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Freie Liebe in den USA
Damals, am College in Athens, Georgia, war Scott für die Freie Liebe - wenigstens, solange man jung ist und sich noch nicht binden will. Er studierte versuchsweise zwei Semester Politikwissenschaft. Hauptsächlich spielte er aber Football, warf sich mitten in die Reihen der Gegner, donnerte den Ball in den weiten Raum oder brach plötzlich unter heranstürmenden Körpern zusammen, wie ein Boxer unter einer Serie von Schlägen. Immer belebte ihn das Geschrei der Zuschauer, dazu die rhythmisch-abgehackten Bewegungen der Cheerleader, wenn sie riefen:
Do it! Do it! One-Two-Three
Do it! Do it! One-Two-Three
Do it! Do it! One-Two-Three
Er dachte später oft an eine Party im Bungalow reicher Leute. Sechzig oder siebzig College-Kids! Scheinwerfer erhellten den Garten, die Bäume, den Swimmingpool. Alle trugen weiße T-Shirts und kurze Hosen, an den nackten Füßen Sandalen oder Flip-Flops.
Zur Begrüßung küsste Scott jedes Mädchen auf den Mund. Eine Stimme in ihm raunte: Was immer du willst! Feuchte und glitschige Zungen berührten einander, jagten Stromstöße durch Nervenbahnen. Cool bleiben! Seine Hände tasteten nach Brüsten unter den T-Shirts mit griechischen Buchstaben der Studentinnenverbindungen. Es erregte ihn seltsamerweise, das bei Mächen zu tun, die er gar nicht attraktiv fand...
Als es dunkel wurde, trugen sie einen Haufen Feuerholz und altes Gerümpel auf den peinlich akkurat gestutzten Rasen und zündeten ihn an. Die Hitzeentwicklung war erstaunlich! Rund um das Feuer gruppierten sich alle mit Budweiser-Flaschen in den Händen. Ein Windstoß blies die Hitze auf eine Gruppe Mädchen zu, die kreischend auseinanderlief.
Neben Scott stand ein Typ namens Jules: Gebräuntes Gesicht mit markanter Nase, dürre Arme mit ebenso dürren Fingern, die eine Bierflasche hielten. Er sagte: "Ich bin für die Freie Liebe, Mann! Die Leute hätten weniger Probleme, wenn sie öfter bumsen würden. Besonders die Weiber."
Die Flammen beleuchteten flackernd Scotts Gesicht, als er die Augen zusammenkniff.
Das Mächen, mit dem er in eines der Gästezimmer ging, hieß Holly J. Bridges. "J" für "Justice". Sie war groß und athletisch, mit gelocktem Haar. Sie roch nach Sonnenöl. Wenn er sie dort unten streichelte, stöhnte sie, aber als er seinen Finger in sie schob, packte sie seine Hand und flüsterte: "Nicht!"
Nicht vor der Ehe...
Eine Sekunde lang war Scott perplex. Er ließ sich fallen und vergrub das Gesicht in das fremde Kopfkissen (dezenter Geruch nach Weichspüler). Holly blieb sitzen. Ungeheuer stolz auf sich zog sie die kurzen Hosen hoch. Sie sagte: "Ich habe eben meine Prinzipien."
Draußen näherte sich eine Sirene. Feuerwehrleute in voller Montur packten ihre Ausrüstung aus, ehe sie einen Hydranten fanden, von dem aus sie mit Druck einen Wasserstrahl auf den lodernden Haufen richteten.
Die College-Kids sahen johlend zu, bis von dem Feuer nur nasse schwarze Asche übrigblieb.
Zwei Wochen später fragte Scott Holly J., ob sie sich vorstellen konnte, ihn zu heiraten. Vor allem, weil er zu den Marines ging - hauptsächlich, damit ihm der Staat das Studium finanzierte. Er hatte sich nämlich ein paar Gedanken gemacht, wie er einen Studienkredit jemals abzahlen sollte. Außerdem war es ein Scheiß Abenteuer!
Man muss etwas riskieren im Leben, wenn man etwas erreichen will...
Holly sagte übrigens ja.
Die Grundausbildung auf Parris Island war keine große Hürde: Harter Drill, Stress, Schmerzen, wochenlang nur fünf oder sechs Stunden Schlaf pro Nacht - das ja. Aber sie durften ihn nicht umbringen. Der Ausbilder merkte natürlich, dass ihm das alles nicht viel ausmachte.
Draußen, im Dreck, machten sie Liegestütze. Regen prasselte auf ihre Rücken, die sich hoben und senkten wie Teile einer Maschine.
"Achtung!" rief der Ausbilder. Sie sprangen auf.
"Du nicht!" Er deutete auf Scott.
"Du machst noch zwanzig mehr. Dich werd ich auch noch kleinkriegen, du renitentes Schwein!"
Und als er mit Krämpfen im Bizeps weiterpumpte, mussten ihn die Kameraden anfeuern wie die Cheerleader:
Do it! Do it! One-Two-Three
Do it! Do it! One-Two-Three
Do it! Do it! One-Two-Three
Dann kam er in den Irak. Gefühlsmäßig ging von den Unterschriften im Rekrutierungsbüro bis zur Stationierung in Karbala alles nahtlos ineinander über. Wie jeden machte ihn die Hitze fertig: 108 Grad Fahrenheit tagsüber, oder 42 Grad Celsius (was es auch nicht kühler machte).
Noch mehr störte ihn die Einstellung der Leute hier: Er riskierte sein Leben, um diesen Freaks die Demokratie zu bringen! Aber die hielten sich lieber an ihre finstere Religion, unterdrückten die Frauen, schlachteten in Hinterhöfen Tiere unter hygienischen Bedingungen, dass einem ganz schlecht werden konnte.
Hier, in Al Hillah, nervte ihn ein Muezzin, der fünfmal am Tag von einem Turm voller Einschusslöcher über Lautsprecher zum Gebet rief. Scott ging in den Schatten, um eine Pause zu machen und murmelte: "Die nächste Kugel ist für dich."
Briefe und E-Mails aus der Heimat machten das Ganze leichter. Heute hatte Jules (tallthinliar@aol.com) ihm geschrieben:
Hey Scott,
wir sind hier alle mächtig stolz auf dich, du verrücktes Arschloch!
Ich habe mich ein wenig mit deiner Frau und deiner Mom und deinem Dad angefreundet. Hier warten schon alle auf deinen Urlaub, wenn du kommst und sicher viel zu erzählen hast.
Dein Kumpel
Jules
Scott pinkelte gegen eine Mauer, die tausend oder viertausend Jahre alt sein mochte. Gleichzeitig zündete er sich eine Zigarette an.
Von einem Kontrollposten kam Geschrei: Eine Frau mit sonnenverbranntem Gesicht, das ihn irgendwie an einen Esel erinnerte, wollte sich nicht durchsuchen lassen. Sie konnte Gott-weiß-was unter ihrem wehenden schwarzen Gewand haben. Der Schleier, den solche Frauen trugen, war ein ähnliches Modell wie der von Mutter Theresa, nur in schwarz.
Scott warf die Zigarette in den Sand, richtete sein M16A2 auf die Frau und rief: "Bleiben Sie ..."
WUMMMMM!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
(Ein greller Lichtblitz, der alles vernichtete. Scott merkte noch, wie das Leben aus ihm entwich.)
Doch die moderne Medizin rettete ihn, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit.
In vielstündigen Operationen konnten die Ärzte eines seiner Augen erhalten. Sie transplantierten Haut auf sein kaputtes Gesicht, hielten die inneren Organe am Laufen. Er dämmerte lange unter dem Einfluss von Schmerzmitteln dahin, gelangte schlafend wieder in die Staaten, mit der selben Maschine, die zwei Kameraden in Zinnsärgen transportierte.
"Wie lange muss er im Krankenhaus bleiben, Doktor?" fragte Holly.
In den ersten Wochen der Rehab hatte er kaum an sie gedacht. Jetzt drängte sie sich zwischen ihn und seine ängstlich dreinblickenden Verwandten, seine Eltern und wenige Freunde, die sich im Krankenzimmer verhielten, als seien sie bei seiner Beerdigung.
Hollys Mund war ein verkniffener Strich, die Stimme verständnisvoll und doch unerbittlich. Sie war die Frau, die sich um alles kümmerte.
Scott erschrak jedes Mal, wenn er sein Gesicht im Spiegel sah: Haut wie ein Grillhühnchen! Die Haare waren weg, die Nase eine winzige Erhebung. Statt der Ohren waren da nur mehr zwei Löcher, seitlich in seinem Kopf. Im Großen und Ganzen sah er wie ein Kürbis aus, in den jemand mit mäßigem Erfolg versucht hatte, ein menschliches Antlitz zu schnitzen.
Holly war seine Krankenschwester. Sie sah jetzt ihre Aufgabe darin, ihren armen kranken Mann zu pflegen. Das tat sie mit großer Hingabe.
Sie brachte ihm eine Schale Obst, fragte: "Brauchst du noch etwas, Scotty?"
Er setzte sich auf. Die Schmerzen waren höllisch. Mit verunstalteten Händen griff er nach ihren Handgelenken und sagte heiser: "Nenn mich nicht so! Wir müssen reden..."
Ein wenig angeekelt sah sie ihn an.
Er sagte: "Holly, ich kann so nicht leben. Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir uns..."
Doch für sie kam das nicht in Frage: "Hältst du mich denn für eine von den Frauen, die ihren Mann verlassen, weil er krank und behindert ist? Nein, mein Lieber! Ich habe im Angesicht Gottes geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten bei dir zu bleiben...
Und wir wissen beide, was dir bleiben würde, ohne mich."
Sie mochte die neue Rolle. Verwandte und Freunde halfen ihr dabei, das schwere Los ("Die arme Frau!") zu tragen. Jules zum Beispiel tröstete sie, indem er über die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hochschlich, um sie dort zu beglücken...
Nicht einmal jetzt konnte Scott sich damit abfinden, dass das Schicksal, oder die Selbstmordattentäterin (oder die eigene Scheiß Regierung) ihn mit einem Tritt aus seinem Leben in ein Rest-Dasein als verunstaltetes Kriegsopfer befördert hatte. Jetzt musste er zur Kenntnis nehmen, dass die meisten Menschen Romanzen und Liebeleien nur als Zuseher verfolgen: all die hässlichen Frauen, die schüchternen Männer, die Alten, die Kranken, die Behinderten - die schweigende Mehrheit.
Da dieser Teil seines Lebens also vorbei war und es keine erkennbare Aussicht mehr auf beruflichen Erfolg gab, horchte er in sich hinein, welchen Sinn so ein Leben noch haben konnte. Er hörte das Herz, das unter der von Verbrennungen gesprenkelten Brust weiterhin seine Arbeit tat:
Poch-poch, Poch-poch, Poch-poch...
Von oben drangen Geräusche und ein verhaltenes Lachen durch die Zimmerdecke. Scott ballte die Faust, seine deformierten Lippen artikulierten: "Freie Liebe am Arsch, Mann!"
und er schenkte sich ein Glas Whisky ein.