Freundschaft
Freundschaft ist die Blüte eines Augenblicks und die Frucht der Zeit.
„Komm ich helfe dir.“
Markus reichte mir seine Hand. Ich ergriff seine kalte Hand, und er zog mich hoch. Endlich hatten wir es geschafft, wir waren oben angekommen. Ein kühler Wind wehte mir ins Gesicht. Es war kalt, ich knöpfte mir die Jacke zu, trotzdem zitterte mein Körper. Wir schauten hinunter in die Tiefe. Kleine schwarze Punkte waren zu sehen, sie sahen aus wie Ameisen, aber es waren Menschen. Unter ihnen waren Menschen, die Schuld daran waren, dass wir hier oben standen. Von hier aus sah alles friedlich aus, doch wieder einmal täuschte der Anschein.
Die Welt ist außerhalb der Irrenhäuser nicht minder drollig als drinnen, dachte ich.
Ich schaute zu den Fördertürmen der Kohlegrube. Sie standen seit einiger Zeit still, es gab keine Kohle mehr. Auf der anderen Seite ragten die Schornsteine des Stahlwerks in den Himmel. Sie rauchten seit Jahren nicht mehr und sahen wie Mahnmale aus. Kalt und drohend blickten sie auf die Menschen. Sie gehörten der Vergangenheit an und ermahnten die Zukunft.
„Sie haben sich aufgegeben. Mein Vater musste auch seine Arbeit aufgeben. Nun will er in seine Heimat, dort rauchende Schornsteine suchen, vielleicht haben sie Arbeit für ihn.“
Markus hatte sich an den Rand des Daches gesetzt. Seine Beine baumelten herunter. Ich setzte mich neben ihn und wir rückten eng zusammen, damit uns warm wird. Eine Weile sprach keiner von uns beiden ein Wort. Dann fing Markus an zu lachen. Er fragte mich, wie wir das Fundament dieses Hauses gelegt hatten.
„Natürlich kann ich mich daran erinnern, der Fußball war es. Wir haben uns beim Sportunterricht unterhalten und dann auch danach. Wir haben uns beim Fußball sehr gut ergänzt.“
„Nicht nur beim Fußball“, warf Markus ein.
„Wir haben uns sehr oft aus der Klemme geholfen.“ Wieder unterbrach mich Markus: “Die meisten Menschen konnten nicht verstehen, wie gut wir uns verstanden haben. Erinnerst Du dich an die Lehrerin, die uns gefragt hat, ob wir noch heiraten würden?“
Bei dem Gedanken an Frau Breuer musste ich lachen. „Nicht einmal unsere Freundinnen konnten es verstehen.“
„Ja, die Katja war am schlimmsten...“
Diesmal unterbrach ich Markus: „Über die möchte ich jetzt nicht reden.“
„Wieso? Drei Etagen hast Du ihr gewidmet. Das sind immerhin drei Jahre!“
„Es war eine schöne Zeit, mit einem bitteren Ende. Wie heißt es im Deutschen immer, alles Schöne hat ein Ende.“
„Glaubst Du, dass dieser Tag auch bitter enden wird?“
„Ich weiß es nicht.“ Ich verschwieg Markus, dass der Tag – jedenfalls aus meiner Sicht – ein solches Ende haben wird. Ein nicht gewollter Abschied ist immer bitter. Zwanzig Jahre meines Lebens werden an einem Tag ihr letztes Kapitel schreiben. Aber daran wollte ich nicht denken. Ich schaute zu Markus und es schien, als würde er das gleiche denken. „Sollen wir“, fragte ich. Anstatt zu antworten nahm Markus meine Hand und wir stürzten uns in die Tiefe.
Wie in Zeitlupe kamen wir auf unserem Flug in die Tiefe an der 7.Etage vorbei. Diese Etage war gefüllt mit unseren Urlaubserinnerungen. In der 6.Etage konnten wir die Abiturzeugnisse sehen; wir hatten zusammen Abi gemacht. Eine Etage tiefer waren Katja und Simone zu sehen, unsere damaligen Freundinnen. Und so ging es weiter nach unten...
„Wach auf Ali“, sagte eine Stimme. Es war meine Mutter. „Wir müssen los, Dein Vater wartet schon, es ist alles gepackt. Markus wartet auch.“
Ich stand auf und ging in das leere Wohnzimmer. Markus stand am Fenster und schaute auf die Straße.
„Hallo Markus.“
„Merhaba Ali.“ Er drehte sich nicht zu mir. Ich ging zum Fenster und schaute auch hinaus auf die Straße. Es regnete. Im Zimmer war es kalt, wir rückten zusammen, um die Kälte zu vergessen.
„Ich hatte einen komischen aber schönen Traum von einem Haus. Wir standen auf dem Dach und sind gesprungen...“
Ich unterbrach Markus: „Ich weiß. Ich kenne diesen Traum, aber erzähl weiter, die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können....“