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Fremder Ort
Er saß reglos da, starrte nach vorn, sich zwingend. In die Ferne.
Der Blick zurück schmerzte. Er wollte es vergessen, an nichts denken, alles Stück für Stück in dunkle Schleier hüllen, so schnell es ging hinter sich lassen. Oder doch nicht so schnell; wäre es nicht angemessener, wenn es langsam ging? Vielleicht sollte er ihnen wenigstens noch diesen Respekt zollen.
Die Hände lagen ineinander verschlungen auf dem Schoß. Er wusste nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Sie hatten einfach jede Funktion verloren. Hatten ja nicht einmal die Aufgabe erfüllen können, das Wertvollste in seinem Leben zu retten. Draußen raste alles an ihm vorbei…
Er hatte sich im Hintergrund gehalten. Die beiden schwarzen, im Sonnenlicht des ansonsten wundervollen Tages schimmernden Särge hatten vergeblich darauf gewartet, dass er näher kam. Nicht etwa um ihm zu sagen, dass es nicht seine Schuld war, oder dass er es hätte verhindern können. Nein; sie wollten ihn nicht mit Dankbarkeit überschütten, sondern mit Vorwürfen, mit schmerzenden, wahren Worten, mit handfesten Argumenten, mit Allem, was er nicht bestreiten konnte. Fahrlässig; so hätte man die Tat, wenn er Angeklagter wäre, wohl beschrieben, die überhaupt zu dieser Tragödie geführt hatte.
Hilflos hatte er die ganze Zeit dagestanden, die schier endlose Zeremonie beobachtet, die, je länger sie dauerte, ihn sich mehr und mehr hatte wünschen lassen, er wäre nie geboren worden. Dann endlich hatten sich erst das große, dann das kleine Grab gesenkt, nicht aber, ohne ihm vorher noch einen bösen Blick zugeworfen zu haben.
… Der Fuß blieb da, wo er war. Wenigstens dieser erfüllte nun die ihm zugeteilte neue Aufgabe. Die Hand suchte eine Zigarette in der Innentasche des Anzugs, mit der man ihn leicht als Besucher einer erst kürzlich stattgefundenen Trauerfeier enttarnen konnte. Das wird dich noch umbringen, hatte sie gesagt; daran dachte er, als er die gekrümmte Zigarette anzündete. Das typische Klicken beim Öffnen des Zippo-Feuerzeugs klang unecht, in weiter Ferne. Der Ton kam von einem fremden Ort, an den er sich jetzt wünschte.
Er zog noch einmal tief an der Zigarette. Die Asche löste sich von ihr und fiel in Richtung Schoß, wurde langsamer, blieb auf der Hälfte des Weges stehen. Die Konturen verschwommen, die Kontrolle schwand. Auch draußen blieb alles stehen. Kein Ton, keine Bewegung mehr. Kein Gedanke, außer einem: hier könnte ich für immer bleiben. Die Stille war unnatürlich, unbekannt. Ihm gefiel sie…
Er hatte sich inzwischen von der kleinen Menge Trauernder abgewandt und lief nun über den Parkplatz. Fast schon ironisch glücklich klangen die Vögel, rauschten die Bäume. Die Idylle machte ihn krank. Gut fühlte sich hingegen das kalte Metall des Türgriffes an, den er fest umklammerte, während er sein erbärmliches Spiegelbild im Fahrerfenster betrachtete. Er öffnete die Tür.
… Lange hielt die Stille nicht an. Langsam wurde es laut und die Asche landete jetzt dort, wo es die Gesetze der Physik für sie bestimmt hatten.
Und er landete wohl da, wo es für ihn bestimmt war.
Gott bot ihm jetzt auch keine Zuflucht mehr an. Solche wie er wurden verstoßen. Vielleicht war es ja besser für ihn, eine Ewigkeit in der Hölle zu verbringen, als auch nur für einen Moment in die Augen der auf ihn wartenden beiden Menschen blicken zu müssen. Zu viele Gedanken, dachte er.
Der Fuß war noch immer da, wo er vorher gewesen war, reglos. Er selbst war jetzt aber hellwach und vernahm den Lärm, den die Höllenmaschine unter ihm machte. Die Hände hatten auch eine neue Aufgabe, umklammerten das Lenkrad. Er schloss die Augen, die Tachonadel passierte gerade den langen Strich, der die Zweihundert markierte und die Straße endete wenige Meter vor ihm…