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Freie Fahrt
"Achthundert Watt und eine Saugkraft, dass, dass,..." Es will einfach nicht in meinen Schädel rein. Morgen ist Vorsprechen und ich habe erst die Hälfte dieses blöden Werbetextes im Kopf. Unten steht meine neue, 120 PS starke Errungenschaft und ich büffle hier alberne Werbesprüche. Riesige Saugkraft, ultramodernstes Design, Zubehör bis zum Abwinken, Blabla. Der Staubsauger des Jahrhunderts mit noch mehr Leistung und leiser als alle anderen. So ein Quatsch. Ein Motor muss dröhnen, muss seine Kraft herausposaunen. Aber bei einem Papiersack in Plastikschale, angetrieben vom Achthundert-Watt-Motor, ist das was anderes. Ist die Garantie vorbei, ist das Ding auch schon entzwei. Egal, gibt sowieso wieder einen neuen. Mit noch mehr Saugkraft und Tausend-Watt-Motor zum sensationellen Einstandspreis.
Ich habe die Schnauze voll, will nach draussen, will den Wind spüren, die Natur durchs offene Visier riechen. Am Gashahn drehen, flankiert von leuchtend weissen Seitenstreifen den schwarzen Asphalt hinunterjagen.
In die Bremsen steigen, bodennah durch die Haarnadelkurven ziehen. Der Geruch von Gummi und Öl vermischt mit Tannennadelduft weht durch meinen Kopf. Ein Blick durchs Fenster verrät mir, jetzt oder nie. Ich schleudere das Textbuch aufs Bett. Zum Teufel mit dem Auftrag, ich melde mich krank, morgen. Heute will ich geniessen. Während ich mir das Leder überziehe, fällt die Anspannung des Tages langsam von mir ab und ein Gefühl der stillen Vorfreude ergreift meinen ganzen Körper. Die Stiefel sitzen wie angegossen. Mit Helm und Handschuhen bewehrt schreite ich zu meinem Motorrad. Silbern schimmert der Chrom in der Abenddämmerung, ein Bild wie aus dem Prospekt.
Zündung ein, Gang raus. Starten. Der Motor beginnt zu leben, ich beginne zu leben. Das Zittern und beben lässt mein Herz höher schlagen. Gang einlegen und raus aus der Stadt. Auf dem Autobahnzubringer sind nur wenige Fahrzeuge vor mir. In rascher Folge schalte ich mich durch das 6-Gang-Getriebe durch und erreiche rasch die Höchstgeschwindigkeit. Glückseligkeit macht sich in jeder Faser meines Körpers breit.
Nach dem Tanz am Limit drossle ich wieder das Tempo, stelle den Blinker und fahre von der Autobahn runter. Am Fusse der sich ins Hinterland erstreckenden Hügelkette beginnt sogleich der zweite Spass. Konzentriert lasse ich mein Sportgerät hin und herpendeln, ziehe durch die Kurven wie ein Rennfahrer, immer mit dem Blick nach vorne. Hinten ist Vergangenheit, hinten liegen Textbücher und Achthundertwattstaubsauger, aber vorne, da liegt das Leben und ich ziehe hinein mit voller Kraft.
Ich fahre vorbei an langen, warmen Kornfeldern. Vorbei an wohlriechenden Wiesen und durch kleine Wälder. Die Sonne strahlt ihr letztes Geleit und die laue Sommernacht breitet langsam ihren kühlenden Teppich übers Land. Ich tauche ein in die letzten Kurven. Gleich bin ich wieder zu Hause. Es war schön. Achthundert Watt und eine Saugkraft, dass, dass, wie war das noch gleich? Plötzlich taucht ein Lastwagen vor mir auf und reisst mich aus meinen Gedanken. Die sind definitiv nicht auf der Strasse und ich fahre definitiv auf der falschen Seite. Ich sehe eine nackte Frau auf azurblauem Hintergrund, daneben einen heulenden Wolf, und dazwischen, drohend und glänzend einen riesigen Mercedesstern. Reflexartig mache ich eine Vollbremsung. Alle Sinne sind geschärft. Ich höre das Dröhnen des Kompressorhorns, die quietschenden Reifen, protestierende Getriebe, das rhythmische Schlagen meines blockierten Hinterrades. Alles scheint in Zeitlupe abzulaufen.
Das Vorderrad rutscht weg, ich lasse die Bremse wieder los, drehe den Lenker in Gegenrichtung. Die plüschgefütterte Führerkabine dieses 40 Tonnen Palasts auf Rädern kommt unaufhaltsam näher. Viel zu schnell. Ich sehe noch die weit aufgerissenen Augen des Fahrers, dann rutscht mein Motorrad endgültig weg und findet überraschend wieder Halt. Den Gesetzen der Physik gehorchend katapultiert es mich über den Lenker. Ein Gefühl des Schwebens stellt sich ein, während ich kopfüber in der Luft hänge. Ich sehe die untergehende Sonne, verkehrt herum wie ein blutroter Tropfen am dunklen Horizont. Der Aufprall lässt die Sonne in meinem Kopf explodieren und gleissendes Licht überstrahlt die Welt.
Vorgegebene Wörter waren: sommernacht, 6-gang-schaltung, schweben, palast, textbuch