- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Freihändig fahren
Ich habe nie wirklich gelernt, Fahrrad zu fahren, hatte immer das Gleichgewicht verloren, war gestürzt, mitten auf die Fresse. Die anderen Kinder lachten. Einmal, ich fuhr nur die Straße vor unserem Haus hinauf und hinunter und stürzte dabei. Ich lag da, mein Rad auf mir drauf. Die zwei Jungen aus der Nachbarschaft, sie waren ein oder zwei Jahre älter als ich, hatten im Hof Fußball gespielt. Dann hatten sie mich gesehen. Sie stürzten auf die Straße, auf mich zu. Und kugelten sich vor Lachen. Zeigten den Finger auf mich und spotteten: „Acht Jahre ist der und kann immer noch nicht Fahrrad fahren“, riefen sie, „Versager. Verlierer. Nichtsnutz“, was Kinder eben so rufen. Mein Knie blutete, ein roter Fleck auf der Straße. Doch schlimmer blutete mein Herz. Sie lachten mich aus, die beiden Jungen. Nur weil ich nicht Rad fahren konnte. Ich konnte es wirklich nicht. Darum habe ich ja geübt. Ich wollte es können, auf zwei Rädern durch die Straßen und Gassen tänzeln, frei sein, für mich wäre es damals das Größte gewesen. Mein großer Traum war es immer, freihändig zu fahren, dabei schaffte ich es nicht einmal so, das Gleichgewicht zu halten. Ich konnte nur zuschauen wie die anderen Kinder über der Erde schwebten, singend und johlend. Ich landete regelmäßig auf dem harten und schwarzen Asphalt. Wie ich da lag mit zerrissener Hose, aufgeschürften Knien und Ellenbogen. Ich fühlte mich wie ein Versager, ein Verlierer, ein Nichtsnutz. Die anderen hatten Recht, das war ich ja auch. „Wie ist es, ein Versager zu sein?“, bekam ich in der Schule zu hören, jeden Tag in jeder Pause und manchmal auch zwischen den Stunden. Natürlich hatte ich nicht geantwortet, dafür schämte ich mich viel zu sehr. Ich schämte mich dafür ein Versager zu sein, wie sich alle Versager dafür schämen, dass sie Versager sind. Aber das wissen nur Versager, wie das ist ...
In mir entwickelte sich eine wirkliche Angst vor dem Fahrrad. Ich fuhr eine lange Zeit über nicht, konnte mit elf noch nicht in die Pedale treten. Einfach weil ich Angst hatte. Doch die Angst war nicht, zu stürzen, mir weh zu tun. Das hätte mir nichts ausgemacht. Wunde Knie verheilen, ein verletztes Kinderherz ein ganzes Leben nicht.
Die Angst war vor dem Lachen: Ich stieg nicht auf das verdammte Fahrrad, weil ich immer das Lachen in den Ohren hatte. Das Lachen der Nachbarskinder, gepaart mit der immer gleichen Frage meiner Mitschüler: „Wie ist es, ein Versager zu sein?“ Beides war wie eine Musik für mich, eine schreckliche, scheußliche, furchterregende Musik. Eine Musik bei der man gerne das Radio abschalten würde, doch das Radio ließ sich nicht abschalten. Das Radiogerät in unserer Küche, ein elender grauer Kasten. Wie habe ich mich vor ihm gefürchtet. Aus Angst, sie könnten das Lied spielen, das grausame Lied aus Hohn und Spott.
Mit vierzehn, fünfzehn hatten wir Wandertag in der Schule. Mit dem Fahrrad war verabredet, eine kleine Radtour mit anschließendem Picknick im Grünen. Warum verbietet sowas keiner? Ich schwänzte die Tour natürlich und alle in der Klasse wussten warum. „Der Versager kann kein Rad fahren“, soll einer unserem Lehrer zugerufen haben. Dabei schwänzte ich gar nicht, ich war wirklich krank, Kopfschmerzen hatte ich, weil wieder die Musik dröhnte, die Versagermelodie im Schleifenmodus, den die modernen CD-Spieler damals schon hatten. Selbst wenn ich gewollt hätte, das Dröhnen hatte mich ans Bett gefesselt. „Du kannst ja Fernsehen oder Radio anschalten, wenn du nicht schlafen kannst“, sagte meine nichtsahnende Mutter, als sie sich zur Arbeit verabschiedete. Wie grauenvoll Mütter sein können, nicht einmal Rad fahren hat sie mir lehren können ... Ein paar Monate zuvor hatten meine Eltern mir gar ein neues zweirädriges Ungetüm geschenkt, wohl nichtwissend, dass ich es zu bändigen unfähig bin.
Wieder versucht habe ich es erst, da war ich schon Mitte zwanzig. Mein Arzt hat es mir wortwörtlich ans Herz gelegt, Sport machen, meines viel zu schnellen Pulses wegen. „Rad fahren“, meinte er, „Rad fahren ... Strampeln Sie um Ihr Leben“, und natürlich habe ich ihm nicht von meiner Angst erzählt, wieder zu fallen, wieder verspottet zu werden. Doch ich fasste den Entschluss, mutig wollte ich sein, mich der Gefahr stellen, so schwer kann das doch gar nicht sein. Fahrrad fahren, das kann doch jedes Kind, ging es mir durch den Kopf, wo die schreckliche Musik plötzlich meiner Courage gewichen war. Ich kramte das alte Ding wieder aus dem Keller, verstaubt und eingerostet wie es war. Dann stieg ich auf und trampelte los und tatsächlich: Es klappte. Ich schwebte, nie war ich so glücklich gewesen. Vorsichtig nahm ich meine linken Hand vom Lenker und ich schwebte noch immer, mitten in meinen großen Traum hinein. Es war ganz leicht, ich war ganz leicht. Warum habe ich es nicht früher versucht, fragte ich mich, Warum habe ich all den Spott über mich ergehen lassen? In stabilen Kreisen drehten sich die Pedalen, ich spürte, wie sanft es von statten ging, wie ein Mühlrad, wenn der Wind kräftig und doch zart hinein pustet. Behutsam und fast wie von selbst gleitetete auch die rechte Hand weg von der Lenkstange, ich schaute aufrecht nach vorne, riss die Hände in die Höhe. Nie war ich so frei. Ich, der Versager, war frei, schwebte allen anderen Versagern davon, wollte mich nie wieder schämen müssen. In einer Pfütze rutschte der vordere Reifen, noch bevor ich den Lenker wieder greifen konnte, lag ich im Matsch. Die braune Drecksbrühe spritzte nach allen Seiten. Meine Knie bluteten. Wie früher. In meinem Kopf war alles wie früher, die Musik, das Lachen der Nachbarskinder, die Rufe in der Schule.
Eine Gruppe Jugendlicher fuhr an mir vorbei, sie deuteten auf mich hinunter und lachten den selben Spott, den ich Versager schon immer habe ertragen müssen...