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Fremdkörper
Sie hört die Stimmen um sie herum. Viel zu laut klingen sie in ihren Ohren, obwohl sie gedämpft miteinander sprechen.
Während sie aus dem Fenster sieht, um hinter dem doppellagigen Vorhang reflektierter Realität das schützende Dunkel der Welt da draußen zu erkennen, versucht sie ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen.
Sie hört die vielen Sch’s und scharfen S, die ihr das Gefühl geben unter Schlangen zu sein. Sie hört das Murmeln in unterdrückten Tonlagen, das Raunen und Räuspern.
Es ist noch viel bedrohlicher als das spitze Zischeln, denkt sie und spürt wie ihr Gesicht rot wird, weil sie den Atem anhält.
Die stoische Ruhe, in der sie dort sitzt, ganz allein in einem Viererabteil einer ansonsten überfüllten Bahn, die Beine übereinander geschlagen, ist nur Fassade. Das weiß sie, denn sie selbst sieht sich zucken, während ihre Muskeln krampfen bei dem Versuch ihre Seele vor den Stimmen zu bewahren… sie einzuschließen in ihrem erstarrten Körper.
Sie möchte jede Ritze, jede Öffnung ihres Leibes schließen, und erschrickt, als sie in der zaghaft zugelassenen Wahrnehmung jener Realität im Fensterglas ihr Gesicht erblickt.
Ein Gewitter auf der Stirn, die Augen misstrauisch zusammen gekniffen, den Mund zu einem stummen Schmerzesstöhnen geöffnet, das tief in ihr hallt. In konditionierter Erwartung des nächsten verbalen Tiefschlages, den sie nicht wörtlich hören wird, aber ahnen hinter all den ah’s und oh’s, dem emsigen Summen der Stimmen rings um sie herum.
Schnell schließt sie ihn und presst ihre Schenkel noch fester zusammen.
Verächtliches Gekicher, entnervtes Seufzen… die Bremsen des Zuges, das Nerven zerreißende Piepen, bis die Tür sich schließt… intonierte Grausamkeit.
Wieder eine Haltestelle weniger, denkt sie und wartet auf die erlösende Entspannung bei diesem Gedanken.
Doch sie stellt sich nicht ein, viel zu bewusst ist ihr die Tatsache, dass noch viele folgen werden und sie nicht weiß, ob sie es noch lange aushält.
Sie möchte weinen, vor Verzweiflung. Sie fühlt sich bloß und im Focus aller Blicke.
Aber nein!! Das darf sie nicht! Was würden die Leute denken?!
Es ist egal, was sie denken, sagt sie sich.
Sieh sie an! Sieh sie alle an! Mahn sie ab mit deinem Blick! Zeig ihnen, dass du weißt, was hier läuft…, deine Verachtung für das, was sie tun. Wer sind sie, dass sie es wagen?! Wer bist du, dass du es hinnimmst?!
Sie schließt ihre Augen für einen kurzen Moment, um den aufsteigenden Tränen keinen Durchlass zu gewähren. Sie nimmt das Brennen in ihrem Schritt wahr und fragt sich warum sie immer enge Hosen trägt. Ein besseres Körpergefühl, denkt sie sich…,
festes Fleisch in engem Stoff…, näher an sich selbst. Eine Rüstung, ein Panzer, in dem sie durch die Welt schleicht.
Wieder hält der Zug, Menschen steigen aus, werfen ihr im Vorbeigehen Blicke zu, und sie fragt sich warum, obwohl sie weiß, dass sie sich nicht wundern muss.
Die Vernunft sagt ihr, dass jeder schaut, weil sie sich seltsam benimmt.
Das Gefühl sagt ihr, dass sie es gerade deshalb tut.
Der nächste Aufhänger schierer Verzweiflung.
Warum kann sie nicht einfach jemand von vielen sein, anstatt die Eine im Hexenkessel. Warum wirkt ihre Ignoranz nicht auf die anderen, warum ist sie so durchschaubar, was sehen die anderen?
Ihre Gedanken rasen, die Zeit jedoch scheint still zu stehen.
Im Geiste zählt sie die Stationen ab und versucht sich auf das Gefühl vorzubereiten, dass sie umfangen wird, wenn sich der Ausstieg nähert. Wenn sie den langen Weg zu den Türen gehen muss, vorbei an anderen Fahrgästen… nah, ganz nah an ihnen vorbei, zitternd und doch mit herausforderndem Blick, so hofft sie.
Sie wünscht sich wirklich, dass es bald so weit ist, denn sie hat Angst davor, sich nicht mehr bewegen zu können, wenn es noch länger dauert.
Sie hofft, dass sie neben all der Schwäche und Angreifbarkeit genügend Stolz ausstrahlen wird, um den letzten hämischen Blicken standzuhalten und die geringschätzigen Worte in ihre Kehlen zurück zu stopfen, noch bevor sie zum höhnenden Abschied über ihre Lippen strömen, um sie in die Freiheit hinter der den hydraulisch bewegten Gittern ihres mobilen Gefängnisses zu entlassen.
Sie spürt die Nässe der Angst unter ihren fest zusammen gepressten Armen, ihr Bauchhirn meldet sich zu Wort und dröhnt ihr seinen Zweifel entgegen.
Sie fühlt fast Dankbarkeit dafür, dass das Echo ihres Würgereflexes anscheinend heute ausbleibt.
Die Kraft der Selbstsuggestion, denkt sie ein wenig stolz und ist sich sicher dass die Verhaltenstherapie vor zwei Monaten nun zumindest teilweise Früchte trägt.
Noch zwei Stationen.
Bei der nächsten Gelegenheit wird sie aus dem Dunkel hinter der Scheibe heraustreten, sie wird die Menschen anblicken, die aus- und einsteigen… ja, das wird sie!
Sie wird sich selbst und sie herausfordern, überprüfen, die Kontrolle zurück gewinnen… ja, das wird sie!
Die Bremsen quietschen, die Bahn hält… niemand steigt aus, und nur einer steigt ein.
Ein Säufer, der sich nur schwerlich auf den Beinen halten kann und besorgniserregend lange auf der Schwelle zur Twilight Zone stehen bleibt, in der sie sich bereits befindet.
Er riecht nach vergorenem Alkohol und dem Urin, der sich dunkel auf seiner fleckigen und zerrissenen Jeans abzeichnet.
Irgendwie fühlt sie sich betrogen um die letzte Chance die Kontrolle zurück zu gewinnen, denn keiner bemerkt sie noch. Keiner dem sie den, an ihr begangenen, Affront entgegenschmettern könnte.
Stattdessen wenden sich alle Blicke ab und folgen dem Alten, der stolpernd in eine der Viererkojen fällt, die am gegenüberliegenden Ende des Wagons frei werden, sobald er sich nähert.
Andererseits fühlt sie die Erleichterung, die sich tief drinnen regt. Tief drinnen, wo die Angst vor Konfrontation zu Hause ist, tief drinnen in ihren Därmen.
Die Erleichterung die endlich dafür sorgt, dass ihr Puls sich verlangsamt und sich die Klammer um ihre Brust öffnet.
Sie fühlt die Schuld nach oben steigen, während sich die Bahn wieder in Bewegung setzt, sie hört das altbekannte Zischeln, das Raunen und Kichern, die Sch’s und scharfen S, die ihr bedeuten, dass die Schlangen ein neues Opfer gefunden haben.
Die Schuld daran, es als Gnade zu empfinden… und den Kampf gegen sich selbst zu verlieren.
Sie spürt keinen Stolz, als sie an den anderen vorbei zum Ausgang geht, lange bevor die Haltestelle erreicht ist, sie fühlt sich vernichtet.
Sie lässt ihren Blick noch einmal in die Runde schweifen, doch er wird nicht erwidert.
Als die Dunkelheit sie aufnimmt, nachdem sich die Türen einletztes Mal öffnen, fühlt sie sich seltsam entrückt.
Sie zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief, bleibt stehen, bis der Zug in der Ferne verschwindet, dann wendet sie sich langsam ab und geht.
Wenn sie heim kommt, wird sie an den Spiegel treten…. sich selber suchen und nicht finden.
Sie wird einen Lippenstift nehmen, den sie nie trägt, weil er viel zu auffällig ist und die Worte
Dr. W.
Neuer Termin!!
darauf schreiben…