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Freinacht
Es ist eine Fläche von, so sagt der Volksmund, mindestens drei Fußballfeldern. Aber es ist nicht möglich, und der Gedanke daran es zu tun erdrückt mich, diese Fläche zu strukturieren oder zu kartieren. Ein Flecken Erde, auserkoren zur Zusammenkunft der Farben und Formen, um diese so zu sortieren und auszurichten, wie sie es verlangen und fordern und es sich nach der Jahresfrist verdient gemacht haben. Eine letzte Beichte auf einer Wiese, umzogen von Felsen. Ein Krater, wenn man so will. Eine Schneise läuft man, lange läuft man, auch zuerst durch einen anarchischen Wald, in dem die Tiere dich nicht fürchten werden, da es ihr Wald war und ist und du bist nur Gast, nur zu Besuch, und so wirst du dich verhalten, mit Respekt, und es wird dir leicht fallen, denn du wirst gar nicht merken, wie du es tust. Eine Fläche in der Schnauze der Landschaft, in der Märchen möglich sind, weil man hier an sie glaubt. Ist Friede schon ein Märchen? Und Liebe? Und Freundschaft? Ich habe diese Märchen hier erlebt und erzähle euch nun von ihnen:
Ich kraxelte und balancierte wie eine Bergziege von Vorsprung zu Vorsprung und Leute zogen mich am Arm hoch bis ich am höchsten Felsen meine Arme ausbreiten und die Stimmung der Wiese inhalieren konnte. Von hier, wo man sich fühlte wie Gott in der Käseglocke, sah es aus wie eine Steppdecke, die über die Landschaft geworfen wurde. Mit Brandlöchern, um die sich die Motten tummelten. Die Zelte hatten sich unwillkürlich verteilt, manikürten die Fläche und überall war es warm heute, egal was das Wetter sagte.
Und diese funkelnde Akustik! Manchmal, wenn ich die Luft anhalte und die Welt um mich schweigt, dann höre ich sie noch heute, die Sinfonie der unzähligen und hermaphroditischen Bongos, Congas, Djembes und all der anderen Membranophone, verfeinert mit den Ditscheridoos und den Gitarren, befreite Stimmen. Keine Sinfonie von Partitur und Dirigentenstock freilich. Eine Sinfonie des Einklangs von Mensch und Natur, von Natur und Mensch. Die Kinder der Natur, denn Erwachsene gab es hier nicht, baten die Götter und Dämonen um Gnade, wollten sie vom positiven Gut der Saat überzeugen, für ein weiteres Jahr Aufschub wenigstens.
Viele glauben nicht, dass an diesem einzigartigem Tag zwischen Apokalypse und Gnadenfrist entschieden wird. Aber sie werden ganz schön doof gucken, wenn wir eines Jahres mal verschlafen oder niemand mehr die Zeit findet die Dämonen zu bekämpfen und Luzifers Engel dann bei ihnen klopfen. Es handelt sich um die alljährliche Sommersonnenwende, um deutlich zu werden. Die Nacht, die eine Nacht, in der es gilt die bösen Dämonen des Lebens zu besänftigen und für ein weiteres Jahr zu verscheuchen. Der gehörnte Gott schläft in jedem von uns und egal was euch das Christentum weis machen möchte: Er ist das Symbol der Männlichkeit und er will nichts weiter als die Vereinigung mit dem Weiblichen. Er ist kein Teufel. Ihr müsst ihn rauslassen, ab und an. Ansonsten wird er euch eines Tages beherrschen oder zum gefürchteten Schweinehund mutieren, wenn ihr ihn nicht besänftigt und Freilauf lasst. Und diese Nacht ist seine Nacht. Schon seit den Kelten, und die wussten, was sie taten.
Berauscht von der antimonotonen Klangdecke und der ausgelassenen, freigelassenen Stimmung und auch der Biere, des Tabaks, des Marihuana und nicht zuletzt der psychoaktiven Pilze kletterte ich die Felsen wieder hinab und fand mich im Getümmel und Getanze der Kultur wieder. Ich begrüßte alte und neue Freunde, trank und rauchte. Es gab Nixen und Kräuterhexen und leckere Nymphen und Rapunzels und Gnome und Elfen und Zauberer und Gaukler und Feuerspucker und Jongleure und Harlekine und Alchemisten und Medizinmänner, aus deren Mündern, süffig wie getränktes Moos sicherlich, Abgase von Engeln flossen.
Wir saßen am Feuer, welches freudig mitfeierte, und tranken Waldmeisterbowle, als sie mit ihrer Hand über meine freie Schulter strich, dabei noch mein Haar berührte. Nur im Vorbeigehen war es, das spürte ich sofort. Aber es war auffordernd und nicht durch ein alkoholisiertes Strunkeln bedingt. Das spürte ich auch. Ich sah ihr nach und sah nur noch ihre Silhouette durch die Menschentrauben schreiten. Sie schien zu schweben. Ja, wirklich. Und zu leuchten, denn ich erkannte ihre Gestalt noch eindeutig inmitten eines Kreises mehrerer lodernder Feuer. Ich sprang aus meinem Schneidersitz auf und war wie an einer Schnur gezogen. Stracks zog sie mich behütet durch den Parkours der Zeltschnüre und Menschen, die ich nur unmerklich strich und tangierte. Meine Freundin, die so leblos und gelangweilt am Feuer neben mir geduldig war und auf das Ende meines Trips und dieser Nacht zu warten schien, die Fahrerrolle übernommen hatte und unser Zelt behütete wie ein Eigenheim, erhob sich ebenfalls und zog mich am Arm. Ich sah sie an aber auch nicht, wohl durch sie durch, und die Schnur zog kraftvoller und ruckartig und Worte waren so bedeutungslos geworden, dass ich sie nicht mehr verstehen konnte. „Ich geh pissen. Mach dir keine Sorgen!“, sagte ich. Aber warum? „Ich geh pissen!“, hätte doch auch gereicht. Der zweite Satz war unnütz, da sich niemand Sorgen macht wenn jemand pissen geht. Meine Freundin war nur mitgekommen, um mich zu bewachen. Sie war zu fein für das hier. Ich wusste nicht, ob ich sie liebte, etwas für sie empfand oder sie schlicht Zeitvertreib und Spaß für mich bedeutete. Und ich hatte da auch schon lange nicht mehr drüber nachgedacht.
Auf Bekannte musste ich getroffen sein, denn Augen trafen mich und Joints wurden mir gereicht, auf meinem Weg über Decken und frühzeitige Schnapsleichen und ich musste wohl eine Bong umgetrampelt haben, da ich unsanft gestoßen wurde. Sie ließen aber sehr schnell von mir ab, als sie mich richtig ansahen und ich sie mit einer Armbewegung in Zeitraffer hinweg wischte. Sie führte mich abseits der Menschen, deren Geräusche schon in weite Ferne gerückt waren, und ließ sich am Waldrand, gute zweihundert Schritte entfernt, erkennen. Die Schnur war nicht mehr da. Ab jetzt sollte ich wohl selbst entscheiden. Kurz pissen und dann zurück, oder diesem Mädchen, von hinten so graziös, oder dieser Illusion, erweckt durch das Gift in meinem Körper, folgen. „Ich werde es ein Leben lang bereuen, wenn ich nicht gehe“, dachte ich. Und so folgte ich ihr in den Wald, wo der Bach sein Lied von ihm und der Eiche tropfte, vereinzelte satanistische Gruppen um Pentagramme aus Kerzen hockten, verpilzte Menschen durchs Unterholz hasteten und Betrunkene gegen Bäume lehnten. Aber wir gingen tiefer hinein. Dornensträucher patschten mir ins Gesicht, bis wir schließlich zu einer Lichtung kamen die allgemein unter dem Namen „Elfenwiese“ bekannt war. Hier waren die Farben prächtig und ... es gab viel mehr. Ein intensives Grün überzog die Fläche wie ein Teppich, die Felsen waren weich wie Moos und lilafarbene Streifen tanzten durch die Luft. Das Sprudeln eines Springbachs als einzige Geräuschkulisse, das Gras, welches meine nackten Füße liebkoste, unberührt und im Einklang mit dem milden Wind, den man nur spürte, nicht hörte, und jeder Schritt den ich tätigte ward nicht mehr erkannt, der Abdruck erlosch in Windeseile.
Ich vernahm meinen Namen durch die Luft rollen wie ein Mantra, ohne dass ich einen Ursprung, einen Sender, wahrnehmen konnte. Und sie war da: Nicht physisch, sondern aus Licht, das nicht blendete sondern benebelte, und die lilafarbenen Streifen tanzten zu ihrem Rhythmus. Sie war so wahrhaftig, so entrückend, so tanzend und beruhigend. Wie verschleiert schien sie, die Lichtquelle, und ich ging auf sie zu und das Licht, das Grell, wurde immer greller und intensiver und ich wusste nicht mehr wohin ich ging, bis ich merkte, dass ich längst in ihr war, die Schicht ihres Schleiers transzendiert hatte und Teil des Tanzes war. Getragen von einer Kraft, ihrer Kraft, so unwirklich aber stark, entfalteten wir uns über der Wiese, sausten durch den Wald, wo wir die Rehkitz in einem Wettrennen hinter uns ließen, erhoben uns gen Himmel gleich einer Engelformation und fielen ins erquickende Nass des Stausees, dort wo die Fische uns frohlockten und Spielgefährten waren. Der Triumph über die Physik; das höchste Ziel der Menschheit seit Gedenken, wurde mir verabreicht, geschenkt und ich musste nur loslassen und furchtlos sein, dann hatte ich alle Möglichkeiten die einem diese Welt und dieses Leben bieten konnten.
Über das Firmament rannte das gedämpfte Licht des Mondes und verkündete das Näherrücken des Höhepunktes der Nacht. Die Trommeln wurden lauter, die Gemüter erhitzter und die Tiere fideler, während sich der Himmel über uns zu beraten schien, die Wolken dirigierte. Stille dann. Absolutes Schweigen einer wartenden Welt. Die Wolken ballten und plusterten sich auf, rumorten und verhießen somit nichts Gutes für den weiteren Verlauf des Jahres. Einen letzten hoffnungsvollen Trommelwirbel gaben die Instrumente der Erde. Vielleicht wollten Mutter Erde und Vater Himmel nur ihre Macht demonstrieren, zeigen, dass alles zerbrechlich und vergänglich war und mit einem Schnips vernichtet, wenn sie wollten, und dass sie unzufrieden mit dem Verlauf des letzten Jahres waren, mehr erwarteten von ihrer Schöpfung. Doch dann zog ein Grollen, einem Generalbass gleich, durch die Luft, erschütterte die Zelte und ließ die Trommeln mickrig dastehen. Und schon zischten die ersten Blitze durch die Wolken und kratzten durch die Nacht, die Artillerie des Regens prasselte auf die Erde ein und tränkte die Gemüter in Wehmut, Sturm stürmte über Zelte und Feuer hinweg, auf dass es keine Hindernisse mehr für ihn gebe, und es wurde kalt in der Welt.
Feuer erlosch und es wurde dunkel im Stadion der Liebe. Nur die Blitze erleuchteten die Fläche und ich sah sie umherirren, nach Wärme und Schutz suchen, so schwach und hilflos, einer zerstörten Ameisenkolonie gleich. Die Bäume schunkelten mit beim Lied der Apokalypse. Ich erkannte meine Freundin, die immer noch im Regen herumrannte und Leute nach meinem Verbleib fragte, traurig und einsam und alleine in unserem Zelt.
„Findest du sie nicht auch erbärmlich?“, schwankte es durch die Luft. Ich stand getränkt auf der längst nicht mehr so prachtvollen „Elfenwiese“ und blickte ernüchtert ins Tal.
„Anstatt sich aufzubäumen, weiterzutrommeln und zu fordern, haben sie aufgegeben. Sieh es dir an! Sie verkriechen sich, als hätten sie sich mit dem Untergang bereits abgefunden, als würde es sie erfreuen, insgeheim und unterbewusst, als hätten auch sie Zweifel an sich und ihren Taten und die Hoffnung auf eine Welt in Eintracht verloren.“
Die Lichtquelle schwebte zu den Felsen zurück und zog dabei leicht aber selbstsicher an der Schnur. „Komm!“, sagte sie. „Du weißt, was ich dir bieten kann. Dieses Leben dort unten ist zuende.“
Gesenkten Hauptes trottete ich zur Quelle des Lichts. Ich sah es als das einzig Wahre, eine Chance. Was hatte ich zu verlieren?
„Sören!“, hörte ich eine Stimme aus dem Tal, dem Grab der Menschheit, herausbrüllen. Es war Jenny, meine Freundin, die dort meinen Namen rief. Und noch einmal, verzweifelter. Die anderen unserer Gruppe, meine Freunde, hatten sich, motiviert von der beunruhigten Jenny, beraten und strömten in alle Richtungen aus, durchforsteten den Wald.
Die Schnur straffte auffordernd. „Jetzt komm! Lass sie ihrem Verderben! Folge mir und ich werde dir den Himmel zeigen. Schon in Kürze. Du hast dich als würdig erwiesen. Lass diese Chance nicht zerplatzen!“, zerrte es mich und hatte Recht: Sie liebte mich nicht wirklich, war nur alleine und gelangweilt, hatte meine Liebe zur Natur nie verstanden und wird mir nie dahin folgen können, wohin ich gehen möchte. Meine Freunde waren betrunkene und bekiffte Idioten, die an nichts anderes dachten und einen schönen Wald ebenfalls nicht zu schätzen wussten. Und so erklomm ich die Felsen, hypnotisiert vom Licht, immer noch paralysiert der Stärke und Kraft, die es mir verliehen hatte.
Wie eine Barriere aus Luft war es, durch die ich gehen sollte. Hinter dieser Wand war eine Welt, ein ganzes Universum, erleuchtet in dem grellen Licht meiner Führerin. Wie ein Sog zog es und ich griff hindurch und empfand Freiheit, wie dieses Leben sie nicht bieten konnte. Es musste sich um die Welt über den Wolken handeln, anders konnte ich es mir nicht erklären. So sanft und farbenfroh, so schwebend und flüssig, so transparent und greifbar. Ich zog meine Hand zurück. Sie war wie gelähmt, betäubt, verzaubert oder mit Engelsstaub überzogen. Ich schluckte und machte mich bereit das Reich des Himmels zu betreten. Doch in diesem Moment ergriff mich eine Hand an meiner Schulter und ein Arm griff um meine Hüfte, zerrte mich zu Boden, auf Stein der wieder schmerzte. Und vor mir der Abgrund der „Himmelsschlucht“, hinter mir die „Elfenwiese“ und ich blickte hinunter und sah den Regen ins Nichts stürzen und selbst, wenn die Blitze zuckten und die Nacht erhellte, konnte ich den Boden nicht erblicken. Ein Absperrband hatte sich um meine Hand verfangen. Dann eine Umarmung, eine Umklammerung meiner Jenny, und ihre Küsse und Thomas, der dazueilte. Keine Fragen, was ich hier machte, was das werden sollte. Nur Beruhigung und Durchatmen.
Und so ist es erzählt, das Märchen von Liebe, Freundschaft und Frieden, und die Götter erbarmten sich und ließen das Leben für ein weiteres Jahr durch die Menschheit weinen, denn schon kämpfte sich Sonnenlicht durch die Wolken und der Regen, der sich noch vom Himmel schmiss, galt nunmehr einer Erfrischung der Sinne.