Gandhis kleiner Bruder
Wenn ich nur wüsste, wie ich in der Story den verflixten Bogen hinkriegen könnte. Klar, mit Spannung, das wird immer gern gesehen. Da ist man auf der sicheren Seite, aber ich selbst bin wahrscheinlich zu sehr angespannt. Der Stift scheint sich förmlich unter meiner verkrampften Hand schmerzvoll zu krümmen. Schwere Geburt eben.
Es klingelt an der Haustür. Dieses schrille Gekreische bringt mich irgendwann noch mal um. Plötzlicher Herzstillstand ist zwar nicht das Schlechteste, nur käme es ungelegen, will ich doch wenigstens noch diese Story hier über die Bühne bringen.
Daniel steht mit einem breiten Grinsen, welches nur eins bedeuten kann, vor der Tür.
„Na, was ist es diesmal?“ Ohne etwas zu sagen, schiebt er sich an mir vorbei und kloppt einen dünnen Stapel Zeichnungen auf meinen Küchentisch. Darauf zündet er sich eine Zigarette an und erklärt feierlich:
„ Das ist das Beste, was bis jetzt aus meinen Fingern geflossen ist.“ Ich nicke und nehme die erste Zeichnung in die Hand, um einen genaueren Blick drauf zu werfen. Eine Ratte mit furchtbaren Reißzähnen und Krähenfüßen guckt mich mordlüsternd, lefzend an. Es scheint, als will das Ding aus dem Bild herausspringen und mir das Gesicht zerfleischen. Ich habe keinen Zweifel, dass so was in unseren Abwässerkanälen sein Unwesen treibt.
„Reizendes Ungetüm, ich möchte wissen, was dich mal wieder auf so einen Trichter gebracht hat?“
„Ach, nur der allgemeine Wahnsinn, oder besser gesagt, die wahnsinnige Allgemeinheit. Ein Abbild eben. Wenn man bedenkt, was für verrückte Menschen einen umgeben, muss man denen ab und zu mal einen Spiegel vor die Augen halten.“
„Also, wenn ich das richtig verstanden habe, bin ich jetzt der Erste, der in deinen Spiegel reingucken darf. Na, ich mich fühle geehrt.“
“Du bist auf alle Fälle so ´n Wackelkandidat, schwirrst auf der Grenze rum. Also kann es nicht schaden, wenn ich mal mit meinen Zeichnungen ein wenig vorbeuge.“
„Ich habe das Gefühl, dass du auch mal deine Zeichnungen begutachten solltest und das nicht zu knapp, mein Lieber.“
„Das würde aber nicht funktionieren, man kann sich ja schlecht selbst austricksen.“
„Na dann pass mal auf.“
Ich rattere fahrig mit einem Bleistift über ein Stück Papier, um ein kümmerliches Strichmännchen mit wilden Haaren zu entwerfen.
„Fertig!“ Ich übergebe es Daniel und sein Blick schärft sich.
„So, so und was gibt´s so Neues bei dir“, fragt Daniel, während er die Zeichnung bei Seite legt und den Kronkorken von seinem Bier kappt.
„Ach, ich hab´ mich in so ´ne Story verrannt und weiß jetzt weder vor noch zurück.“
„Na , dann lass doch mal hör´n.“
„Also, ich sitze in irgend so ´ner Bar auf St. Pauli. Eine dieser Seefahrer Spelunken, wo ausgestopfte Fische und jede Menge Netze an den Wänden hängen. Es ist nicht gerade viel los und hin und wieder wechsel ich ein paar Worte mit dem Wirt. Der Kerl erzählt ´n ziemlich beachtliches Seemannsgarn. Nur rückt er damit nicht sonderlich oft raus, weil ihn die meisten Leute sowieso für ´n ausgemachten Spinner halten. Das könnte daran liegen, dass er als Matrose mehr als nur einmal fast ersoffen wäre und seine Lungen dabei literweise Salzwasser geschluckt haben. Wenn der Tod dir nicht nur in die Augen blickt, sondern dich auch mit seinen knöchernen Armen umklammert, muss man vielleicht in dem Moment verrückt werden. Wie wäre er dem Tod sonst entwischt.
Was soll ich sagen, irgendwann sitzen dann links und rechts zwei Typen neben mir. Und ich kann dir sagen, das sind ganz schöne Schränke. Ich lass´ mir aber nichts anmerken und bestelle ein weiteres Bier und die Beiden ebenfalls.
Auf einmal poltert es von der Seite:
„He, du bist doch der Kerl, der öfter mal ´ne Geschichte vom Stapel lässt?“
„Kommt drauf an“, entgegne ich. „Gerade trinke ich Bier und mein Mund hat was anderes zu tun.“ Daraufhin hängt sich der Typ zu mir rüber und legt seinen Arm um meine Schultern.
„Pass mal auf Kumpel, wir beide haben den ganzen Tag im Hafen Schiffe von Kaffeesäcken und all so ´n Zeug befreit und du bist jetzt zu unserer Unterhaltung da. Ich möchte nicht erst andere Seiten aufziehen. Aber eins sag´ ich dir. Komm´ mir nicht mit so ´n an den Haaren herbeigezogenen Kram. Darauf kann ich nicht besonders. Wir wollen ´ne wahre Geschichte hören.
Ich fange also an zu erzählen, was soll ich auch anderes machen:
„Da waren zwei abgrundtief hässliche Typen in einer Bar und führten sich auf, als wären sie die Größten, was darauf schließen lässt, dass sie winzige Schwänze...“
Weiter komm´ ich nicht, da mir einer dieser Typen seine Faust ins Gesicht donnert. Als ich mich wieder berappelt habe und zurück auf meinen Barhocker steige, legt der Kerl wieder seinen Arm um meine Schultern und brummt in sehr ernstem aber freundlichen Ton:
„Ich hab´ dich gewarnt, spiel keine Spielchen mit uns. Denk´ ja nicht, wir würden so was nicht merken.“
„In Ordnung, dann passt mal auf. Die Sache spielt sich ungefähr 1914 in Indien ab. In Europa war gerade der erste Weltkrieg ausgebrochen und in Indien fing Gandhi an, seine Zoten mit den Engländern abzuziehen. Was viele aber nicht wissen, ist, dass Gandhi einen sieben Jahre jüngeren Bruder hatte. Der Haken war nur, dass Gandhi ihn nicht ausstehen konnte, weil er ´n ziemlicher Rüpel war. Der Kerl soff und machte hin und wieder gemeinsame Sache mit den Briten. Kurzum, die beiden waren sich spinnefeind. Das ist auch der Grund, warum der Bruder nicht in den Geschichtsbüchern erwähnt wird. Gandhi hat nämlich gerichtlich durchsetzen lassen, dass kein Sterbenswörtchen über den Bruder, in Verbindung mit seiner eigenen Person, berichtet werden darf. Sonst kommt man in Teufelsküche.
Nur das war noch nicht alles. Der Bruder hatte eine besondere Gabe, oder wie man das auch immer nennen will. Immer wenn ihm jemand krumm kam, oder ihn auf die Nerven ging, schwoll sein linker Fuß elefantendick an, sodass er denjenigen einfach in den Boden stampfte. Das missfiel Gandhi natürlich, wie ihr euch denken könnt, maßlos. Das Verrückte daran ist nur, dass der Bruder Gandhi und seiner Truppe, auf diese Weise, des öfteren aus der Patsche geholfen hat. Ich sag´ euch, so war das. Jetzt wisst ihr, wie sich das wirklich zugetragen hat.“
„Und weiter? Wie man weiß wurde Gandhi erschossen. Wo war denn sein Bruder, mit seinem Fuß zu dieser Zeit?“
„Jungs, entschuldigt mich, aber ich muss erst mal schiffen.“
Das ist natürlich glatt gelogen, ich spüre nicht den geringsten Druck in meiner Blase. Ich brauche nur etwas Verschnaufpause.
„Bis jetzt läuft´s doch ganz gut“, platzt es aus Daniel heraus.
„Ja, aber wie bekomme ich den Karren aus dem Dreck wieder raus? Wahrheiten brechen auch nicht so einfach ab. Das muss schon ´ne Runde Sache sein. Die Nummer mit der Hintertür kann ich nicht bringen, sonst ist es der letzte Besuch in dem Laden. Ich will mir das schließlich nicht verscherzen.“
„Dir könnte plötzlich schlecht werden und alles auf dein Mittagessen schieben. Du könntest dich winden und wenden und furchtbar auf melodramatisch machen. Dann schleppst du dich raus und du bist weg.“
„Kompletter Unfug. Das ist zu sehr aus der Luft gegriffen. Aber lass mich mal machen. Ich hab´ da schon ´ne Idee.“
Ich kehre zurück auf meinen Barhocker und die beiden Tölpel sitzen da immer noch, wie erwartet.
„Also Jungs, das Ding mit dem Erschießen war so: Wie ihr wisst war es Anfang 1948, der zweite Weltkrieg war seit ein paar Jahren vorbei und die Briten ließen Indien ebenfalls in Ruhe. Das Verhältnis zwischen Gandhi und seinem jüngeren Bruder hatte sich wieder einigermaßen zurechtgebogen. Allerdings war es immer noch recht frostig und nur vom allernötigsten Wortwechsel geprägt. Der einzige Ort, wo sie sich beide verstanden, oder besser gesagt, wo sie sich nicht stritten, waren die Gebetstreffen. Beide wussten von einander, dass sie sich hier regelmäßig treffen würden.
Wie das Unglück so spielt, konnte Gandhis Bruder am 30. Januar unmöglich dem Gebetstreffen beiwohnen, da er die letzte Nacht tierisch gesoffen hatte und den ganzen Tag mehr oder weniger mit höllischen Kopfschmerzen im Bett verbrachte.
Als er erfuhr, dass sein Bruder beim Gebet erschossen wurde, machte er sich große Vorwürfe, weil er der Meinung war, er hätte diese Tat mit seinem Elefantenfuß verhindern können. Die Pistolenkugel wäre einfach an seiner dicken Hornhaut an seiner Sohle abgeprallt. Anschließend hätte er den Typen dem Erdboden gleich gemacht.“
„Worauf sich Gandhi mit seinem Bruder bestimmt wieder in die Haare gekriegt hätten“, wirft der eine Typ neben mir ein.
„Ja, das kann man eben nicht wissen. Tatsache ist nur, dass der Bruder nach Gandhis Tod in schreckliche Depressionen verfallen ist und nur noch ein halbes Jahr lebte.
So jetzt wisst ihr´s. Ihr dürft nur nicht mit der Story hausieren gehen, denn der richterliche Beschluss hat immer noch seine Gültigkeit.“
Ich verabschiede mich, gehe auf ehrliche Art schiffen und lass die beiden mit ihrer neuen Erkenntnis allein.
„He he, jetzt ist es doch rund. Ich mein das mit der Wahrheit“, poltert es aus Daniel heraus. „Und die Hornochsen erzählen das jetzt überall rum.“
„Ja hast recht, die Wahrheit ist, ich log bis sich die Balken bogen. In diesem Fall braucht man ein kaltes Herz und warme Unterhosen. So zieht man seinen Kopf aus der Schlinge und alles andere, was da sonst noch dranhängt.“