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G
Zwei Männer in blauen Kitteln wuchten einen leblosen Körper auf das Transportband.
Jemand tritt auf sie zu. „Tach.“
Die beiden blicken kurz auf, packen den nächsten Körper und hieven ihn hoch. „Bist der Neue, hm?“, fragt Werner.
„Ja, ich heiße Rainer Ohlsen. Ich soll mich hier bei euch melden.“
„Auch Ein-Euro-Job?“, fragt Alfred, spuckt in die Hände und wischt sie am Kittel ab.
„Nö, Semesterferien“, antwortet Rainer.
„Wir sind auch erst seit einer Woche hier, ist ganz einfach. Guck uns ein paar Minuten zu, dann weißt du was Sache ist.“
Rainer nickt und schaut sich interessiert um. „Die Anzeige da oben, was bedeutet die?“
Werner schaut hoch, sieht die Zahl Dreihundertunddreizehn. „Immer wenn wir einen drauf legen, zählt die automatisch Eins dazu.“ Er deutet auf den nächsten Körper.
„Was? So viele schon?“ Rainer blickt auf die Digitalanzeige, die nun bei Dreihundertundvierzehn steht. „Aber … aber dann ist die Stadt bald leer.“
„Leer?“, wiederholt Werner und packt wieder zu.
Die Anzeige springt auf Dreihundertundfünfzehn.
„Reine Mathematik“, erläutert Rainer, als hätte er einen Fünftklässler vor sich, „Addition, etwas zusammen rechnen, um es dann von Etwas abzuziehen.“
Alfred und Werner starren sich an, als hätte der Neue chinesisch gesprochen.
Zögernd drückt Werner einen roten Schalter und das Förderband bleibt stehen.
„Leer“, sagt Werner noch einmal, „gibt es das? Kann das passieren?“ Hilfe suchend sieht er seinen Kollegen Alfred an.
„Weg mit dem Scheiß, sag ich. Ham doch nur überall ihren Dreck hinterlassen.“
„Wenn ich die genauen Zahlen hätte“, sagt Rainer und gestikuliert mit seinen Armen, „könnte ich ausrechnen ab wann es keine mehr gibt. Rein theoretisch natürlich.“
Alfred beobachtet Rainers Hände, als würde dort gleich das Datum erscheinen. „Das tät mich jetzt aber echt interessieren.“
„Soll ich das Band wieder einschalten, oder nicht?“ Werners Finger berührt den roten Schalter.
„Nee, wir machen jetzt Pause und rechnen das aus“, bestimmt Alfred.
***
Werner spricht mit vollem Mund: „Wir hatten mal einen Schäferhund, Wotan hieß er.“
„Ja und?“ Alfred riecht an seinen Händen, „Bah, das stinkt wie Sockendöner.“
„Der war treu wie Unkraut.“
„Wer?“, fragt Alfred, spuckt in seine Hände und reibt sie, als würde er sie mit Seife waschen.
„Na unser Wotan. Zwölf Jahre hat er bei uns gelebt, bis er von einem LKW überfahren wurde.“
Rainer mischt sich ein: „Ich hatte Streifenhörnchen. Aber mit denen war nix los.“
„Aha. Ja, ja“, meint Alfred dazu. „was is nu mit dem Ausrechnen?“
„Das interessiert euch wirklich?“
„Klar“, sagt Alfred, und Werner nickt.
„Ich brauche eine Liste; Anzahl der Anlagen in Deutschland, Statistik pro Haushalt und so.“
Alfred steht auf. „Das steht alles in den Ordnern, von der Eva. Die liest das alles vom Computer ab und macht Ausdrucke.“
„Meinst du ausgerechnet dir tut sie den Gefallen?“, fragt Werner.
„Aber sicher, die steht auf mich, ist heiß wie eine 5-Minuten-Terrine.“
„Red nicht so eine Scheiße.“ Werner packt Alfred am Ärmel.
Alfred reißt sich los, stellt sich breitbeinig vor seinen Kollegen und hält die Arme so, als wolle er mit ihnen Briketts durchschlagen.
„He. Vielleicht sollte besser ich …“ schlägt Rainer vor.
„Du Milchbubi. Eva steht auf Muskeln, guck mal hier.“ Alfred zieht seinen Kittel aus, darunter trägt er ein verblichenes Unterhemd. In Achselhöhe sieht man Haargestrüpp.
Rainer muss darauf starren. Alfred atmet tief ein und hält die Luft an; sein Brustkorb sieht jetzt wie aufgepumpt aus. Rainer ist beeindruckt, Werner lacht. „Okay, versuch dein Glück. Wenn du keinen Erfolg hast, geh ich zu ihr.“
Alfred geht wie ein Sieger.
„Beeil dich“, ruft ihm Werner noch hinterher und setzt sich auf die Holzbank, die vor seinem Spind steht. „Hast du keinen Hunger?“ Werner hält ihm einen Apfel hin.
„Hier? Bei dem Gestank? Nee, danke.“
Werner seufzt Rainer an, ehe er in den Apfel beißt. Rainer schaut sich in dem kleinen Raum um. An den Wänden hängen Poster: Nackte Frauen, Alien VI, Hundebabys, Katzen, Palmen in weißem Strand. Sein Blick bleibt an einem Poster hängen. „Die haben wohl bald Seltenheitswert.“
„Was?“
„Die da.“
„Echt jetzt? Meinst du?“
Rainer nickt.
„Das können die doch nicht machen.“ Werner schüttelt seinen Kopf.
„Doch, machen die.“
„Aber, aber das kann nicht sein.“
„Ihr habt doch die Partei gewählt“, sagt Rainer ohne Vorwurf, "hast du vielleicht doch einen Apfel für mich?"
***
„He ihr Schnaufnasen“, sagt Alfred beim Reinkommen und grinst, als hätte er in der Lotterie gewonnen.
Rainer sieht ihn erwartungsvoll an. Werner fragt: „Und?
„Moment“, Alfred schaut auf die Zettel in seiner Hand, „also, hier, hier steht 6,4 Millionen.“
„Das ist viel“, sagt Werner leise.
„Aber nicht alle sind G“, meint Rainer, „das dürften doch nur etwa fünfzig Prozent sein. Oder? Interessant wird es jetzt, Alfred, wie viele Gs wurden seit dem neuen Gesetz verurteilt?“
„Fünfzig Prozent? Die Hälfte?“ Werner ist fassungslos. „Das sind ja, das sind …“
„Das sind 3,2 Millionen“, sagt Rainer und wartet auf die Zahl von Alfred.
Der liest immer noch das Blatt und sucht die passende Stelle.
„Gib mal her.“ Rainer nimmt den Zettel an sich. „Ah, hier steht …“ Rainer runzelt die Stirn und schaut und schaut.
„Was is?“, fragt Alfred.
„Die Zahl kann nicht stimmen, ich brauche einen Stift, das rechne ich lieber selbst nach.“
Werner zieht einen Bleistift aus seinem Kittel und hält ihn Rainer vor die Nase.
„Wie viele G-Anlagen gibt es?“
„In jeder Großstadt eine“, sagt Alfred, „stand auf dem Zettel: Also neunzig.“
„Hm“, meint Rainer und schreibt Zahlen auf eine Blattrückseite. „Jetzt muss hier irgendwo stehen, wie viele Förderbänder jede Anlage hat.“
„Das weiß ich“, sagt Werner, „spar dir das Suchen, das hat mir mal der Chef erzählt. Ganz stolz war er.“
Rainer und Alfred warten.
„Ja und? Wie viele?“ Rainer schlägt die Beine übereinander und wippt mit dem Fuß.
„Also jede Anlage hat zwanzig Förderbänder.“ Werners Stimme ist ein Hauch.
„Was?“
Werner räuspert sich. „Zwanzig.“
Das Gesicht von Rainer wird blass. Seine Hand, die den Bleistift hält, zittert, er steckt den Stift zwischen seine Zähne und kaut darauf herum. Nuschelnd sagt er: „Wenn ihr mir sagt wie viele Gs pro Tag, dann kann ich euch sagen, wann ihr arbeitslos werdet.“
Alfred und Werner öffnen gleichzeitig den Mund, bleiben aber still.
„Na?“, drängt Rainer und kritzelt wieder Zahlen auf das Papier.
„Ich versteh das alles nicht, ist mir zu hoch“, meint Alfred und stiert lieber auf ein Poster.
Aber Werners Magen krampft sich zusammen. „Vorgabe sind Fünfhundert.“
Jetzt öffnet sich Rainers Mund - zum Keuchen.
Wie in Trance schreibt er die Zahl hin und rechnet nach und murmelt „Neunhunderttausendprotag.“
„Rainer? Was ist denn los, sag schon.“
Doch Rainer bringt kein Wort mehr heraus.
„Alfred, sag doch auch mal was.“
Der Angesprochene steht vor dem Hundewelpenposter, reißt es ab und ruft:
„Werner, aber eins kapier ich ja nicht. Wieso die hier auch G ... gefährlich sein sollen.“