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Fußspuren im Schnee
Es ist nur eine einzige Sekunde, wahrscheinlich weniger, die mein ganzes Leben verändert hat. Die letzte Sekunde des einfachen Lebens eines normalen Menschen. Soll ich dafür dankbar sein, jetzt wo alles vorbei ist? Ich weiß es nicht. Was wäre wenn…? Diese Frage habe ich mir am Anfang oft gestellt, doch der Nebel verfliegt langsam. Es dämmert und eine blutrote Sonne kratzt am Horizont. Die Zeit wird knapp.
Halt!
Zeit? Was interessiert mich das eigentlich noch? Was bedeutet Zeit schon ohne Existenz? Der Gedanke besteht ewig. Mich wird niemand vergessen. Das steht jedenfalls fest. Dafür habe ich unglücklicher Weise gesorgt. Meine Gedanken sind die Welt. Ich bin ein Teil von ihr und die Welt ist unser aller Ich.
Glaubst du an Schicksal? Aber wie konnte mir dies vorbestimmt sein?
„Atme!“
Scharf ätzender Rauch verschmorten Plastiks dringt gewalttätig in meine Nase. Die Ekel erregende Intensität erfasst jede meiner Geruchsnerven, bis mir die Galle hochsteigt. Mein Körper braucht Luft! Sauerstoff! Der Lebensduft jedes Menschen. Ich muss es zulassen, dass meine schmerzende Lunge sich übermäßig aufbäumt und wieder in sich zusammenfällt. 3 Mal, ehe sie sich kurz beruhigt und in zuckenden Gebärden wie ein Schlag aufs Brustbein allen Schmutz wieder versucht herauszujagen. Vergebens.
„Wach auf!“
Und ich öffne meine verklebten Augen. Ein Hitzeschwall ergreift meinen gesamten Körper, sodass ich glaube, davon zerdrückt zu werden. Die sengende Lohe bringt mein Blut zum Kochen, als ob mich das Feuer von innen auffressen wolle. Meine Arme dampfen, wie wenn jemand kurz vorher Wasser darüber gekippt hätte. Wasser! Schon bei dem Gedanken daran verwandelt sich meine Kehle zu einer staubigen Wüste.
Langsam werde ich mir meiner Umgebung bewusst. Doch alles wirkt auf mich so surreal, wie ein schlechter Traum. Ich sitze in einem Auto. Mein Auto? Die Frontscheibe ist
gesplittert. Dahinter verschwommene Silhouetten wie bunte Geister im Schneesturm. Hinter dem Plexiglas des Fahrerpults tänzeln kleine Flammen.
Mein Kopf dreht sich langsam nach rechts. Schon diese kleinste Bewegung lässt einen stechenden Schmerz in meinem Rücken aufbrennen. Jetzt erst bemerke ich dieses schlaffe Gegengewicht in meiner Rechten. Meine Augen wandern abwärts. Es ist eine Hand. Die zierlichen Finger fest von den meinen umschlossen. Mein Blick wandert wieder aufwärts, den der Hand zugehörigen Arm hinauf.
Der Anblick stimmt mich traurig. Ihr Kopf ist leicht nach links geneigt, wie als würde sie einer Stimme horchen. Sie ist wunderschön, oder war es jedenfalls einmal. Blutige Striemen überziehen ihr doch so makelloses Gesicht. Die Augen, halb geöffnet, erzählen eine unendliche Müdigkeit. Ihre Lippen formen ein Lächeln. Diese Schönheit zerreißt mich innerlich und trotzdem beherbergt sie Frieden, welcher nun auch mich erfasst in dieser unwirklichen Situation. Ich beuge mich zu ihr herüber und schließe ihre Augen. „Schlafe, mein Schatz! Schlafe!“ Ich gebe ihr ein Kuss auf die unversehrte Wange. „Ich liebe dich“
Wieso sage ich ihr das? Wer sie wohl ist…
„Geh!“
Meine Linke langt zum Türgriff. Sie öffnet sich lautlos in die Nacht hinein. Aller Schmerz ist wie von Zauberhand gewichen. Ein Gewühl des erfüllt seins keimt in mir auf. Ich lege ihre Linke in ihren Schoß, ein letzter Blick, und steige aus dem Auto. Die Luft ist eisig und mein Atem bildet eine weiße Wolke, während dicke Schneeflocken aus dem schwarzen Himmel an mir hinunter kräuseln. Jede Flocke auf meiner heißen Haut ist wie ein kleiner Nadelstich.
Die geisterhaften Gestalten nähern sich meiner, doch ich schenke ihnen keine Beachtung. Mein Ziel steht fest. Ich weiß zwar nicht, wohin, doch ich begreife, es liegt nicht mehr in meiner Hand. Die feinen Rädchen des Schicksals drehen sich heute Abend nur für mich. Ich habe keine Angst mehr. Schon seit dem Augenblick, als sich meine Augen schlossen und es eigentlich für immer bleiben sollten. Wer auch mir diesen einmaligen Einblick gewährt hat, ist mit seinem Vorhaben noch nicht am Ende.
Die Füße haben ihr eigenes Leben. Schritt für Schritt folgen sie ihrer ungeschriebenen Bestimmung. Schritt für Schritt komme ich dem Ziel näher. Nur, ein Impuls lässt mich aufsehen. Die Silhouetten sind jetzt ganz nahe. Eine greift nach meinem Arm, doch die Hand fließt durch mich wie durch Wasser. Dann sind auch sie verschwunden. Jetzt bin ich allein. Doch es ist keine kalte Lehre, sondern das einsame Erkennen. Die Füße lenken mich zu einer Laterne am Straßenrand. In ihrem Lichtschein verteidigt verzweifelt eine Spinne ihr im Wind wippendes Netz vor dem Schneesturm. Unter der Laterne sitzt ein Mann. Seine Kleidung erinnert an die eines Landstreichers. Mit gesenktem Kopf hält er einen kleinen Einband in den Händen. Ich bücke mich zu ihm hinunter und er hebt träge den Kopf, hält mir das Buch entgegen. Doch ich bin gefangen. Seine Augen! Wie zwei schwarze Löcher starren sie ziellos ins Leere. Geistesabwesend nehme ich sein Buch in die Hand, schlage es auf. Darin steht nur ein einziger Satz.
„Wer bin ich?“