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Fremdkörper

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06.02.2001
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Fremdkörper

Das kleine Geschenk in Malis Händen ist sehr schwer und sie weiß nicht, wie lange sie es noch halten kann. Es ist in gelbes Geschenkpapier eingewickelt und ihr ganz fremd. Trotzdem ist Mali froh, dass sie etwas hat, woran sie sich festhalten und worauf sie sich konzentrieren kann.
Sie geht die Straße entlang. Sie friert. Und trotzdem kann sie nicht erleichtert sein, als sie das Haus erblickt und die Stimmen im Haus an ihr Ohr dringen. Sie öffnet das Gartentor, geht die wenigen Stufen zur Haustür hinauf und bleibt stehen. Sie starrt die Klingel an, liest die Namen von Verwandten und versucht, Gesichter, die sie schon mal gesehen hat, den Namen zuzuordnen. Sie streckt den freien Arm aus, berührt die Klingel mit einem Finger, hört das Schrillen und Läuten im Innern des Hauses – und wartet.
Peter, der auch irgendwie mit Mali verwandt ist, öffnet die Tür, starrt sie an, blickt dann auf das Geschenk in ihren Händen, an dem sie sich festklammert, lächelt und sagt: Sieht man dich auch mal wieder. Komm rein.

Mali sitzt auf der Couch, hat nichts mehr, woran sie sich festhalten kann und unterdrückt den Impuls, nach den Zigaretten in ihrer Gesäßtasche zu greifen. Sie sitzt neben Toni, der auch irgendwie mit ihr verwandt ist und von seiner Freundin erzählt. Kinder krabbeln auf dem Boden herum, stoßen immer mal wieder gegen ihre Beine, schauen sie wie eine Unbekannte an und verschwinden dann wieder. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher – die Verwandten versuchen ihn mit ihren Stimmen zu übertönen. In der Küche schleudert die Spülmaschine Wasser gegen das Geschirr, im Esszimmer spielen lachende Gesichter Karten und immer mal wieder taucht die Hausfrau auf und fragt, ob genug zum Trinken da sei.
Mali sitzt auf der Couch und traut sich nicht, die Beine übereinander zu schlagen, Toni anzuschauen, mit irgendjemandem zu reden. Sie mustert eine Schale Erdnüsse auf dem Tisch, die vor ihr steht und hin und wieder wirft sie dem Fernseher im Zimmer einen Blick zu. Sie unterhält sich mit unsichtbaren Gesichtern auf der Mattscheibe, ist nicht dankbar für deren Anwesenheit, denkt an ihre Zigaretten und führt Gespräche mit fremden Augen, die sie anstarren und erst dann wegsehen, wenn sie den Blick zuerst abwendet.
Toni erzählt von seiner Freundin, tippt Mali irgendwann an und fragt sie etwas. Sie versteht es nicht gleich und er wiederholt wiederwillig seine Frage, rollt in Gedanken mit den Augen, dreht seinen Körper etwas zur Seite.
Was machst du eigentlich so, will er wissen.
Mali überlegt und antwortet ihm erst, nachdem er aufgestanden ist und sich weggesetzt hat.

Sie entdeckt eine Uhr. Aber es fällt ihr schwer, sie anzusehen, ohne sich den Hals zu verrenken. Mali würde gerne wissen, wie lange sie schon versucht, nicht aufzufallen. Ein kleines Mädchen setzt sich neben ihr auf die Couch und zupft an ihrer Hose und ihrem Pullover herum, der ihr viel zu groß ist und bis zu den Knien geht. Mali sucht in den Gesichtzügen des Mädchens irgendeine Ähnlichkeit mit Gesichtszügen von sich selbst – und kann keine finden. Dann versucht sie, Ähnlichkeiten des Mädchens mit ihren Eltern herauszufiltern, um zu erfahren, wohin es gehört.
Duuuuh, sagt das Mädchen und grinst sie an. Duuuuhhh... Immer wieder. Wer bist duuuhuuu?
Mali, antwortet sie und die Buchstaben kommen ihr fremd vor. Ich heiße Mali und wer bist du?
Das Mädchen sieht sie verwirrt an, wirft die Locken auf die Schultern zurück und sagt: Ich bin Lea, kennst du mich denn nicht?

Im Wohnzimmer wird es immer wärmer. Die lauten Stimmen hallen in Malis Kopf umher. Sie denkt an Höhlen, durch die sie wandert. Sie sucht den Ausgang; es ist furchtbar dunkel und sie kann ihn nicht finden. Der Alltagsregen prasselt auf sie nieder, manchmal läuft sie gegen Tropfsteine, an denen sie sich versucht, festzuhalten, die allerdings viel zu klitschig sind, um sich auch nur an ihnen emporzuziehen. Sie denkt: Vielleicht ist es draußen schon dunkel und ich muss einfach warten, bis es hell wird.
Mali setzt sich auf den Boden der Höhle, kauert sich in eine Ecke und wartet, während der Alltagsregen sie langsam durchätzt.

Sie steht auf und geht ins Esszimmer, sie bedankt sich mechanisch, wofür, weiß sie nicht. Sie greift nach ihrer Jacke und zieht sie an. Vertrautheit macht sich in ihr breit, sie fühlt sich wie ein Nackter, dem jemand eine Decke übergestreift hat. Ihr fällt wieder ein, wer sie ist; ihr Name gleicht keinem Fremdkörper mehr. Sie kann ehrlich lächeln, verabschiedet sich distanziert – und verlässt das Haus.
Es ist schon dunkel draußen. Dafür ist es in der Höhle hell geworden und sie hat den Ausgang doch noch gefunden.
Mali kramt im Gehen nach ihren Zigaretten, schaut zum Mond empor, lächelt, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch zu den Sternen.

 

Hallo stephy,

deine Geschichte hat mich sehr berührt, vielleicht weil ich mich so gut in deine Protagonistin hineinversetzen konnte.
Ich weiß zwar nicht, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege - aber ich nehme an, Mali hat eine Soziophobie - oder zumindest etwas, das in diese Richtung geht.
Kann aber auch sein, dass Mali einfach nur keine Lust auf den Besuch hat - und erst recht keine Lust, belanglose Gespräche mit Personen zu führen, denen sie eigentlich nichts zu sagen hat.

Hm ja... schwierig etwas dazu zu sagen - deine Geschichte hat mich - wie gesagt - berührt und das macht es problematisch noch irgendetwas Objektives dazu zu sagen.
Eines vielleicht - solltest du mit deiner Geschichte tatsächlich die Soziophobie thematisieren so ist mir das ein bisschen zu wenig Inhalt. Erklären wirst du das ganze in einer Kurzgeschichte zwar nicht können, aber zumindest ist es möglich, dem Leser einen Einblick zu verschaffen. Und der Einblick fällt hier für meinen Geschmack einfach zu kurz aus.

Zwei Details:

Kinder krabbeln auf dem Boden herum, stoßen immer mal wieder gegen ihre Beine, schauen sie wie einen Unbekannten an und verschwinden dann wieder.

Hier würde ich "eine Unbekannte" doch besser finden.

Sie mustert eine Schale Erdnüsse auf dem Tisch, der vor ihr steht und hin und wieder wirft sie dem Fernseher im Zimmer einen Blick zu.

..., die vor ihr steht
(Ich nehme an, die Schale war zuerst ein Teller?)

Lieben Gruß, Bella

 

Hallo Bella!

Vielen lieben Dank für Deine Kritik! Ich freue mich sehr darüber, daß Dir die kleine Geschichte zugesagt hat! Deine Korrekturen habe ich sofort übernommen, sind mir wohl beim Korrigieren durch die Lappen gegangen. :hmm:

Die Geschichte hab ich - beim Durchforsten des Computers meiner Eltern zuhause - wiederentdeckt, sie ist schon etwas älter; von 2004 und ich weiß noch, daß ich sie nach einem Verwandtschaftsbesuch geschrieben habe. Ich wußte auch nicht recht, wo ich sie posten sollte; ob in "Jugend" oder in "Alltag" oder in "Gesellschaft"... Eine Soziophobie hatte ich eigentlich nicht im Sinne gehabt, aber das ist eine gute Idee. Ich werde mir überlegen, wie ich sie ausbauen kann, um das darzustellen.

Vielen Dank für Deine Kritik! Und es freut mich sehr, daß die Story Dich berührt hat! :)

Liebe Grüße
stephy

 
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Hoi stephy
ja, da liegt noch viel Potential drin. Ich finde Deine Geschichte auch gut - lese aber noch zu viel zwischen den Zeilen, was eigentlich hinein gehört...

Im Wohnzimmer wird es immer wärmer. Die lauten Stimmen hallen in Malis Kopf umher. Sie denkt an Höhlen, durch die sie wandert. Sie sucht den Ausgang; es ist furchtbar dunkel und sie kann ihn nicht finden. Der Alltagsregen prasselt auf sie nieder, manchmal läuft sie gegen Tropfsteine, an denen sie sich versucht, festzuhalten, die allerdings viel zu klitschig sind, um sich auch nur an ihnen emporzuziehen. Sie denkt: Vielleicht ist es draußen schon dunkel und ich muss einfach warten, bis es hell wird. Mali setzt sich auf den Boden der Höhle, kauert sich in eine Ecke und wartet, während der Alltagsregen sie langsam durchätzt.
Diesen Abschnitt meine ich. Er kommt inhaltlich etwas unvermittelt daher. Vielleicht könnte sie an 'ihre' Höhle denken - vielleicht eine Kindheitshöhle, in der sie Schutz suchte, vor was auch immer: zu viele, zu laute, zu derbe Menschen.
durchätzt
finde ich nicht gut, 'durchnässt'? Oder was ist denn ätzend an dem 'Alltagsregen'? Lass mich damit nicht allein als Leserin, sonst schreibe ich im Kopf meine eigene Geschichte und ich möchte doch die von Mali.
Vertrautheit macht sich in ihr breit, sie fühlt sich wie ein Nackter,
wie eine Nackte
Aber, wie Bella, bin auch ich sehr angetan von Deiner Geschichte.
Herzlich, Gisanne

 

Hallo stephy,
nichts mit Gesichtern anfangen können, Unfähigkeit zur emotionalen Verbindung zu anderen Menschen und die Fixierung auf Gegenstände sind Symptome des Autismus. Insofern hat die Geschichte Potenzial, denn es wäre tatsächlich sehr spannend mal die Sicht eines Autisten auf die Welt zu erfahren. Hier ist es nur ansatzweise nachvollziehbar: Warum besucht Mali überhaupt die Verwandschaft.

wiederwillig - widerwillig
klitschig - glitschig

Gruss
Kasimir

PS
Was hat es eigentlich mit dem gelb eingepackten Geschenk auf sich?

 

Hallo Kasimir,

vermutlich muß Mali zu einem Geburtstag, daher das Geschenk. ;) Ich habe das nicht extra erwähnt, weil es mir nicht wichtig erschien; es gibt unzählige Anlässe, bei denen man schenkt und bei denen man auf die lieben Verwandten trifft - oder ist das nur in meinem Umfeld so? :hmm:

Dein Hinweis auf Autismus ist sehr interessant. Ich traue mir allerdings nicht zu, etwas aus der Sicht eines autistischen Mädchens zu schreiben, denn in dieser Hinsicht weiß ich einfach zu wenig darüber. Würde ich wieder recherchieren für eine Geschichte, würde die Geschichte nichts werden, das hab ich an anderen Stellen bereits öfters bewiesen. :D

Danke Dir fürs Lesen und für die Korrekturen! :)


Hallo Gisanne,

das mit dem Zwischen-den-Zeilen-lesen-müssen (welch Wort! :D) war von mir so beabsichtigt; ich wollte die Geschichte so offen wie möglich lassen und somit dem Leser Raum für eigene Gedanken geben (ich vermute, diese Art zu schreiben fing bei mir vor drei Jahren schon an).

Dieses "durchätzt" war eigentlich als Metapher gemeint; das Alltägliche, ein Verwandtschaftsbesuch z.B. oder eine Geburtstagsfeier zu der sie hin muß, ist ihr sehr, sehr unangenehm; in einer solchen Situation fühlt sie sich fremd und diese Fremde durchdringt sie dann auf unangenehme Art und Weise bzw. prasselt auf sie ein.

Ansonsten werde ich natürlich über Deine Kritiken nachdenken und sie evtl. übernehmen. Vielen Dank fürs Lesen auch Dir! :)

Liebe Grüße Euch allen
stephy

 

Hallo Stephy,

auch ich fand die Geschichte recht nahegegend. Die trostlose Stimmung hast du in meinen Augen gut eingefangen. Dennoch stoße ich ins gleiche Horn wie meine Vorposter und hätte doch gerne ein bisschen mehr erfahren. So wirkt das ein bisschen abgehackt. Schade finde ich das, weil sich der Teil, den du uns hier vorsetzt, wirklich gut lesen lässt. Aber er lässt ein unbefriedigendes Gefühl zurück.
Eine Sache noch:

Mali, antwortet sie und die Buchstaben kommen ihr fremd vor
Hier kannst du nicht von Buchstaben sprechen. Das sind lediglich Repräsentanten der geschriebenen Sprache. Da ihr der eigene Name aber nicht beim Schreiben, sondern beim Hören seltsam vorkommt, musst du hier von Lauten sprechen.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Stephy,

manchmal dachte ich laut "Ich auch", als ich deine Geschichte las und dann spürte ich dieses bittere Gefühl in mir aufkommen: Du hast etwas ausgesprochen, das ich von mir selbst nicht wissen wollte.
Vielen Dank.
Die besten Geschichten sind immer noch die, die uns Unbehagen bereiten, denn sie bereiten uns Unbehagen, weil sie wahr sind und uns den Finger genau dort auflegen, wo die Wunde am tiefsten - und wir am bedürftigsten sind.
Sehr gut! :) Mach weiter so!

Liebe Grüße
Backwater

 

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