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Friedrich und Frieda

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11.07.2021
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Friedrich und Frieda

Also denk' ich halbes Weib:
"Biete auf den Jahrmarkt dich an
Als Dame ohne Unterleib!"
Ich stehe hier und unten steh'n die Männer
Knapp vor dem Abi bis knapp vor dem Grab
Und glotzen auf den Teil, den ich ja gar nicht hab' – ja!

Was denn? Nina Hagen**

Zack und Schnitt.
Und schon bin ich auf die Schnelle ein Kilo leichter. Wieviel wiegt sowas eigentlich in Wirklichkeit? Das war kurz und schmerzlos. So einfach hätte ich es mir gar nicht vorgestellt. Ein Körperteil, den zu benennen, als obszön gilt, fehlt jetzt. Natürlich von fachmännischer Hand ausgeführt. Ich habe ihn schließlich nicht einfach vor mir auf den Hauklotz gelegt. Bisher hatte ich das Privileg mit diesem Teil durch die Gegend zu wandeln. Jetzt habe ich ihn hier in einem Glas mit Formalin zu schwimmen.

Viele wussten ja nicht, dass ich bis vor kurzem als Friedrich unterwegs war.
Ging es mir darum, dass ich, als ich noch ein Mann war, entdeckte, dass ich mich zu meinem Geschlecht hingezogen fühle? Das war ganz und gar nicht der Grund. Viel mehr war es mir darum zu tun, in die Rolle einer Frau hineinzuschlüpfen, um zu büßen, was wir Männer ihnen über die Jahrtausende angetan haben, einfach indem ich es an mir selbst erfahre. Ich will sozusagen etwas wieder gut machen. Natürlich weiß ich, dass das niemandem was nützt, aber ich wollte nicht mehr zur privilegierten Klasse gehören. Das dachte vor mir schon der Heilige Franziskus, der sich seiner weltlichen Güter völlig entblößte und das Leben der Benachteiligten führte.

Und ich habe Glück. Seit die Hauptsache nicht mehr da ist, bilden sich bei mir von allein weibliche Rundungen aus. Sogar meine Stimme trifft höhere Töne. Alle halten mich für eine Frau.

Mit der neuen Leerstelle zwischen meinen Beinen gehe ich in eine Kneipe. Das war immer mein Lieblingsort, weil es meinem Bedürfnis, mich mit Fremden auszutauschen entgegenkam. Man könnte auch Neugierde dazu sagen. Doch was muss ich jetzt als Frau erleben. Meine Bemühungen, ein Gespräch anzuknüpfen, werden abgebügelt. Ich habe das Gefühl, dass mich alle für eine versoffene Schlampe halten, die es noch mal wissen will. „Der öffentliche Raum gehört dem Mann“, habe ich mal gelesen.

Wie hab ich doch früher als Kerl die Kneipenseligkeit genossen und mit den Anderen politisiert.
Vor dem Tresen war ich meinem Element und habe das große Wort geschwungen. Soll ich jetzt etwa nach Hause gehen und den Fernseher anmachen und zukucken wie andere leben?“, frage ich mich. Das, was sie meisten Frauen so machen. „Ob man da wieder was annähen kann?“, geht mir durch den Kopf.

Die Männer in der Kneipe folgen mit begehrlichen Blicken zwei Siebzehnjährigen, die gerade Platz genommen haben. Mich ignorieren sie völlig. Bin ich mit Fünfunddreißig etwas schon zu alt, um noch Interesse zu erwecken.
Sie werfen mir abschätzende Blicke zu, suchen mein Alter, meine soziale Stellung zu ergründen. Bin ich für sie auch kein Sexobjekt mehr, steckt in mir ja vielleicht eine solide Sekretärin und Powerfrau, die gut verdient und einen vom Leben geschurigelten Mann angemessen zu verwöhnen weiß, und an deren Schulter er die Tränen, die er wegen anderer Frauen weint, trocknen kann. Vielleicht gibt er mir sogar die Ehre und zieht bei mir ein und befreit mich vom Makel der Einsamkeit, das wie ein Damoklesschwert über mir schwebt, als eine der wenigen Frauen in dieser Kneipe.

Jetzt wird die Leute interessieren, wie es kommen konnte, dass ich zu dem fanatischen, männlichen Feministen wurde, der ich bin, der sogar Opfer am eigenen Leib in Kauf nimmt, um seiner Sache zu dienen.
Ist dafür wirklich der einzige Grund, dass ich mit einer alleinstehenden Mutter aufgewachsen bin, und mein Vater sich nie blicken ließ? Dass sie alleinerziehende Mutter war, machte sie übrigens zu allem anderen als einer Frauenrechtlerin, ganz im Gegenteil.

Sie hielt sich an die von Gesellschaft vorgegebenen Verhaltensmuster und hatte Angst bei Nichtbefolgung ausgestoßen zu werden.
Ihre übermäßige Anpassung und Selbstverleugnung führte auf der Gegenseite, bei mir, zur Widerspenstigkeit.

Sie war eine Frau ihrer Klasse, in dem Falle des Kleinbürgertums, und hatte sich damit abgefunden, nichts Besonderes zu sein. Die übermäßige Anbetung des praktischen Nutzeffekts, der ihr eingeimpft worden war, führte zu einer Ablehnung aller künstlerischer Talente. Meine Mutter wollte ein Leichentuch über meine Fantasie legen, so wie sie auch schon geschafft hatte, ihre einzudämmen.

Obwohl ich mit meiner Mutter ständig im Clinch lag, ist es ihr trotzdem gelungen, mir eine Mutlosigkeit anzuerziehen, oder ich habe sie von ihr übernommen, die gegen alle inneren Widerstände immer wieder in mir hochkommt.
Meine Mutter hat sich selbst als schwach betrachtet und ihr Heil in der Anpassung gesucht. Sie kannte aber nichts anderes.
Mädchen dagegen, die nach ihr auf die Welt kamen, standen auf Konzerten von Janis Joplin, Patti Smith oder Nina Hagen, klatschen begeistert und machen dann trotzdem alles so wie ihre Mütter und Großmütter. Solche feministischen Songs sind meiner Mutter in ihrer Jugend nie zu Ohren gekommen.

Sie äußerte sich immer sehr negativ über junge, lebenslustige Mädchen, die ins Gerede gekommen waren und bedachte dabei nicht, dass ihre Branche, die Pädagogik, ja davon lebte, dass die Leute es zusammen treiben und später kommen Abc-Schützen dabei zustande. Als die Leute nach Mauerfall weniger Kinder zeugten, musste die Oberstufe unserer Dorfschule in die nächste Stadt ausgelagert werden. Heute droht der Schule die Schließung.

Es dünkt mir heute ziemlich verwunderlich, dass ich freiwillig das selbe Geschlecht angenommen habe wie meine Mutter.

Auch schon in meiner Zeit als Mann las in Biografien immer besonders interessiert, wie es den Partnerinnen des Dichters, Malers, Musikers erging. Ich fühlte mich deshalb mit betroffen, als ich erfuhr, dass die erste Freundin von Picasso, Fernande, nach dem Ende der Beziehung alle Kontakte zur Malerszene verlor, oder dass E.T.A. Hoffmann für seine Frau keine Rentenversicherung abgeschlossen hatte, so dass sie später keine Witwenpension bezog, wie es üblich war. Egon Schiele, über den ich einen Film sah, hat ebenfalls seine erste Geliebte, die mit ihm durch dick und dünn ging, entsorgt.

Auch ein Podcast über wahre Kriminalfälle trug dazu bei, dass ich mich für uns Männer schämte. Es ging um Gruppenvergewaltigung.
Gleiches kann mir nicht passieren, da ich da unten nichts habe.
Eine junge Frau wurde mit KO-Tropfen in einen hilflosen Zustand versetzt. Sie zeigte die Vergewaltigung an, die Typen waren bald ermittelt. Doch der Staatsanwalt erhob keine Anklage. Die Täter behaupteten nämlich, dass die Sache einvernehmlich vor sich gegangen war. Die Frau war blau und grün geschlagen und hatte an den Oberschenkeln Bisswunden bis aufs Fleisch. Und eine gewisse Körperstelle war malätriert worden, als wenn sie aus Stahl wäre.

Das war´s dann mit dem „Wahren Kriminalfall“. Ich wollte empört beim Sender anrufen, tat es aber doch nicht. Was wollten sie mit der Ausstrahlung bezwecken? Das niemals wieder eine Frau Vergewaltigung anzeigt?

Und dann las ich mal im Stern, dass eine Anwältin Frauen davon abriet, sowas anzuzeigen. Wo sind wir hier? Im Mittelalter?

Warum stößt es eigentlich keinem sauer auf, das die volkstümliche Bezeichnung für das Organ, das der mehrstündigen Benutzung durch fünf Männer nur unzureichend standgehalten hatte, V...e, die stärkst mögliche Beschimpfung ist. Jeder Mann, dem man dieses Wort an den Kopf werfen würde, würde kämpfen bis zum Umfallen, weil er sich so dermaßen in seiner Ehre beleidigt fühlt. Und gerade dieses geschmähte Organ sichert den Fortbestand der Menschheit. Daraus sind wir alle hervorgekommen.

Ebenfalls zum männlichen Feministen machte mich das Schicksal meiner ersten Unterstufenlehrerin. Sie erlitt als junge Frau einen Schlaganfall, lag Wochen im Koma, Später saß sie dann jahrelang im Rollstuhl, lernte aber wieder laufen. Ihr Mann hatte sie schon nach kurzer Zeit mit den beiden Kindern alleingelassen und sich seiner Praktikantin zugewandt.
Die Leute im Dorf, auch die Frauen oder die noch besonders, hatten vollstes Verständnis dafür, dass ihr Mann sie verlassen hatte. „Was soll er mit einer kranken Frau?“ „Das könnt ihr doch nicht ernst meinen?“, dachte dagegen ich.

Aber auch sie ist dadurch keine Feministin geworden, sondern erzählte Freundinnen, sie liebe den Treulosen immer noch. Ich verstehe das. Du bist ja so auf ihn fixiert, dass du von niemanden anders was willst. Hat die Natur so eingebaut, um Beziehungen zu schützen. Ist bloß kontraproduktiv, wenn der Andere das gar nicht will.

Was habe ich denn da gerade wieder gelesen: „Deutsche fiel auf vier Beznessbetrüger rein und wurde 422 000 Euro los.“ Früher hätte ich behauptet: „Mir könnte das nicht passieren“. Mit den Jahren bin ich demütiger geworden, und bin da gar nicht mehr so sicher. Uns Frauen ist von Kindesbeinen eingeimpft worden, dass Liebe das Höchste ist. Das macht uns angreifbar.
Sinngemäß schrieb die Wissenschaftlerin Nadia Celis: „Liebe ist der Artefakt in diesen patriarchalen Gesellschaften, der garantiert, dass die Frauen ihre eigene Selbstständigkeit und Wünsche unterdrücken und sich noch glücklich fühlen dabei.“ Sie meint das zwar auf Kolumbien bezogen, ist aber allgemeingültig.

Meiner Meinung nach verlieben sich Frauen immer deshalb so heftig und unerwidert, weil sie nichts anderes haben, auf das sie ihre Phantasie richten können. Man nehme ja mal die Tochter von Victor Hugo. Sie drehte völlig durch, wegen einem Kerl, der sich nichts aus ihr machte. Habe ich mal in einem deprimierenden Film gesehen.
Wahrscheinlich wendete sie dafür die gleiche schöpferische Energie auf, die ihr Vater für die Erschaffung großer Werke wie „Die Elenden“ benutzte, bloß bei ihr endete es schlecht.

Ich habe keine Lust mehr, mich zu verlieben, jetzt wo ich eine Frau bin. Ich bin dann nur wieder am Boden zerstört und kann noch nicht mal was draus machen. Ein Kerl, der Gitarre spielen kann, was mir nicht gegeben ist, hätte jetzt alles rausgeschrien, seinen besten Song draus gemacht. Öfter findet man es ja, dass Künstler, die Männer sind, unglückliche Liebesgeschichten ausbeuten, wodurch sie Ehre und Anerkennung einheimsen. So konnten sie aus Unglück Glück machen.


Wenn sich jetzt jemand aufregt, dass ich hier, statt mit meinen eigenen Erlebnissen, nur so um mich herum werfe mit Angelesenem, möge derjenige mir zu Gute halten, dass ich noch nie, weder in meiner Kindheit, noch beim Abi oder beim Studium, sowie im Kollegen-und Freundeskreis auf irgendeine Frau gestoßen bin, die mir irgendwas zum Thema Feminismus zu sagen wusste. Da bin ich auf Literatur und Medien angewiesen. Simone de Beauvoirs „Sitte und Sexus“ ist ja auch die blanke Zitatenauswertung.

Übrigens, die jüngste Tochter meiner Unterstufenlehrerin, die intelligent war und zur Widerspenstigkeit neigte, sah das Schicksal ihrer Mutter, das Versagen des Vaters. Aber auch die freche Tochter wurde keine Frauenrechtlerin. Sie versuchte es aber ganz anders aufzuziehen als ihre Mutter und schloss sich den Bluesern und Hippies an.
Dort gerieten viele Mädchen, die eigentlich aus ihrer vorgezeichneten weiblichen Rolle ausbrechen wollten, vom Regen in die Traufe, denn Frauen wurden dort stark unterdrückt. Das hat sie wohl auch irgendwann mal mitgeschnitten.

Nachdem die Gegenkultur sich nicht als der erhoffte Ausweg erwies, erfüllte sich letztendlich auch an ihr die Hoffnung der Gesellschaft, dass sich mit Heirat und Kindern die Rebellion der Mädchen in Nichts auflöst, denn dadurch hat sie wohl ihren Frieden geschlossen mit allem und sich eingefügt. So erzählte es mir jedenfalls meine Mutter, die immer alles wusste.

So wie die Frauen in dem neusten Bob Dylan Film wollen sie uns Frauen, ein Geschlecht zu dem ich nun auch gehöre. Seine Exen immer mit ihrem traurigen Blick, wenn er sie hängengelassen hat. Die Frau von Seeger war auch nicht besser. Den Streifen fand ich übrigens super.
Was hat Dylan bloß mit der Schönen veranstaltet? Die Muse von Andy Warhol. Sie kommt aber in dem Film aber gar nicht vor. Es gibt aber einen anderen, der sich um sie dreht. Wie hieß sie noch gleich? Wie kann man so jemanden bloß von der Bettkante schubsen.

So wie sie hatte ich mir Holly vorgestellt, meine Traumfrau, als ich noch ein Mann war. Aber Truman Capote hat „Frühstück bei Tiffany“ schon in den Fünfzigern geschrieben. Da kannte er sie noch gar nicht. Vielleicht war das Vorbild für Holly eher Marylin, seine gute Freundin.
Jetzt fällt mir ihr Name ein. Eddie Sedgwick. Die Augen allein schon. Sie war hübsch und wurde wohl nur auf ihre Schönheit reduziert. Am Ende das Übliche. Überdosis.

Ist das übrigens wirklich so ein Verlust für eine Frau, wenn so ein Typ wie Dylan sie verlässt? Wahrscheinlich bringt das nichts, wenn man sich mit so einem einlässt. Oder ist das auch wieder Quatsch? Mein Vater war schließlich auch kein Rockstar, und ich kenne ihn gar nicht.

Obwohl ich ein Mann war-bin, hatte ich schon immer großes Interesse an Frauenschicksalen verspürt. Schon damals mit der Schulklasse im Theater, als ich noch Friedrich war, hat mich am Faust das mit Gretchen am meisten interessiert. Die Sache mit der Erkenntnisgewinnung und dem Teufel hat mich völlig kalt gelassen. Damit ging es mir genauso wie M. Reich Ranicki. Ich bin im Theater auch erst aufgewacht, als die Stelle mit Gretchen kam.
Walpurgisnacht
Faust:
Mephisto, siehst d.u dort Ein blasses, schönes Kind allein und ferne stehen?
Sie schiebt sich langsam nur vom Ort,
Sie scheint mit geschloßnen Füßen zu gehen.
Ich muß bekennen, daß mir deucht,
Daß sie dem guten Gretchen gleicht.

Goethe als Frauenrechtler? Wahrscheinlich hat sogar die härtesten Fans von ihm verstört, als Schriftstücke in den Archiven auftauchten, aus denen hervorging, dass er maßgeblich daran beteiligt war, ein Mädchen, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, und um der Schande zu entgehen – den Rest kann man sich denken. Jedenfalls wurde sie auf Goethes Geheiß, sogar der Herzog, der selber viele uneheliche Kinder hatte, wollte sie begnadigen, aufs Schafott gebracht.
Keiner konnte verstehen, warum ausgerechnet der Verfasser der Gretchentragödie Jahre später sein OK zur Enthauptung von Johanna Catherina Höhn gab. Er muss in den elf Jahren, die zwischen der Erschaffung seines Urfausts und diesem Gerichtsurteil vergangen waren, zu einem völlig Anderen geworden sein.

Zu dem drastischen Schritt, kein Mann mehr sein zu wollen, entschloss ich mich, nachdem ich diese eine Begegnung hatte. Ich war nach Weimar gefahren, um die Stätten, an denen die Dichterfürsten gelebt hatten, aufzusuchen und wandelte nach Einbruch der Dunkelheit noch ein wenig im schönen Thüringer Land umher. Es war zufällig gerade die Zeit der Walpurgisnacht. Eine Kleingartenanlage an meinem Weg schmückte sich wichtigtuerisch mit dem Namen Galgenberg.

Kurz vorher waren mir ein paar Kinder begegnet. „Gehe nicht weiter, da oben sind die Hexen“, riefen sie mir hinterher. Ich lachte nur über ihre Worte und lief weiter. Eine ranke, schlanke Maid kam mir entgegen. Sie hatte sich wohl wegen eines Open Airs in der Walpurgisnacht kostümiert und trug Bauerntracht. Als ich in ihr Gesicht blickte, dass halb durch die weiße Haube verdeckt war, bemerkte ich, dass sie kein Haupt hatte.

Die Kopfbedeckung schwebte frei im Raum. „Eine sehr geschickte Maskerade“, dachte ich und ging weiter, neugierig geworden ob des Ziels, dem die Schritte des Mädchens galten. Auf einem Berg hatte sich die Bevölkerung von Weimar versammelt. Überall brannten Fackeln, so dass ich alles gut sehen konnte.

Alle trugen Kleidung der Zeit von Goethe und Karl August. Rufe ertönten: „Macht sie um einen Kopf kürzer das luederliche Frauenzimmer“. Da sah ich, dass der Berg eine Richtstätte war. Ein Mädchen stand dort, neben ihr der Henker mit dem Schwert. Ich erkenne in ihr die Maid wieder, die mir vorhin begegnet ist. Den Gesprächen rings um mich entnahm ich, dass sie Johanna Catharina Höhn heißt. Was warf man ihr vor? Das sollte ich bald in Erfahrung bringen, denn das Urteil wurde verlesen.

„Ich klage peinlich an zum erstenmahle, ich klage peinlich an zum andernmahle, ich klage peinlich an zum drittenmahle gegenwärtige arme Sünderin, Annen Catharinen Höhnin aus Tannroda, daß sie wieder das fünfte Geboth gehandelt, und das von ihr zur Welt gebohrne Kind vorsetzlich ermordet und um das Leben gebracht habe.“*

Die anwesenden Richter wurden nach ihrer Meinung befragt. Nach und nach erhoben sie sich und stimmten dem Urteil zu. Der Letzte sagte: ...„so selbigen in allen Stücken beizutreten und zu erklären daß auch nach meiner Meinung rähtlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten.“*

Mich durchfuhr es wie ein Blitz, denn ich kannte den Mann von Porträts her. Es war Goethe. Und er galt mal als Vertreter des Sturm und Drang, und jetzt war er als Inquisitor tätig.

„Der Nachrichter führte die Maleficantin mit der Hand nach dem Stuhl, setzte sie darauf nieder, band sie in zweyen Ort am Stuhl fest, entblösete den Hals und Kopf, und unter beständigem zurufen der Herren Geistlichen wurde ihr durch…einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt.“
*aus erhaltenen Akten des Jahres 1783 vom Weimaraner Gerichtshof

„Sie wollen ihr den Kopf abhacken, weil sie ge…t hat. So bedankt sich ein Mann, der auf sich hält, für erwiesene Wohltaten“, dachte ich.
Ihr Schicksal geriet in die Hände von Männern, für die sie Miss Niemand war, die nur an ihre Karriere dachten. Eine schwache Frau aus der Unterschicht gegen Beamte aus Adel und Bürgertum. Die Männergesellschaft hatte erst ihren Leib benutzt, um sich daran zu verlustieren, jetzt wollten sie ihr zum Dank dafür auch noch das Leben nehmen.

Hier konnten sie an der verhassten Spezies Frau endlich mal ungehindert ihren Frust ablassen. Sie haben sich bestimmt danach richtig gut gefühlt und es ist ihnen richtig einer abgegangen, wenn sie auf ihren Kebsweibern lagen, denn auch sie besaßen „Ihn“, der seine Rechte einforderte.

Wiesengrund Adorno dazu: ,“dass die gesellschaftliche Macht, wie immer auch unbewusst, denen den Tod wünscht, die für sie fälschlich die Lust verkörpern, die nicht sein soll.«
„Sexualtabus und Recht heute“

Man muss nicht erwähnen, dass sich danach an der Situation schwangerer, lediger Frauen aber so gar nichts änderte. Warum wohl auch? Solange man das Hackebeilchen bei der Hand hatte, war das Vaterland nicht verloren.

Kinderkriegen war schon erwünscht von der feudalistischen Ordnung, denn damals gab es nur wenig Maschinen, man brauchte Handarbeitskräfte. Die Fürsten benötigten Kanonenfutter. Das Problem war bloß: Die Kinder mussten ehelich geboren sein in einer von der Kirche legitimierten Beziehung.
„Ich hasse die Pfaffen.“ Das sagte schon Nietzsche und gab ihnen die Schuld an der Verteufelung der Sexualität, an der verlogenen Doppelmoral.
Die ganzen Gotteshirten müssten sich ja in Grund und Boden schämen dafür, was ihre Religion über die Jahrhunderte den Frauen angetan hat. Wenn sie wirklich so barmherzig waren, wie sie vorgaben zu sein, und der Begriff Pater heißt ja in Wirklichkeit Vater, hätten sie den Frauen geholfen. Stattdessen unterstellten sie die Kirche der Männergesellschaft und machten sich zu ihrem ausführenden Arm.

Die Frauen damals hatten selten mal ihre Regel, da sie immer schwanger waren, hab ich mal gelesen. Das ist mir, der vor kurzem noch Friedrich hieß, nicht gegeben. Soweit ist die Wissenschaft noch nicht.
Damals war angesagt: Beine breit machen. Entweder pfropft mir gerade jemand mit seinem Unaussprechlichen seinen Samen rein, oder es flutscht umgekehrt ein Kind aus mir heraus. Damals hatten viel mehr als zehn Kinder. Goethes große Liebe Charlotte Buff war das vorletzte von sechszehn.

Als ich später der Wirtin von der Pension, wo ich mich eingemietet hatte, von den Erscheinungen erzählte, reagierte sie überhaupt nicht überrascht. Ich muss wohl etwas bleich um die Nase ausgesehen haben, denn sie flößte mir erst einmal ein Wasserglas mit Rhöntropfen ein. Eine einheimische Likörsorte, die Wunder wirkt.
So was wie mir, war schon vielen widerfahren. „Die ganzen Kindesmörderinnen geistern immer noch mit dem abgeschlagen Kopf unter dem Arm durch die Gegend zwischen Weimar und Jena“, sagte sie. „Auch eine hingerichtete Urahnin von mir wurde schon gesichtet.“

Die Chefin der Pension erzählt mir auch: „In den Regierungsjahren Carl Augusts war es in Weimar üblich Frauen, die unverheiratet schwanger wurden, in den Knast zu stecken.“
Das ist mir ja nun wirklich zu fett.

Herr Wiesengrund Adorno ist mir richtig ans Herz gewachsen, seit ich mal im Radio gehört habe, das er fehlenden weiblichen Orgasmus und geschlechtliche Unlust auf die Jahrtausende alte sexuellen Unterdrückung, der sie ausgesetzt waren, zurückführt. Für ihre so genannte Geilheit sind sie ganz schön schwer bestraft worden. Dabei ist ihnen manches ausgetrieben worden. Manchmal sogar mit: Kopf ab. Ich hätte von einem Philosophen wie ihm gar nicht erwartet, dass er sich über weibliche Sexualität den Kopf zerbricht.

Ist ja kein Wunder, wenn einem ewige Zeiten nicht anderes übrig blieb, als in den Brunnen zu springen, wenn man schwanger war aber nicht verheiratet. Ist dein Guter Ruf hinüber, dann heiratet dich keiner mehr, und wenn dich keiner heiratet bist du am Arsch, weil du dich allein nicht über Wasser halten kannst.

Karl. (kommt zurück)
Klara! Todt! Der Kopf gräßlich am Brunnenrand zerschmettert, als sie – Vater sie ist nicht hinein gestürzt, sie ist hinein gesprungen, eine Magd hat's gesehen!

Friedrich Hebbel „Marie Magdalena“

Wie hat im Gegenzug er, Hebbel, der in seinen Stücken Schicksale von Frauen aufgriff, die an den Zuständen scheitern, denn seine Freundin behandelt? Er ließ sie sitzen mit zwei Kindern und das Achtzehnhundertundeinpaarzerquetschte.


Oder du reagierst darauf mit einer Gottergebenheit - die mich völlig schockte, als ich das Schauspiel im Fernsehen sah - wie die Dienstmagd Anne-Marie, auch eine ledige Mutter, in dem Stück „Nora, das Puppenhaus“, Henrik Ibsen.
Nora.
Du, Anne-Marie, sag' mir, – ich habe so oft darüber nachgedacht, – wie hast Du es übers Herz bringen können, Dein Kind zu fremden Leuten zu tun?
Kinderfrau.
Aber das mußte ich ja, wenn ich die Amme der kleinen Nora werden wollte!
Nora.
Ja, daß Du das aberwolltest?
Kinderfrau.
Wenn ich doch eine so gute Stelle kriegen konnte. Ein armes Mädchen, das ins Unglück gekommen ist, muß doch noch froh sein. Denn der schlechte Mensch hat ja nichts für mich getan.
Nora.
Aber Deine Tochter hat Dich doch gewiß vergessen?
Kinderfrau.
Ach nein, das hat sie nicht. Sie hat mir geschrieben, als sie konfirmiert wurde, und auch, als sie heiratete.

Die andere Option als Verlassene wäre nur noch gewesen, auf den Strich zu gehen, um das Kind zu ernähren. Das ist zwar heute nicht mehr so, aber die Furcht davor, ihre gesellschaftliche Stellung zu verlieren, hat sich im Verlauf der Jahrhunderte tief in der DNA eingefressen, hat regelrecht sogar zu einer Umordnung der Stränge geführt, zu einem einprogrammierten Verhaltensmuster. Die Frauen haben dadurch eine instinktive Ahnung, wie es ihren Urmüttern ergangen ist.

Die Frau, die bei Männern das größte Ansehen genießt, ist ja die, die nicht … Also die Nonne. Frauen, die „leicht zu haben sind“, werden auch schnell wieder verlassen. Ich – OK, ihr habt mich bei ´ner Lüge ertappt, wie viele ahnten, bin ich schon von Geburt an eine Frau - werde nie den verächtlichen Blick vergessen, mit dem mich jemand nach einem One night stand mal bedachte. „Schon merkwürdig. Sie nehmen einem übel, wenn man ...“, dachte ich bei mir. Ich hätte mich ja noch hineinversetzen können, dass einer sauer ist, wenn eine nichts von ihm will.

Und außerdem war er nicht ein gewisser Chefredakteur bei der Bildzeitung – Noch wach – sondern ein langhaariger Hippietyp und Kumpel von meinem besten Freund. Nachher versuchte er sogar noch, mich aus seinem Freundeskreis rauszudrängen, genauso wie dieser Redakteur seine abgelegten Gespielinnen in andere Abteilungen versetzte.

Ich registrierte erstaunt: „Irgendwie scheint sich im Denken der Menschen ja seit Goethes und Karl Augusts Zeiten nicht so wirklich viel geändert zu haben. Immer noch wird die missliebige Geliebte nicht nur sitzengelassen, sondern auch noch verleugnet. Natürlich entfällt Kopf ab oder Knast bei Schwangerschaft. Die Jahrhunderte alte Doppelmoral hat sich tief eingefressen, und sie bestimmt das Handeln der Menschen immer noch. Auch wenn die Kirche ihre Bedeutung lange verloren hat, treiben ihre Lehren, mit denen sie die Leute gefüttert hat, noch immer ihr Unwesen in den Köpfen.“

Soll ich hier etwa ein resignatives: „Die Männer sind doch alle gleich“, von mir geben und mich in mein weibliches Schicksal fügen?

Normalerweis müsste die gebefreudige Frau ja in hohem Ansehen bei den Empfängern ihre Gaben stehen. Stattdessen fallen Begriffe wie Nutte und Schlampe.

Als Frau kann man sich sowas Verrücktes gar nicht vorstellen. Warum sollte ich einem übelnehmen, wenn er auf mich steht?
Der eine ist in meinen Augen der gute Mann, der andere der, mit dem ich meine „dunklen Triebe“, was auch immer die sind, auslebe. So würde ich jedenfalls denken, wenn ich männliches Denken übernehmen würde.

Die männliche Gespaltenheit wird ja schon dadurch deutlich, dass sie ihre Sexpartnerin, die ihnen nicht angemessen erscheint, die nicht zu ihrem Lebensstil passt, verleugnen. Oder Schlimmeres. Das Abmurksen missliebiger Geliebter, die anderen Frauen weichen sollen, aber nicht wollen, hat eine lange Tradition. Vielen Männern erscheint es so, als wenn sie ständig unter ihrem Stand f...
Das scheint ein Überbleibsel aus der Zeit des Ständewesens zu sein, als es völlig unmöglich für Liebesleute verschiedener Ränge war, eine Beziehung einzugehen. Die gesellschaftliche Ächtung für das Paar wäre zu groß gewesen. Heute wirken diese Gesetze unsichtbar weiter.
Niemand würde zu seiner Geliebten sagen: „Mach dich vom Acker, weil du nicht meinesgleichen bist.“ Er würde es aber denken. Auch heute, wo man denken könnte: die Liebe hat sich befreit von gesellschaftlichen Zwängen, spielen solche Sachen wie Herkunft, Bildung, Beruf eine große Rolle dabei, ob aus Liebenden ein richtiges Paar wird.

Der Traum vieler Männer scheint ja die allzeitbereite und nichts fordernde Frau zu sein. Diese Figur ist die Stütze aller Pornos. In der Realität gibt es so jemand nicht allzu oft. Und wenn, wird sie öfter ganz schön geschmäht von der Männergesellschaft.

„Ich bin gar keine richtige Frau“, denke ich manchmal, denn dazu gehört, dass man keine andere Frau leiden kann. Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, wie mich ältere Frauen in meiner Jugendzeit immer angekuckt haben. Ich weigere mich, nur für meine Sexualität zu leben, und alles daran zu messen.“

Hiermit beendete Frieda ihren Vortrag vor Mitgliedern des Fußballvereins 1.FC-Kaiserlautern, der sie eingeladen hatte, um von seinem Machoimage loszukommen.


**Nina Hagen hat sich hier übrigens bei einem Titel von Patti Smith bedient. Ja, sogar bis zu uns in die DDR sind die Ideen des Feminismus gedrungen, und Nina ist über Beziehungen ins kapitalistische Ausland an eine Punkscheibe aus Amerika gekommen.

 

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