" sah ich das letzte Mal in einem Brief von Theodor Storm ... ach, wat bin ich wieder lustich!, seitdem ists e wohl abgescheuert ...

“Vater, wie du redest! Kein Mensch spricht mehr wie du! Dein Türkisch stammt aus dem Steinzeit!”
, da es nun weder Türkisch noch Teutsch gab.

Vergnügt gelesen vom

Friedel

 

Hallo hula hoop,

jetzt, da ich deinen Intention zu dem Text kenne, kann ich auch etwas konstruktiver sein. ;)
Ich fürchte, gerade wenn es um die orientalische Erzählkultur geht, liegt der Knackpunkt des Missverständnisses in der europäischen Kürze deiner Geschichte.
Als leidenschaftlicher Leser Rafik Shamis weiß ich (auch wenn der ja aus Damaskus stammt) die orientalische Erzählkultur sehr zu schätzen. Um das zu erreichen, wäre es allerdings meiner Meinung nach sinnvoller gewesen, den Teil der von der Großmutter erzählt, auszubauen und dafür auf die Töchter zu verzichten. Die Moral kommt ja durch die Wertungen (zimperlich), die damit verbunden sind. Die Reaktion der Töchter und dein Anliegen könntest du vielleicht besser treffen, wenn sie (wie bei Jugendlichen üblich) die längere Erzählung einfach unterbrechen und, da sie sie ja schon häufiger gehört haben, abkürzen, in dem sie das Ende in neuer Sprache herunterleiern. Dann brauchst du auch keinen Anlass, aus dem die Geschichte immer wieder mal erzählt wird, sondern kannst es dabei belassen, dass deine Erzählerin einfach gern erzählt und sich das nicht nehmen lassen möchte.

Liebe Grüße
sim

 

Danke sim, danke friedrichard!
Lieber Friedrichard, diesmal habe ich keine “hessische” (hessiche) Ausrede, dem Steinzeit sagt man auch bei uns nicht. Das dem deutet an, dass zuvor dort stand, was ich nun wieder einfuege: dem vorletzten Jahrhundert, wenngleich deine Erkenntnisse mir gaenzlich neu waren.
Damaskus im Herzen und Deutschland im Sinn, lieber sim, - sag ich bloß, um zu reimen und zu zeigen, dass ich “Den aus Damaskus” auch kenne. Ohne Streiterei keine Versoehnung! Im Einstecken bin ich nicht zimperlich, nur her damit! Wenn's einem gar nicht passt, kann man sich wehren: Ein Text hat so viele Deutungen wie Leser. Was ihr beiden hier bewiesen habt. Oder? Eure hula hoop

 

Hallo zusammen,

also mir kommt der Text auch nicht moralkeulig vor. Dazu scheint er mir zu ironisch. Die Geschichte der Grossmutter ist ja lustig, nicht ernsthaft tragisch und damit untergraebt der Text gegen den eigenen Erzaehler eben auch die moralische Wertung "verzogene Goeren".

So kam es zumindest bei mir an. Ich wuerd nix aendern. Ausser das hier:

Und dann hacken sie auf ihre Geräte ein, als wären es widerspenstige Klaviere.

lg,
fiz

 

Liebe hula hoop,

also, ich sehe den Text auch nicht als Moralkeule, höchstens ein kleinwenig. Ich habe ihn eher als Generationskonflikt gelesen, denn das, was der Vater mit seinen Töchtern erlebt, ist ja bei der heutigen Jugend allgegenwärtig ("Stöpsel in den Ohren"). Seine eigene Jugend hat er aber ganz anders erlebt, da musste man sich richtig anstrengen und schinden, um das Ziel (in dem Fall Mekka) zu erreichen.

Ich sehe die Geschichte als kleine Anekdote für zwischendurch, die ich eigentlich gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
Giraffe :)

 

Lieber feirefiz, juhu, hier kennt jemand die Unterscheidung zwischen Text (der mehr zu erkennen gibt als der, der spricht)und Erzaehler (der mehr sagt, als er intendiert oder weiss)!
Liebe Giraffe, ja, ein Anekdoetchen, mehr nicht. Danke euch beiden!

 

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