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Frost und Kälte
"Er ist wie eine Flasche Sprudel!",denkt sie, als Elias verstört auf den kleinen Möhrenhaufen am Rand seines Tellers starrt. "Nach außen hin verschloßen, doch innerlich mit so viel gefüllt, was ihm entfliehen will, das in ihm ein Vakuum entsteht." und im nächsten Augenblick wirkt es, als bricht sein Blick durch die Möhren, den Teller und das dicke Fichtenholz bis hinein ins Innere der Welt. Seine Augen nehmen öfters diese merkwürdige Form an. Dann beginnen seine Pupillen leicht zu glänzen, die Iris scheint samt ihren ihren Farben zu verschwimmen und sein Gesicht verliert jeglichen emotionalen Ausdruck. In jenen Momenten wird er kalt; sein Herz steigert sich in Wut und jene Eigenschaften, welche wir als gut abstempeln, scheinen zu gefrieren. "Sprich ihn nicht an!Sprich ihn nicht an!", sagt sie sich immer wieder. Elias zeigt keine Regung. Etwas bedrückt ihn. "Nicht ansprechen! Es hat keinen Sinn!" Langsam löst sich Elias Auge von dem kleinen ärmlichen Gemüse auf seinem Teller und er starrt mit jener gleichen Emotionslosigkeit in das fremde verlorene Gesicht dieser Frau, als sei sie an Bedeutung den Möhren gleich. "Wenn dein kleiner Schädel nur im Stande wäre zu verstehen, was Liebe ist, dein Auge im Stande zu erkennen, wann sie vorüber ist! Ich liebe eine andere!" Ein Augenblick Stille; hatte er das gerade gesagt oder gedacht; keine Regung in ihrem Gesicht. Die kleine Wanduhr tickt, über den Pavillon streift ein schwacher Wind und leise tönt aus den zwei Lautsprechern links und rechts vom Tisch klassische Musik. Die Frau atmet leise, die zarten Nasenflügel flattern leicht und breiten sich aus; bei jedem Atemgang erhebt sich ihre Brust sanft, wie eine schwache Welle, welche auf dem Meer der Brandung entgegen strömt. Er hatte es nicht gesagt!
"Hast du keinen Hunger mehr?", fragt die Frau, während die schwach glühenden Katzenaugen des Mannes über ein kleines Familienportrait auf einer Kommode wandern. In dem Bild steht er mit seiner Frau Arm in Arm vor einer braunen Blockhütte, welche am Ufer eines großen ovalen Sees errichtet ist. Der See schimmerte im Sonnenlicht immer wie ein schwach phosphoreszierender Aufkleber; glänzend und an manchen Stellen wurde er so klar, das die Reflektionen fast unwirklich schienen. Er erinnert sich noch dran,wie sie des Abends immer auf Liegestühlen am See saßen und still die unzähligen Sterne am klaren Nachthimmel zählten. Das war ihr letzter Sommerurlaub gewesen. Er schien ihm jetzt auch unwirklich; als sei die Erinnerung zwar vorhanden, aber weniger mit der Sonne selbst zu vergleichen, als mehr mit ihrem Schein.
Er antwortet klar; ohne ihr einen Blick zu gewähren: "Nein, keinen Hunger mehr!"
Noch immer tönt schwach eine tragische Melodie durch die Lautsprecher; das Geäst eines Baumes raschelt an der Scheibe, beginnt zu sprechen; sie schluckt den letzten Rest Gemüse, er starrt weiter auf die ärmlich klägliche Momentaufnahme und allmählich wie das schwarze Autoabgas, welches sich aus dem Auspuff drückt und auf der Straße senkt, verteilt sich in dem Raum eine Stille. Er schluckt. Man hört es. Sie atmet lauter; schneller. Die Musik im Hintergrund nimmt ihren Höhepunkt im schnellsten letzten Satz, welcher mit einem pompösen Motiv einsetzt. Noch einmal starrt sie ihn an,bis sie aufsteht und ins Schlafzimmer geht. Er bleibt noch kurz sitzen, starrt durchs Fenster in den leicht bedeckten Nachthimmel. Der sichelförmige Mond pulsiert glühend. Einige Äste bewegen sich. Zwei Blätter fallen vom Baum und lassen die kahlen Äste an der Krone zurück.Dann geht er schlafen.