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Götterdämmerung oder der Abschied des P.
„Vater, ich geh jetzt.“ Er stand vor mir, sah mich undurchdringlich an, fast bedrohlich. Etwas war anders als sonst. Auseinandersetzungen hatten wir viele gehabt; je älter er wurde, desto mehr. Und jetzt stand er da, mein Junge, und wenn ich ihn nicht so gut kennen würde, hätte ich ihn für einen fremden jungen Mann gehalten.
War das ein Fragen in seinem Blick? Erwartete er etwas von mir? Meinen Segen, daß ich ihn ziehen lasse? Oder was sonst?
Etwas unschlüssig griff er in seine Tasche und zog daraus ein Blatt Papier hervor. „Hier, nimm das. Vielleicht hilft es dir zu verstehen.“ Doch ich nahm es nicht; ich tat überhaupt nichts. Es ging alles viel zu schnell; ich begriff nicht, was passierte. Ich stand nur da und wartete, ohne einzugreifen, ohne etwas zu verändern. So legte er das Blatt auf den Tisch, sah mich noch einmal an und ging.
Als ich mich aus meiner Erstarrung löste, fiel mir der Zettel ein. Was das wohl sein könnte? Ich ging auf den Tisch zu, sah das Papier, nahm es in die Hand und las – und war enttäuscht.
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Ein Gedicht. Er hatte ein Gedicht geschrieben. Wie kam er denn auf Zeus? Ich las weiter:
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
„Disteln“, „Bergeshöhn“, was hatte das mit mir zu tun? Und mit unserem Streit? Wir hatten nicht über die Natur geredet, sondern über seine Zukunft. Studium hinschmeißen, um Ausländern Deutsch beizubringen! Da konnte doch nur seine Freundin hinterstecken! Ich hatte es gleich gewußt, daß dieses türkische Mädchen ihn nur ins Verderben stürzen würde. Und das habe ich ihm auch gesagt. „Wenn du zu ihr gehst, kriegst du keinen Pfennig mehr von mir! Dann wirst du schon sehen, was du zu tun hast.“ Und was sollte das jetzt? „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst“? Ich konnte mir keinen Reim daraus machen. Er hätte auf mich hören sollen; wie wollte er denn leben, ohne mein Geld? „Ich jobbe“, hat er gesagt. „Und bei dem Arbeitskreis für Ausländer bekomme ich auch etwas.“ Er schien sich gar keine Sorgen zu machen. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Pah, Herd und Glut! Kohlen wird er da schleppen müssen, wo das Mädchen wohnt, und eine Hütte ist das wohl auch eher. Dabei könnte er hier weiterhin sein Zimmer haben, wenn er nur wollte. Und abbezahlt ist das Haus jetzt auch. Wenn ich daran denke, was wir gespart haben, damit wir dieses Häuschen kriegen. Besonders im Anfang, als ich noch nicht so gut verdiente, da hat Grete jeden Pfennig umgedreht. Und Angst habe ich gehabt, daß sie mich kündigen, denn ohne Arbeit... Aber davon weiß der Junge nichts! Will nichts wissen, heißt das.
Ich kenn nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren
„Kinder und Bettler?“ Der Junge hat´s doch gut gehabt bei uns. Zu schämen brauchte der sich nicht für seine Eltern. Ich meine, auch wenn wir sparsam waren, hat er doch vieles gekriegt. Deshalb habe ich es auch nicht verstanden, warum er dauernd mit zu dem Martin gegangen ist, wo der doch in ganz anderen Verhältnissen lebte als wir. Martins Vater war nämlich schon damals arbeitslos, zu einer Zeit, als es noch keine Entschuldigung wie „schlechte Wirtschaftslage“ gab. Aber Paul, meinen Jungen, hat das nicht gestört; wahrscheinlich sehen Kinder sowas nicht. Er hat nur immer erzählt, daß Martins Vater so oft Zeit für sie hatte und mit ihnen bastelte. Na ja, wer nichts zu tun hat! Ich jedenfalls hatte genug zu arbeiten!
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als ob drüber wär
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
„Titanen“, „Zeus“. Ein seltsames Zeug. Komisch, worauf die jungen Leute heutzutage kommen! Damals, als wir in der Schule waren, da haben wir noch was Richtiges gelernt. Aber jetzt? Mystisches Gefasel ist das ja. Kein Wunder, daß der Paul da nichts mit anfangen konnte. Zufrieden war er nämlich auch nicht mit der Schule, und schon gar nicht mit der Universität. Also, er sagte da so seltsame Sachen wie: „Wir haben dreizehn Jahre Dinge lernen müssen, und jetzt sagt man uns, daß das alles gar nicht so stimmt! Zum Beispiel haben wir gelernt, ein Atom hat Elektronen, die um den Kern kreisen wie der Mond um die Erde. Aber jetzt heißt es: Das ist veraltet; Atome beschreibt man durch Energieresonanzen!“ Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber auf jeden Fall fing es damit an, daß er immer fauler wurde und immer weniger zur Uni ging. Aber meine Bekannten, die hat er gelöchert mit Fragen, da konnte man ihn kaum von abbringen. Ich habe mich geschämt, weil ich dachte, „jetzt tut er so, als interessiere ihn der Kram“ und habe versucht, die anderen vor ihm zu warnen, damit sie nicht ihre Zeit mit ihm vertun. Dann hat er sich immer mehr abgekapselt: im Zimmer eingeschlossen, Schallplatten gehört, - und Bücher, das ganze Zimmer war voller Bücher. Ich bin da ja kaum hineingegangen, aber wenn, dann stolperte ich über Stapel von Büchern, die er überall ausgebreitet hatte.
Hast du´s nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Eine seltsame Sprache ist das. „Allmächtige Zeit“, ja, so könnte man es nennen. Die Zeit hat ihn so verändert! Er war doch so ein lieber Junge, und ich habe gedacht, es würde einmal etwas Großes aus ihm. Wo ich doch niemals studieren konnte, damals, nach dem Krieg. Und später war ich einfach zu alt für die Hochschule. Aber der Junge, der hätte doch gekonnt! Doch er hat immer weniger gemacht; später hat er sein Zimmer kaum noch verlassen. Ich glaube, er blieb den ganzen Tag im Bett liegen. Als ich ihn heute darauf ansprach, hat er mich angeschrien: „Du wolltest wohl, daß ich umkomme vor Depressionen! Sollte ich mich umbringen?“ Und er fing an, von Leistungsdruck zu reden, von Schuldgefühlen und diesen ganzen psychologischen Dingen, und er redete und redete.
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?
Und zum Abschied hat er mir dies gegeben, ein Gedicht in einer wirren Sprache. Dabei dachte ich, er wolle mir etwas erklären. Und nun ist er gegangen, mein Paul, zu diesem Mädchen, um Kinder zu erziehen, Ausländerkinder. Er sagt, er will ihnen etwas geben, will nicht dieselben Fehler machen wie ich und die anderen, will anders leben.
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
(Anmerkung: Das Gedicht ist Prometheus von Goethe)