Freiheit
Es ist heiß. Zu heiß, um hier in diesem stickigen Klassenraum zu sitzen. Zu heiß, um jemandem zuzuhören, der nichts Konstruktives zu meinem Leben beitragen kann. Er weiß doch selbst nicht, wo er steht.
Ich schaue aus dem Fenster. Der blaue, endlose, strahlende Himmel offenbart mir unendliche Freiheit. Eine rote Backsteinwand versperrt mir die Sicht auf den Horizont, wie ein Stoppschild. Die Turnhalle, eine weitere Station der unnütz verbrachten Zeit.
Ich schaue ein letztes Mal nach vorne, wende mich dann ganz diesem Tor in die Freiheit zu. Keine Wand stört die Aussicht mehr. Ich beachte sie ganz einfach nicht. Sie ist nicht mehr da. Ich sehe nur noch weite Felder mit ihrem Korn, das sich zum Himmel emporstreckt und von einem sanften Wind leicht hin- und hergeschwungen wird.
Unbemerkt gleite ich in die warme Luft, sie strömt an mir vorbei. Ich steige höher und immer höher. Ich gleite durch das wolkenlose Himmelreich. Immer schneller. Die Felder verschwinden, nach und nach sehe ich einige Dörfer, ganz klein unter mir. Einige Bäume und Menschen, die ihre alltäglichen Aufgaben tun. Sie gehen einkaufen, arbeiten. Ich gleite weiter, treffe einen Vogelschwarm, grüße sie, ziehe vorüber. Unter mir ein Bauer, der eine unglaublich smaragdgrüne Wiese mäht. Die Farben sind von hier oben intensiver. Die Feldwege bilden Bilderrahmen, welche die Felder voneinander abgrenzen. Nur wenige asphaltierte Straßen hier. Die Sonne begleitet mich, treibt mich an.
Ich steige höher. Die Häuser bilden rote Farbkleckse, die Felder unterscheiden sich nur noch in Nuancen voneinander. In der Ferne kann ich es schon sehen, fast riechen. Ein salziger Geruch, der sich immer mehr verstärkt. Das Meer. Ich steuere immer schneller darauf zu. Muss es erreichen. Es bedeutet vollkommene Freiheit. Ich will frei sein. Salzige Luft umströmt meinen Körper. Sie ist kühler geworden.
Ich erreiche das Meer und schon nach kurzer Zeit umfängt es mich, ringsum nur noch Meer.
Ich breite die Arme aus, lege sie ganz eng an meinen Körper an. Neige meinen Kopf geradeaus und stürze hinab. Vollkommen frei werden die einzelnen Wellen immer größer, die Meereswand kommt näher, immer näher, ich....
„Und was meinst du dazu, Kristin?“, reißt mich plötzlich zurück. Kein Meer, keine Freiheit. Nur ein vorwurfsvoll schauender Relilehrer in einem stickigen, engen Klassenzimmer, der von mir eine Antwort erwartet. Und natürlich zwei Dutzend Schüler, die mich sensationslustig anglotzen. „Keine Ahnung.“, murmel ich und bin damit erst einmal nicht mehr gefordert.
Ich fahre mit meiner Zungenspitze vorsichtig über meine Lippen.
Sie sind ganz verkrustet vom Salz.