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Fremde
In der Raucherecke glimmen noch die Kippen.
"Dabei habe ich noch kein Wort Englisch gesprochen"
Maja starrt in den flackendernden Fernseher an der Decke, der den ganzen Tag nur MTV zeigt.
Majas Arme sind ganz braun. Die Stelle, an der sie sonst ihre Uhr trägt ist schneeweiß. Sie legt ihren Arm um meine Schulter und sieht mich an. Sieht wieder in den Fernseher und spitzt die Lippen.
Sie sagt: "Man müsste mal ins Zentrum fahren, London ist so eine tolle Stadt. Man müsste sich mal die Towerbridge ansehen oder den Buckingham Palace."
Im Hotel hängen Lampen mit braunen Sprenkeln an der Unterseite, die das Licht schwächen. Aus den Sesseln, auf denen wir sitzen, lässt sich der Schaumstoff ziehen. Weiße, luftige Flocken, die hart und gelb werden, wenn man sie zwischen den Fingern zerdrückt. Maja verstreut sie wie Schnee und wartet. Wenn die Tür offen steht, kommen oft Streuner angelaufen und zerknautschen die Flocken zwischen ihren Backenzähnen. Die Streuner haben angewinkelte Beine und humpeln auf den Anderen. Sie sind so dünn, dass ihre Rippenknochen Schatten auf das glänzende Fell werfen. Maja streichelt sie hinter den Ohren und hat keine Angst.
„Alle haben jetzt einen Namen von mir bekommen.“
Rudi. Hasso. Rex.
Sie redet mit ihnen auf Deutsch. Die Hunde tapsen zwischen Bierlachen und Kippen umher. Ihre Pfoten sind häufig entzündet.
Unsere Lehrerin hatte die Idee, eine Sprachreise zu unternehmen. Raus aus dem Schulalltag, rein in die Praxis.
Unsere Lehrerin hat einen Buckel und wellt den Mund, wenn sie spricht. Sie sagt: "Ihr sollt selbstständig alles erkunden. Ihr seid alt genug dafür."
Die Gänge sind eng und dunkel. Wir drücken uns an den Wänden entlang um zu unseren Zimmern zu gelangen, und am Ende des Tages sind unsere T-Shirts hinten ganz weiß vom Putz.
Seit Montag sitzen wir nun im Hotel, gehen nur raus, um einzukaufen und um uns in die Sonne zu legen. Und um in den Fluss zu spucken.
In den Fenstern des Hotels hängen noch Plakate einer ehemaligen Modeboutique, deren Papierecken verbrannt sind.
Majas Mund ist spitz und will mich küssen. Ich drehe mich weg von ihr und sie küsst mich aufs Ohr. Sie schwärmt vom Buckingham Palace und sagt, dass die Arbeiter dort jeden Tag tausende von Münzen aus den Brunnen fischen. Sie nennen es Goldfischen, weil die Münzen wie Goldfischschuppen glitzern, und jeden Tag werden ein Dutzend Kanister damit gefüllt.
Maja weiß das, weil sie es zu hause im Fernsehen gesehen hat.
Ich suche nach der Fernbedienung in den Sesselritzen, finde aber nur Erdnüsse und Kippenstummel. Der Fernseher ist gänzlich von Staub überzogen, sodass alle Sendungen wie alte Schwarz-Weiß-Filme aussehen. Und immer läuft MTV. Und immer ist der Ton so leise, dass man sich schon mit dicht unter das Gerät stellen muss um etwas zu hören. Leises Surren dringt aus dem Gerät. Lautes Schnarren, wenn der Empfang wegbricht.
Die Gäste im Hotel reden nicht mit uns. Die Rezeption spricht nur Englisch und Spanisch. Die schwarze Putzfrau mit dem abgegriffenen Kehrbesen kommt aus Marokko und spricht gar kein Wort. Alle begrüßen sich mit Kopfnicken. Alle haben nur Euro oder Gutscheine in der Tasche, um sich Essen zu besorgen.
Ich gehe an die Bar und hole uns zwei Caipirinhas. Als ich zurück zurückkomme, sind meine Finger ganz kalt und nass. Maja trinkt das Glas in einem Zug leer. Ich stelle meines auf den Aschenbecher, in dem ebenfalls Erdnüsse liegen und lege die Füße auf den Tisch.
„Ich geh nicht mehr duschen, weil Katja mich immer dabei beobachtet“, sagt Maja und steckt sich eine Zigarette an. „Katja hat noch nie mit nem Kerl rumgemacht und steht auf Weiber.“
Maja raucht ihre Zigaretten so langsam und vorsichtig, dass man keinen Rauch sieht, wenn sie ausatmet. Ihre Finger zittern und ihre Augen sind zusammengekniffen.
„Die Hunde hier sind so hungrig und zutraulich wie die Tauben auf dem Bahnhof.“
Majas Zigarette glimmt noch lange im Aschenbecher.
Gegen Zehn Uhr gehen wir auf die Straße, um Bier zu kaufen. Die Luft ist ganz kalt und die Bäume und die Häuserwände sind dunkelblau von der Nacht. Jeder der denkt, ganz London würde rund um die Uhr in Discomusik und Neonlicht schwimmen, irrt sich. In den Nächten sind die Suburbans so dunkel und still wie die auf dem Land. Das einzige was man hört ist Hundebellen.
Maja hat ihre Finger zwischen meinen Fingern und geht voran. Ich fühle mich so deplaziert. Ich treffe ihren Rhythmus einfach nicht und hinke ihr wie ein Krüppel hinterher. Die Gassen hier verlaufen so eng in die Wohngebiete wie in einen dichten Dschungel. Das Straßenlampenlicht surrt und flackert, und kommt nicht bis in alle Winkel hinein. Ich leuchte mit meiner gelben Schlüsselband-Lampe den Weg aus. Von den Pennern, die hier rumlungern, sieht man nur die warmen Zigarettenpunkte, die immer mal aufleuchten.
Maja meint, es sei zu kalt für London. Für eine Londoner Nacht.
In der ausgeleuchteten Tankstelle beugt sie sich mit ihrem Top über die Magazine und tippt interessiert auf die Preisschilder.
Maja und ich wollten uns schon seit Monaten trennen, doch wir trauen uns nicht.
Wir schweigen uns nur an oder reden aneinander vorbei.
Ich kaufe ein Sixpack und der Tankwart schaut in mein sechzehnjähriges Gesicht.
„You're old enough, aren't you?“
Sein Grinsen ist schmierig und sein Bauch wird von der Thekenkante eingedellt. Das Wechselgeld lässt er auf meine Hand fallen, dann zündet er sich eine Zigarette an. Seine Blicke gleiten über Maja, wie über einen Nackt-Modell-Kalender, dann sagt er irgendetwas, das ich nicht verstehe.
Draußen gebe ich Maja ein Bier und sie nippt nur daran, ohne wirklich zu trinken. Die Finger umfassen die Büchse, als würden sie ein krankes Tier halten. Ihre Augen weit aufgerissen wie Scheinwerfer.
„Gehen wir zurück?“, frage ich sie.
„Ich will noch kurz in den Park.“
Ich klemme das Sixpack unter meine Achsel und folge.
Maja setzt sich in den Park und streckt ihren ganzen Körper. Das hohe Gras kitzelt ihre Beine. Die leeren kalten Flaschen, die sich über ihre Hände schieben. Sie sagt, man müsse auf die Stille hören, um die Welt zu verstehen. Vom leuchtenden Mond ist ihr Gesicht weiß wie Kreide, die Augen nur zwei Löcher, die nicht leuchten. Maja raucht mehr als sie trinkt. Sie trinkt nur, wenn ich auch trinke.
Ich gebe ihr noch eine Zigarette und sie nimmt sie mir aus der Hand.
Dann höre ich ein Geräusch. Metall auf Kopftseinpflaster.
„Hast du das gehört?“
Ich zucke zusammen und starre in die unruhige Dunkelheit.
Der Lärm durchzieht die Gassen wie ein endloses Echo.
Dort, wo tagsüber die Taxis und Busse vorbeirauschen, haben ein paar Streuner Mülltonnen umgeworfen. Ihre kurzen Beine wühlen sich durch den Dreck und ihre Schnauzen sind wie Sensoren. Diese Streuner sieht man nur nachts.
Maja steht auf und nähert sich der Stelle. Ich folge ihr.
Unsere Schritte stören sie nicht. Der Abfallgeruch mischt sich mit dem Geruch von Blut. Maja bleibt stehen. Sie unterdrückt ihre Atmung. Zwischen den braunen Hunden frisst auch ein einzelner Grauer. Sein Fell ist ganz dicht und lang. Die Beine sind kräftig und angewinkelt. Er steckt mit der Schnauze in einem Kadaver. Fliegen schwirren um den Kadaver, schwirren um den Hund und um die einzige Straßenlaterne, die kaltes gelbes Licht über die Tonnen legt. Als der Graue uns bemerkt sieht er auf und spitzt seine Ohren. Seine Schnauze ist rot bis zum Hals, die Haare ineinander verklebt. Die Augen sind gelb und die Pupillen schmal wie Sammellinsen auf Maja gerichtet. Zwischen den Zähnen hängen dunkelbraune Fetzen. Sehnen und Muskeln. Ich packe Maja am Arm und ziehe sie fort. Der Graue starrt sie an und rührt sich nicht. Majas Arme werden länger, als ich sie über den Park ziehe. Sie will nicht gehen. Sie flüstert mir zu: „Ich hab noch nie einen Wolf gesehen.“
„Das ist kein Wolf.“, antworte ich, „Komm schon!“
Sie bleibt stehen und starrt mich an. Der Graue hinter ihr leckt sein Gesicht sauber und atmet heiß durch seine Schnauze.
„Es gibt keine wilden Tiere in Großstädten“, flüstere ich.
Ich weiß ich habe Angst. Mein Atem ist ganz kalt.
„Komm, wir gehen lieber.“
Maja nickt und stolpert durch das Gras.
Heute Nacht kann ich nicht schlafen. Ich gehe in meinem Zimmer umher und starre aus dem Fenster. Aus Frust trinke ich alle Bierbüchsen leer und kann noch immer nicht schlafen.
Maja klingelt mich auf dem Handy an und sagt, ihr ginge es ebenso. Sie liege in ihrem Bett und taste das Gestell nach Unebenheiten ab. Sie sagt, London werde jetzt für sie immer in Verbindung mit diesem Grauen Wolf stehen.
Als wir am nächsten Tag an den Tonnen vorbeigehen, sind sie geleert und ordentlich an die Häuserwand gestellt. Das Blut ist aufgewischt.
Maja sieht mich an. Ich will ihr die Hand geben, doch sie blockt mich ab.
Die Streuner kommen nur nachts raus, sagt sie.
Nachts sind die Londoner Vororte wie ein schwarzer, undurchsichtiger Wald.
Nachts ist alles irgendwie fremd.