- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Freistunde
Timo schaute auf die Uhr. Ihm blieben noch 35 Minuten. Er gähnte. Da er bis ein Uhr nachts vor dem Computer gesessen hatte, fehlte ihm eine gehörige Portion Schlaf. Um acht Mathe und dann zwei Freistunden. Der Ersteller der Stundenpläne gehörte geteert und gefedert.
Irritiert blickte Timo auf die andere Straßenseite. Seltsam, dass ihm dieser Laden bisher nicht aufgefallen war. Eilig überquerte er die Straße, ohne dabei nach rechts oder links zu schauen. Ein Hupkonzert war die Folge.
Das Schaufenster zierten kunstvolle Messer, Holzschnitzereien und Totenschädel. Von Tieren oder Nachbildungen, schätzte Timo. Man würde ihn bestimmt sofort rausschmeißen, mit seinem Schulrucksack gehörte er ganz offensichtlich nicht zum angestrebten Klientel. Er ließ es darauf ankommen und stieß die Tür auf. Eine helle Glocke erklang und Timo kämpfte sich durch eine Vielzahl bunter Schnüre, die im Türrahmen hingen.
„Hi.“ Die Stimme gehörte einem Mädchen, dass wenig älter war als Timo, vielleicht 16 oder 17. Ihr Gesicht war blass, die Haare schwarz, ebenso ihre Kleidung. Gothik, dachte Timo. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte.
„Äh… Hi. Gehört dir der Laden?“
Das Mädchen grinste, was etwas skurril anmutete, da sie nebenbei Kaugummi kaute.
„Nee, gehört meinem Onkel. Ich helfe hier nur aus. Suchst du was Bestimmtes?“
„Was ist das?“ Timo deutete auf einen hämisch grinsenden Indianerkopf aus Holz, den sie in ihrer Hand hielt, vermutlich um ihn in einem der Regale zu platzieren.
„Nur Krempel.“ Sie warf den Kopf achtlos in eine Kiste.
„Mein Onkel schafft dauernd diesen Schrott ran. Aber keiner kauft was. Ab und zu kommt mal ein Freak und will einen Schädel für ne satanische Messe.“
„Sind die echt?“
„Was?“
„Die Totenschädel.“
In den Augen des Mädchens blitzte es diabolisch auf. „Sind alle echt. Geil, oder?“
„Habt ihr hier irgendetwas interessantes?“ Timo gähnte; nicht weil er sich langweilte, sondern weil ihn die Müdigkeit einholte. Sein Gegenüber fühlte sich aber scheinbar in ihrer Ehre gekränkt. Sie schaute ihn herausfordernd an.
„Warte.“ Das Mädchen drehte ihm den Rücken zu und verschwand hinter einer schmalen Holztür. Sie hatte einen hübschen Hintern, fand Timo.
Kurz darauf kehrte sie zurück und schwenkte etwas in der Hand. Sie hielt ihm das Objekt vor die Nase. Timo wurde ganz anders zumute. Es war ein Schrumpfkopf.
„Ähm, der kann gar nicht echt sein. Er ist ja kaum größer als ein Apfel.“
„Vielleicht, weil er geschrumpft ist?“ Die Ironie in der Stimme des Mädchens war kaum zu überhören.
„Erzähl das aber nicht weiter. Mein Onkel könnte sonst großen Ärger von den Behörden bekommen.“
Dazu genügten schon die Totenschädel, dachte Timo, sagte aber nichts. Der Anblick des Schrumpfkopfes erfüllte ihn zwar mit Abscheu, allerdings könnte er damit einigen Leuten einen gehörigen Schrecken einjagen.
„Was kostet das Ding?“
„200 Euro.“
„Wie bitte? 200 Euro für eine verkrüppelte Kartoffel? Du bist ja wahnsinnig!“
„Die werden irgendwo aus der Pampa eingeflogen.“ Das Mädchen seufzte.
„Wie viel Geld hast du dabei?“
„60 Euro.“
Sie zögerte.
„Meinetwegen.“
„Hast du vielleicht eine Tüte für mich?“
„Pack ihn doch einfach in deinen Rucksack.“
„Nee, der Kopf besudelt mir meine Hefte.“
Die junge Verkäuferin verdrehte die Augen, wühlte in einer Schublade und drückte Timo schließlich eine Tüte in die Hand.
„Bitteschön, die kostet normalerweise 50 Cent extra.“
„Hab ich aber nicht mehr.“
„Ja, ja. Schon klar.“
Timos Blick fiel auf eine Standuhr. Fünf vor zwölf, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Ich muss jetzt leider dringend los. Tschüß.“ Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.
„Tschau“ Das Mädchen grinste.