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Freischwimmer
Das Wasser veränderte ihn. Jedes Mal.
Genau genommen begann die Veränderung bereits in dem Moment, in dem er die Umkleidekabinen verließ und auf den schmalen gefliesten Gang hinaus trat, der zu den Duschen führte. Der Boden unter seinen nackten Füßen fühlte sich nasskalt und immer ein bisschen schmierig an, dennoch trug er niemals Schwimmschuhe. Diese lächerlichen Sanitätslatschen, die bei jedem Schritt unzufrieden schmatzten. Das Gefühl an den Füßen gehörte dazu, genau wie der leise Ekel, den es in ihm wach rief, der Widerwillen, der ihn mit jedem Meter schwerer werden ließ, der versuchte, ihn von den Duschen fortzuzerren, zurück in die dumpfe, stickige Sicherheit der Umkleiden. Das war der Augenblick der Panik, unter der sich seine Schultern unwillkürlich krümmten, sein Magen war eine zusammengezogene Kugel Schmerz.
Was, wenn er es dieses Mal tatsächlich nicht schaffte? Wenn er wirklich im letzten Moment umdrehen und zurückgehen würde, wenn er aufgäbe, sich sich selbst ergab, geschlagen von seinem echten, wahren Ich? Er konnte niemals sicher sein.
In die Dusche treten, eine freie Brause auswählen, anstellen. Wasser. Das Wasser veränderte ihn jedes Mal. Wenn er es bis hier hin geschafft hatte, würde es gut gehen. Keine Umkehr, kein Aufgeben, keine Niederlage. Das Wasser war seine Stärke, das war Geben und Nehmen, er gab und bekam, 50 wundervolle, grässliche Minuten lang.
Der Weg zum Becken war eiskalt. Seine Haut zog sich zusammen, die hellblonden Haare stellten sich widerborstig auf, sein ureigenes, mickriges Fell. Er fröstelte jetzt ständig, nicht nur halbnackt mit einer klatschnassen Badehose um die Hüften.
Die erste Begegnung mit dem Element im Becken war so erregend wie schrecklich. 27 Grad waren seinem Körper immer wieder zu kalt, er bat, bettelte um Umkehr, zurück in die Duschräume unter die heiße Brause.
Stattdessen trieb er sich vorwärts, ignorierte seine dumme, kleine Schwäche. Und jeder Zug wärmte ihn, befriedigte, bestätigte ihn. Arme geradeaus, kraftvoll zur Seite peitschend, dann kam der Schwung mit dem sein Rumpf nach vorne glitt, nach vorne schoss und schon waren die geschlossenen Arme bereits wieder gestreckt. Sein Kopf tanzte einen ruhigen Rhythmus, auf und ab, der Mund ein Oval, durch das er pfeifend einatmete, er riss die Luft an sich, biss sie heraus aus dem Raum direkt über der Wasseroberfläche, ehe er wieder eintauchte. Immer war er einen Sekundenbruchteil zu schnell für seine Lungen, immer war die eingeatmete Luft etwas zu knapp. Er spürte die Gier in seiner Brust, und in seinem Kopf lachte es.
Jetzt brannte das Wasser, es glühte an seiner Haut, und er war dankbar für die leichte Kühlung, wenn er auftauchte.
Nie stieß er sich vom Beckenrand ab, wenn er wendete, tippte die Kante nur fingerleicht an – er würde sich nie selbst betrügen, indem er den Vorteil ausnützte, die Kraft einer Bewegung nicht aus den eigenen Muskeln zu ziehen.
50 Bahnen waren die untere Grenze. Meistens schwamm er zwei zusätzliche, für den Fall, dass er sich verzählt hatte.
Nach 37 spürte er die Anstrengung in den Armen, sie baten darum, das Tempo zu drosseln. Feige Schweine! Wieder war es da, sein Alter Ego, sein wahres Gesicht, mit dem er zu viele Jahre durch die Welt spaziert war. Das Gesicht eines kleinen, runden Jungen, der keinen Keks liegen lassen kann, den der Sonntagsspaziergang mit den Eltern schon anstrengt, der Käsebrote nur mit doppelt Belag mag.
Er verabscheute die Bilder, die seine Erinnerung ihm vorspielte, scharf bis an eine Schmerzgrenze des Ekels. Das hüpfende, pfeifende Kind, so ungeschickt, so plump, mit kleinen Schweineaugen und speckigem Bauch.
Es brannte im Mund, für einen kurzen Moment brach er aus dem Muster seiner Bewegungen aus, Wasser drang in die Nase. Atmen! Er schwamm weiter, fand zurück in den Fluss, passte seine Gedanken an.
Nie wieder würde er Schwein sein. Nie wieder würde er sich von seinem trägen feisten Ich überlisten lassen.
Er konnte mehr. Und hier im Wasser fand eine Geburt statt. Jedesmal. Hier im Wasser wurde er zu einer einzigen, schnellen , schlanken Bewegung.
49, 50, 51.
Der Blick auf die Uhr: heute war er zwei Minuten länger geschwommen als gestern. Und trotzdem schwankten seine Beine, als er sich jetzt auf die Fliesen zog. Das Feuer war ausgebrannt, fortgeschwemmt die Flammen, die Kälte ließ ihn beinahe weinen.
Uralt tappste er zu den Duschen, im Inneren zitterte er unaufhörlich. Links neben der Tür stand seine letzte Herausforderung. Er bestieg die elektrische Waage, atmete vorher aus, hauchte sein Inneres leer, niemand weiß, was Luft wiegt.
39 Kilo und 400 Gramm.
Von hinten ragten seine bleichen Schulterblätter abgespreizt wie zarte Flügel in Richtung Schwimmhalle.