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Fugentango
»Weg da, weg da!«
»Hallo? Geht’s noch?«
Fast wäre Erwin gestolpert. Er hatte es eilig, Verabredung. Die Steinplatten des Gehwegs waren trocken. Angenehm warm schien die herbstliche Sonne vom Himmel.
»Vorsicht!«
»Entschuldigung.«
Es war nicht einfach, auf so viele Dinge gleichzeitig zu achten, schon gar nicht, wenn einem der Schweiß im Gesicht stand. Ein Kaugummi ließ Erwin einen großen Schritt tun. Ignoranten, dachte er. Das sind alles Ignoranten. Den ganzen Tag auf Nikotinkaugummis und dann auf den Boden gespuckt, den nächsten rein, später dann doch eine rauchen. Sollten sich doch alle zum Psychiater scheren, der brachte mehr und kostete auf lange Sicht weniger, wetterte er innerlich. Dann würden die alle verstehen, warum sie die Gehwege sauber halten sollten.
Katharina, Katharina, was ist los mit dir ... Katharina, Katharina, komm mit zu mir.
Dieses Lied hatte er seit dem Vormittag im Kopf. Ununterbrochen flog es durch seine Gedanken und was er auch anstellte, er wurde es nicht los. Anfangs pfiff er es fröhlich vor sich hin, denn seine Bekannte hieß tatsächlich Katharina, aber mit der Zeit ging es ihm doch auf die Nerven. Sie brauchen ein Löschlied, hatte ihm einmal jemand gesagt, eines das sie so gerne hören, dass ihnen ein Ohrwurm davon nichts ausmacht. Aber Erwin hörte nicht gerne Musik, er kannte kaum Lieder, und die paar, die er kannte, suchten ihn immer wieder Heim. Alles alte Schlager.
Komm schon, Oma, mach Platz, dachte Erwin. Er versuchte im Takt zu bleiben. Ein auf dem Gehweg entgegenkommender Radfahrer machte ihn nervös. Warum fährt der Penner nicht auf der Straße, dachte er. Mit einem Affenzahn kam der auf das alte Weib und Erwin zu. Es wurde brenzlig, der Platz reichte nicht aus. Vorsorglich blieb Erwin stehen. Zwar befand sich unter seinem rechten Fuß ein kleines Steinchen, aber das konnte er ertragen. Dachte er. Plötzlich begannen die Fugen um die Steinplatte zu zittern. Der Radfahrer war noch knapp einen Meter entfernt, als Erwin das taub gewordene Bein von dem Steinchen nahm, sein Gleichgewicht verlor und auf ein geparktes Auto fiel. Im letzten Moment konnte er sich mit den Ellenbogen am Autodach abzustützen. Er hätte es nicht ertragen, das schmutzige Fahrzeug anzufassen.
Der Radfahrer ließ einen gellenden Schrei los, sein Hinterrad quietschte.
»Was machen Sie denn, Mann?«, fragte der Radfahrer mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Sie hätten mich fast zu Tode gefahren!«, schrie Erwin. »Und was hätten Sie gemacht, wenn die Alte da einen Herzinfarkt bekommen hätte?«
Das hatte sie gehört.
»Sagen Sie mal, junger Mann, was erlauben Sie sich?«
Erwin polterte weiter. »Seien Sie froh, dass ich nicht gleich die Polizei hole, Sie allein sind an dem ganzen Schlamassel Schuld.« Er wandte sich der alten Frau zu. »Und Sie sollen sich in Acht nehmen, ich bin Pensionist.«
»Ha, Sie sind ja nicht mehr ganz bei Trost«, lachte Sie und zeigte ihm den Vogel. »So ein unverschämter Lümmel.«
Katharina kam ihm in den Sinn und er beruhigte sich wieder. Er zupfte sich seinen Mantel zurecht, verteilte zwei giftige Blicke und ließ beide stehen. Was man sich nicht alles bieten lassen muss, dachte er verärgert.
Glücklicherweise verlief der weitere Weg ohne Zwischenfälle, nur dass die Fugen nicht stillhielten, machte ihm zu schaffen. Er wischte den Klingelknopf ab und läutete; Katharina öffnete ihm.
»Katharina, ich glaube Sie haben etwas vergessen«, rief er aus dem Gäste-WC.
die Psychiaterin wartete im Gesprächszimmer. »Kommen Sie doch erstmal rein und nehmen Sie Platz.«
»Das Handtuch.«
Dass er so plötzlich in der Tür stand, hatte sie erschreckt.
»Was?«, fragte sie irritiert.
»Handtuch.« Das Wasser tropfte von seinen nassen Fingern. »Ich meine, also ...«
»Ach, das Handtuch.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht vergessen.«
Erwin machte einen Schritt zurück und deutete den Flur hinunter. »Aber das verstehe ich dann irgendwie nicht«. Seine feuchten Hände irritierten ihn ungemein. »Ich konnte es nirgens finden.«
Katharina stand auf und lächelte ihn an.
»Aber Erwin, das haben wir doch letzte Woche genau so vereinbart.«
Verdammt, sie hatte es nicht vergessen. Die Aussicht, sich mit dem Handtuch abzutrocknen, das auch alle Anderen verwendet hatten, schnürte ihm die Kehle zu.
»Können wir das nicht doch noch auf nächste Woche verschieben?«
Sie musste lachen.
»Das haben wir über die letzten sechs Wochen schon gemacht. Jedes Mal sind Sie mit genau dieser Leier dahergekommen, aber heute werden Sie mich nicht überreden können.«
»Womit soll ich mir dann die Hände abtrocknen?« fragte er. Seine Körpersprache war ein offenes Buch.
»Mit dem Handtuch das dort hängt.«
»Aber das ist total verunreinigt!« Erwin zappelte herum, warum verstand sie das einfach nicht? »Da kann ich mir die Hände noch so gründlich waschen, mit dem Handtuch werden sie wieder schmutzig. Ich kann das nicht benutzen.«
»Wir gehen jetzt gemeinsam den Flur hinunter und Sie werden sich die Hände abtrocknen.«
Sie legte ihren Arm um Erwin und schob ihn aus dem Gesprächsraum.
»Stop!«, rief er.
Sie stellte sich taub.
»Stop!«
Zuerst ging er besonders langsam, doch Katharina schob ihn unerbittlich weiter. Nach der Hälfte der Strecke entwand er sich ihrem Arm und ging zurück zum Gesprächsraum.
»Erwin, ich bin enttäuscht, so lange haben wir uns darauf vorbereitet und jetzt machen Sie einen Rückzieher nach dem Anderen.« In ihrer Stimme war nicht abweisendes.
Er war hin- und hergerissen, ließ sie aber schließlich stehen und setzte sich im Gesprächsraum auf die Corbusjer-Liege. Mit dem Gesicht zur Tür wartete er, was geschehen würde. Er hörte ihre Schritte auf dem Flur. Nun stand sie in der Tür und hielt ein frisches, noch gefaltetes Handtuch in der Hand. Erwin lächelte sie an und stand auf. Verlegen nahm er es entgegen.
»Nächste Woche werde ich nicht mehr gnädig sein, Erwin.«
»In Ordnung.« Wie ein kleiner Junge zwängte er sich an ihr vorbei. Er musste sich einfach nochmal die Hände waschen. Wenn sie an der Luft getrocknet waren, fühlten sie sich immer so unsauber an. Hingebungsvoll trocknete er sich danach ab, so lang, dass Katharina schließlich ungeduldig wurde.
»Kommen Sie, Erwin, die Zeit läuft uns davon.«
Er nickte, legte das Handtuch sorgfältig zusammen, sah Katharina an.
Endlich lag er mehr oder weniger entspannt auf der Liege. Sie setzte sich auf einen Stuhl schräg hinter ihm, ein Notizbuch auf dem Schoß, überflog die Notizen der letzten Sitzung.
»Letzte Woche haben Sie mir erzählt, dass die Fugen des Gehwegs nicht mehr stillhalten.«
»Nein, das stimmt so nicht ganz.« Mit der Hand machte er eine Geste, als wollte er Fliegen verjagen. »Es war anders.«
Sie legte ein Bein über das andere. »Bitte erzählen Sie es nochmal kurz.«
»Seit Samstag vor einer Woche kommt es manchmal vor. Manchmal.«
Katharina notierte das.
»Und wenn das vorkommt, manchmal, dann weiß ich nicht mehr, wo ich eigentlich noch hintreten darf.«
»Weil Sie Angst haben, auf eine zu treten?«
»Nein, ich habe keine Angst, ich weiß ja selbst, dass es Unsinn ist, aber man darf es nicht.«
»Auf die Fugen treten?«
»Nein.«
»Darf man?«
»Ich meine, darf man nicht.«
»Nicht auf die Fugen treten.«
Er hob den Zeigefinger. »Nicht auf die Fugen treten.«
»Was passiert, wenn man es doch tut?«
»Da müssen Sie jemand fragen, der es getan hat.«
»Sie also nicht?«
»Ich bin doch nicht verrückt!«
»Aber Sie kennen jemanden?«
»Ja.«
»Und?«
»Er ist tot.«
»Tot?«
»Gestorben.«
»Tut mir leid.«
»Ach«, lachte er gekünstelt, »ich kannte ihn eigentlich nicht.«
»Aber Sie haben mit ihm geredet?«
»Wie sollte ich? Er ist tot.« Wieder verscheuchte er Fliegen.
»Und vorher?«
Er lachte lauthals los. »So verrückt bin ich nicht.«
Katharina rieb sich die Augen. Sie ist müde, dachte er. »Woher wissen Sie dann, dass man es nicht darf?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben es vergessen?«
»Ich vermute es mal.«
»Dass Sie es vergessen haben?«
»Dass man es nicht darf.«
»Und worin begründet sich Ihre Annahme?«
»Im Fernsehen.«
»Sie haben im Fernsehen gesehen, dass man es nicht darf?«
»Nein, nein, das verstehen Sie völlig falsch.«
»Erklären Sie es mir bitte.«
Er rollte mit den Augen. »Es ist wie mit dem österreichischen Fernsehen.«
»Aha.« Sie kaute auf ihrem Stift herum.
»Bei Fußballübertragungen kann man anfangs ohne Bildstörungen zusehen. Nach ungefähr fünf Minuten wird dann das Bild gestört. Es rauscht. Es rauscht die ganze Zeit. Nach einer Weile ist es unmöglich, dem Spiel noch zu folgen. Außerdem schadet es den Augen.«
»Und das ist der Grund?«
Erwin setzte sich auf und drehte sich zu Katharina um. »Sie hören nicht richtig zu, meine Liebe.«
»Ich höre Ihnen sogar sehr genau zu, aber aus Ihrer Erzählung werde ich nicht schlau.«
»Wenn es so stark rauscht, kann man genauso gut ausschalten, denn man erkennt ja sowieso nichts.«
»Und?«
»Was, und?« Kurz dachte er nach. »Das ist doch ganz einfach!«
»Erwin, so geht das nicht weiter.« Sie warf den Notizblock auf ihren Schreibtisch.
»Deshalb tritt man nicht auf die Fugen.« Triumphierend strahlte er sie an. »Es wäre sinnlos.«
»Ich glaube wir sollten für heute Schluss machen.«
»Aber wir haben noch drei Minuten.« Erwin deutete auf seine Uhr, danach auf die Uhr über der Tür. »Auf meiner sind es sogar noch fünf.«
»Nächste Woche bekommen Sie fünf mehr, versprochen.«
»Wenn Sie meinen; aber dann kommt Ihr Terminkalender ganz durcheinander.«
»Das schaffe ich schon, lassen Sie das Mal meine Sorge sein!«
Als Erwin das Haus verlassen hatte, war es schon dunkel. Es war windig und ihn fröstelte. Die Fugen auf dem Gehweg lagen ruhig vor ihm und er war dankbar dafür. Im Dunkeln war es weit anstrengender, die Aufgabe zu erfüllen, als tagsüber. Eine dunkle Gestalt kam ihm entgegen.
»Abend«.
»Ganz schön frisch, was?«
»Der Winter kommt«, seufzte die Gestalt.
Erwin war wieder allein unterwegs. Die nächste Straßenlampe flackerte und er begann in seinen Manteltaschen zu suchen. Nach kurzer Zeit wurde er fündig und Erwin schaltete das Lämpchen am Ende seines Kugelschreibers ein. Die Fugen tanzten hin und her. Dass das immer nachts passieren musste, dachte er, als Taschenlampe geht diese Funzel auch nicht durch.
Bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, als würden seine eingeschlafenen Füße wieder erwachen. Tausend kleine Nadeln sorgten dafür, das er nicht mehr bestimmen konnte, wo seine Füße endeten und der Gehweg begann, machten die Aufgabe, nicht auf die Fugen zu treten, zu einem nervenaufreibenden Unterfangen.
Erwin hatte sich ein wenig nach unten gebückt, um die Rillen zwischen den Platten besser zu sehen. Für einen Augenblick war er unachtsam. Es war fast ironisch, wie er sich Sekunden vorher einen bestens beleuchteten Logenplatz für sein Missgeschick geschaffen hatte. Als stünde er neben sich, konnte er dabei zusehen, wie er tollpatschig auf zwei zusammentreffende Fugen latschte. Mein Gott, wie kann man sich so blöd anstellen, dachte Erwin. Ein elektrischer Schlag durchfuhr sein rechtes Bein und mit einem Knall fielen sämtliche Lichtquellen in der näheren Umgebung aus. Der Boden bebte, zitterte auf und ab. Brummen erfüllte die Luft. Erwin blieb wie angewurzelt stehen, jedoch nicht bevor er an eine andere Stelle trat.
Ein zweiter Stromschlag riss ihn von den Füßen.
»War ja klar«, rief er in die Dunkelheit. Plötzlich fand er sich in der Mitte eines immer näher kommenden, orange leuchtenden Kreises. Das Leuchten flitzte entlang von Fugen und Ritzen in der näheren Umgebung, konzentrisch auf Erwin zu. Er stand auf, wollte weglaufen, doch er konnte sich nicht bewegen, nicht schreien, nicht atmen. Der Kreis von glühenden Linien schloss sich immer enger um ihn und er konnte nur zusehen, wie sich das Licht ihm unaufhaltsam näherte. Wieso habe ich plötzlich Appetit auf Toast? Er staunte über sich selbst.
Sekunden später wusste er, was los war. Zu spät, dachte er, aber ich habe es gewusst, ich habe es gewusst. Dieser Triumph war das letzte, was ihm noch blieb. Fauchend raste eine Feuerfontäne in die Nacht und Erwin verdampfte.
Die Fugen standen wieder still.
© by Georg Niedermeier. Alle Rechte vorbehalten.