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Ganz schön weit außerhalb
Marek schwitzt. Sein Gesicht glänzt vor Nässe und wenn er sich nach vorne beugt, fallen dicke Tropfen von seiner Nasenspitze. Unter der niedrigen Decke des Großraumbüros staut sich im Sommer immer die Hitze. Die Luft ist stickig, verbraucht von knapp drei Dutzend Lungen. Nicht zum ersten Mal verflucht Marek, dass es verboten ist, die Fenster zu öffnen. Das würde die Klimaanlage durcheinander bringen würde. Warum das Scheißding trotz geschlossener Fenster nicht funktioniert, weiß keiner.
Es ist der Zehnte des Monats und Marek hat das Geld für seine Miete immer noch nicht zusammen. Deshalb schiebt er Doppelschichten. Das Koffein jagt durch seinen Kreislauf, seine Augen zucken hinter den geschlossenen Lidern hin und her. Es gibt für Marek keinen Grund, die Augen offen zu halten: Bildschirm, Tastatur, die grauen Wände, das kennt er alles schon seit Jahren. Die ständig wechselnden Gesichter der Kollegen interessieren ihn nicht. Er versucht, sich zu konzentrieren und den bahnhofshallenähnlichen Geräuschpegel, der über die schalldämmenden Trennwände kriecht, zu ignorieren. Konzentration ist vielleicht das Wichtigste bei diesem Job. Man muss lernen, einen Menschen nur anhand weniger Worte einzuordnen: Käufer oder Nichtkäufer.
Ein Piepen ertönt aus dem Headset. Der Dialer, ein automatischer Anrufcomputer, hat einen freien Teilnehmer erreicht. Routiniert spult Marek seinen Begrüßungstext ab. Er hat schon fast alles am Telefon verkauft: Zeitschriftenabos, Lotterielose, Greenpeacemitgliedschaften, Autolackpolituren, sogar Patenschaften für Kinder aus der dritten Welt. Irgendwann ist er dann hier hängen geblieben. Versicherungen und Finanzdienstleistungen, die Königsdisziplin des Telefonmarketings.
Marek legt auf. Die meisten Gespräche entscheiden sich innerhalb der ersten zehn Sekunden.
Sie arbeiten in Zweierteams: einer am Telefon, einer im Außendienst. Der eine macht die Termine und leistet die Vorarbeit, der andere macht das Ding fest und besorgt die Unterschrift. Die Provision wird geteilt.
Marek hat seit drei Wochen einen neuen Partner. In dieser Zeit hat sich seine Provision fast halbiert. Marek hasst diesen Idioten, der zu dumm ist, einem Eskimo ein Heizkissen zu verkaufen. Leider ist dieser Idiot der Neffe vom Chef.
Die nächste freie Leitung wird durchgestellt.
"Einen wunderschönen guten Tag, mein Name ist Martin Schmidt von der Firma Goodlife-Versicherungen. Spreche ich schon mit", während eines Blinzelns liest er den Namen vom Monitor ab, "Frau Gundula Radebrecher?"
"Gundula Radebrecher, ja, das ist richtig."
Die Stimme ist alt, sehr alt. Vielleicht auch etwas scheu, aber nicht abweisend.
"Frau Radebrecher, dürfte ich Ihnen eine Frage stellen? Wie viel bezahlen Sie für Ihre Hausratsversicherung?"
"Für meine Hausratsversicherung?"
Sie spricht das Wort aus wie den Namen eines indischen Vorspeisentellers.
"Sehen Sie, Frau Radebrecher, wir von der Goodlife-Versicherung haben es uns nämlich zur Aufgabe gemacht, Ihr gesamtes Versicherungspaket zu optimieren. Wir garantieren Ihnen eine monatliche Entlastung von mindestens zwanzig Prozent. Na, ist das nichts? Die Renten werden jedes Jahr weniger und der Teuro tut sein Übriges." Er schickt ein kurzes Lachen in die Leitung. "Da kann man doch jeden Cent gebrauchen."
"Ja, die Rente wird immer weniger. Und seit der Günther diesen... Seit der Günther nicht mehr im Kraftwerk arbeiten kann, müssen wir beide mit dem Geld über die Runden kommen."
Marek lächelt. Das Thema Rente ist bei alten Leuten immer ein Fuß in der Tür.
"Der Günther ist Ihr Sohn?"
"Ja, mein Sohn."
"Ich kann mir gut vorstellen, dass das nicht immer ganz einfach für Sie ist, Frau Radebrecher." Er kann ihr Nicken förmlich hören. "Gerade deshalb ist es ja auch so wichtig, nicht zu viel für seine Versicherungen zu bezahlen. Warum sollen wir kleinen Leute denn immer draufzahlen, während die da oben sich den Hals voll stopfen?"
"Und der Günther ist auch immer so hungrig."
"Mit dem Geld, dass Sie durch unsere Beratung sparen, können Sie dann ja mal richtig schick mit ihm Essen gehen."
Ein nasses Schnaufen dröhnt durch die Leitung. Wie von einem Pferd, aber irgendwie anders.
"Frau Radebrecher, was war das denn? Haben Sie Pferde?" Jetzt muss er wirklich lachen.
"Ich, nein... Junger Mann, ich danke Ihnen für Ihren Anruf, aber ich glaube, ich muss jetzt auflegen." Irgendetwas hat sie abgelenkt. Die Tür schließt sich.
"Aber Frau Radebrecher, warten Sie, ich habe Ihnen doch noch gar nicht..."
"Ich kaufe auch prinzipiell nichts am Telefon."
"Das sollen Sie doch auch gar nicht. Natürlich werden Sie von einem unserer Außendienstmitarbeiter bei Ihnen zu Hause umfassend beraten."
"Bei mir zu Hause?" Die Tür geht wieder einen Spalt auf. "Wann könnte Ihr Kollege denn herkommen? Diese Woche noch?"
"Natürlich. Wenn es Ihnen passt, kann er schon morgen Mittag zu Ihnen kommen." Marek ist wieder auf Kurs.
"Morgen Mittag, das wäre gut. Ja, sehr gut. Aber er kommt doch allein, oder?" Sie lacht aufgeregt. "Wissen Sie, ich habe nicht so gerne so viele Leute bei mir zu Hause."
"Nein, natürlich kommt er allein. Dann trage ich den Termin für morgen vierzehn Uhr ein. Oder passt es Ihnen zu einer anderen Uhrzeit besser?"
"Nein, nein, morgen ist gut. Aber er kommt auch wirklich?"
"Ja, natürlich. Gut, Frau Radebrecher, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und vergessen Sie nicht, morgen vierzehn Uhr."
"Ja, danke, vielen Dank. Sie haben mir wirklich geholfen. Danke, junger Mann."
Sie legt auf. Was für eine verrückte Alte. Aber meistens haben die den dicksten Sparstrumpf.
Marek will gerade die Verbindung trennen, als er die tapsenden Schritte hört. Und das unruhige, nasse Schnaufen. Die Alte hat vergessen, aufzulegen. Wieder ein Schnaufen, dieses Mal lauter, aufgeregter. Das ist doch kein Pferd. Die Alte redet. Ihre Worte sind unverständlich, doch ihr Tonfall wirkt beruhigend, als würde sie jemanden gut zureden. Als Antwort ein Grunzen, dann wieder die Stimme der Alten. Günther, das Wort kann Marek verstehen. Ein Schrei, schmerzverzehrt und flehend. Morgen Günther, morgen. Dann nur noch dieses unmenschliche Schreien.
Marek legt auf. Für einen Augenblick glaubt er, sich übergeben zu müssen. Mühsam schluckt er den dicken Kloß hinunter. Ein Wort hat Marek ganz genau verstanden. Das Wort, das Günther geschrien hat. Fleisch.
Marek öffnet die Augen und liest die Adresse auf dem Monitor. Ganz schön weit außerhalb. Er grinst, seine Lippen zittern hektisch. Vielleicht werden die Provisionen doch bald wieder besser, denkt er, als er auf "Termin bestätigen" klickt.